Der Denker
Er starrte auf ein Sandkorn, hob seinen Blick zum bewölkten Horizont, versuchte an nichts zu denken. Der kalte Wind spielte unablässig mit seinen Haaren und er knüpfte seinen schwarzen Mantel enger zu. War das das Leben das er sich erhofft hatte? Er war noch keine fünfundzwanzig aber Zweifel beschlichen ihn: Konnte es sein, dass er sein Potential nicht ausschöpfte, einen falschen Lebensweg beschritt? Mit seiner rechten Hand strich er über den nasskalten Sand, fühlte jedes einzelne Sandkorn in seiner Hand gerinnen und musste lächeln: Die Philosophie war nichts für ihn. Jetzt, da er gerade seine Magisterarbeit schrieb, war ihm das mehr als klar. Sein Horizont des Lebens lichtete sich, er hatte ungetrübte, klare Sicht auf sein Leben und trotzdem wusste er nicht, was er wollte. War Wille nicht der entscheidende Faktor im menschlichen Denken und Fühlen? War es nicht undenkbar, mal gar nichts zu wollen, sich in seinem ganzen Wesen dem Augenblick zu überlassen und ein Teil von einer widerstandslosen Strömung zu werden? War es vertretbar das Willenlose zu wollen? Hier hätte man einen Paradox, den man zu lösen...Er dachte den Gedanken nicht weiter. Er hatte keine Lust sich wieder gehen zu lassen. Die Philosophie war ganz bestimmt nichts für ihn. Aber was sollte er denn sonst machen? Das logische, aufeinander aufbauende, aus Konflikt und Gegensatz hervorbrechende Denken war doch seine Spezialität, eine hart erlernte Diszpiplin des menschlichen Geistes, vielleicht die höchste Eigenschaft die der Mensch lernen muss auszubauen und nie verlernen darf. Und er wollte sie beiseite legen und sich gehen lassen. Er sollte das Leben der Masse führen, sich nicht immer von jedem und jedem Denken differenzieren, mehr ein Teil des organischen, gleitenden Körpers werden, hinabtauchen in das Meer der Menschen und nicht auf seine Andersartigkeit bestehen. Vielleicht sollte er mehr an Gemeinschaftserlebnissen teilnehmen? Aber würde er denn den Weg zurück wieder finden? War sein Weg zum Licht nicht immer schon ein Weg ohne Wiederkehr, einem von Menschen unabhängigen Fließband vergleichbar, wo, hatte man sich auf ihn begeben, den unverzeihlich mitreißenden Geschmack der Erkenntnis gespürt, man weder zu den Seiten hin ausweichen, noch den Rücktritt antreten konnte. Es war stärker als man selbst, zog einen mit sich. Alles, was man dafür machen musste, war den Vertrag zu unterschreiben, sich für etwas zu entscheiden. Aber wofür entschied man sich denn in Wirklichkeit? Ein Leben in gewollter Einsamkeit, wo fast kein Mensch, kein Ding einem das geben konnte, was man brauchte. Aber was brauchte denn jener? Erkenntnis, Glück, Freude, Vertrauen, Zuneigung? Oder war es einfach nur die Einsamkeit. Die Ruhe und die Abwesenheit von Sorgen um seine Umwelt, eins mit sich, weil sich selber überlassen? Keine Möglichkeit Unglück oder Glück zu empfinden. War das Ideal, ein anzustrebender Zustand? Er blickte von der dunklen Versunkenheit seiner Gedanken zum Horizont. Die Wolken waren immer noch da, die leichte Bewegung des Meeres ging am Horizont fast gleichförmig in die starren Wolken über. Wäre er auf dem Kopf, er könnte nicht Himmel und Meer unterscheiden.
Da brachen die Sonnenstrahlen durch die Wolken. Zwar zeigte sich die Sonne nicht, aber die sichbaren Boten des Lichts durchbrachen um so deutlicher die graue Landschaft und berührten an vereinzelten Punkten das leicht wogende Meer. Tausend kleine, glitzernde Sonnen antworteten ihnen und brachten in die graue Eintönigkeit Licht und Schatten. Er hatte mit finster zusammengezogenen Brauen vor sich hin gestarrt, doch da spürte er die Veränderung in der Luft. Der Wind schlug ihm weder hart ins Gesicht, noch streichelte er weich seine geröteten Wangen, der Wind wehte einfach nur. In die schattenlose, öde Natur kam Licht und verlieh ihr das, was von den Menschen unschuldiger Weise Schönheit genannt wird. Aber was machte das für einen Unterschied? War es davor nicht genauso schön gewesen mitten im Grau? War nicht alles gleich?
Von seinen Gedanken in Anspruch genommen, starrte er wieder vor sich hin.