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Der Dialog mit den Todsünden
Charles war gut. Viele seiner Kunden und Auftraggeber hielten ihn sogar für ein Genie. Seine Erfindung setzte Maßstäbe im Maschinenbau. Damit verdiente Charles mit seiner Firma in Paris ein Vermögen. Und er war stolz auf seine Leistung. Aber dieser Stolz machte ihn blind. Er nahm nicht mehr wahr, dass der technologische Fortschritt fort schritt. Fort. An ihm vorbei. Über ihn hinweg. Für ihn war seine Erfindung immer noch so etwas wie das Ei des Kolumbus. Die Realität sah anders aus. Er stieg auf der gesellschaftlichen Stufenleiter weit nach oben. Entsprechend tief fiel er danach. Die eigene Firma ging pleite und der Job weg; eine neue berufliche Laufbahn nicht auszumachen am Horizont. Er war zu alt für den Arbeitsmarkt.
Einzig die Forderungen seiner Gläubiger blieben. Ein guter Rechtsanwalt, fast schon ein Freund, schaffte es, wenigstens einen kleinen Teil von Charles Vermögen vor dem Zugriff der Geier in Sicherheit zu bringen. Das war seine letzte Tat für Charles, danach schlich er sich aus dessen Leben. Bei einem Versager gab es nichts mehr zu verdienen.
Verantwortung für eine Familie musste Charles nicht übernehmen, denn er hatte keine. Seine berufliche Leidenschaft ließ ihm damals keine Zeit dafür, eine zu gründen. Und sich selbst gegenüber war er gleichgültig. Er nahm, was noch da war und kümmerte sich wenig um den nächsten Tag.
Im Sog der Vergnügungen, die Paris einem älteren Herren bot, schmolz das Restvermögen wie Wachs unter der Sonne. Es floss erst in die Geldbeutel von hübschen und diskreten Damen, danach schob er die letzten Geldscheine in den Ausschnitt schlecht geschminkter älteren Frauen im Montmartre.
Erst genoss er Absinth, dann wurde er für ihn unverzichtbare Medizin. Und, wie jede Medizin, griff der Alkohol mit der Zeit Geist und Gesundheit an.
Die ersten Monate, nachdem das Bankkonto geplündert war, federte das soziale Netz ab. Doch nachdem er auch durch dessen Maschen rutschte, war der Aufprall hart und unbarmherzig.
Charles stand vor dem Nichts.
Fast vor dem Nichts. Denn es blieben ihm noch der Sinn für das Schöne und seine Erfindergabe. Einzeln eingesetzt brachten ihm diese Begabungen nichts; sie waren am Markt nicht gefragt. Aber die Kombination dieser beiden Fähigkeiten hätte ihn retten können.
Hätte.
Damals, als er noch oben war, führte ihn sein Sinn für Schönes und Edles in die wunderbaren Museen und Kunsttempel seiner Stadt. Mindestens einmal im Monat besuchte er den Louvre. Das Lächeln der Mona Lisa reizte ihn. Das Geheimnis hinter diesem Lächeln forderte ihn heraus und er wollte es unbedingt enträtseln. Aber Lächeln und Geheimnis blieben unentschlüsselt. Mit dem allerletzten Geld kaufte er sich eine Eintrittskarte. Er wollte ihm nochmals begegnen, dem Lächeln. Charles war der erste am Morgen, der vor die Schranke trat, die das wertvolle Bild von den Besuchern trennte. Und Mona Lisa lächelte in diesem Moment nur für ihn. Ihr Blick nahm ihn gefangen, zog ihn zu sich heran. Charles beugte sich weit über die Absperrung, um diesen Lippen nahe zu sein. So nahe, dass er hören und verstehen konnte, was sie ihm zuraunten:
„Nimm dein Leben in die Hand. Zeige den Menschen etwas Ungewöhnliches, fessle sie mit dem Besonderen und es wird dir gut gehen.“
Charles fühlte sich wie benommen, als er ins helle Sonnenlicht der Rue de Rivoli hinaus trat. Sie hat mit mir gesprochen, sagte er immer wieder vor sich hin und konnte seinen eigenen Worten kaum Glauben schenken.
Sie hat mit mir gesprochen und mir den Weg gewiesen. Wie ein Orakel sagte sie mir meine Zukunft voraus.
Es wird dir gut gehen. Dieser Satz wirkte auf Charles wie eine Adrenalinspritze. Sein Erfindergeist, längst verschüttet unter einem Berg negativer Gedanken, begann sich wieder zu regen. Der Mensch Charles kehrte ins aktive Leben zurück.
Was ist das „Ungewöhnliche“, das die Menschen fasziniert? fragte sich Charles. Er fand die Antwort erst auf dem Grunde des dritten Glases Absinth. Aber dann flammte der Geist des Unternehmers wieder in ihm auf. Wenn Charles von etwas überzeugt war, konnte er auch andere davon überzeugen. Das funktionierte früher. Und jetzt half es ihm, Investoren für sein Projekt zu finden.
Dass Paris eine Weltstadt ist, erkennt man schon an den Mietpreisen, die dort für ein geeignetes Lokal zu bezahlen sind. Horrende Summen. Doch Charles schreckte nicht davor zurück. Er wusste, dass das Geld für sein Projekt gut angelegt sein würde.
Er fand ein großes Kellerlokal am Rande des Quartier Latin. Nahe genug, um von Passanten bemerkt zu werden, aber weit genug entfernt vom Trubel der Touristenströme. Es war eine Oase der Ruhe. Genau so, wie sich das Charles vorgestellt hatte. Das Ungewöhnliche brauchte Ruhe und Gelassenheit.
Charles wollte die Menschen mit dem konfrontieren, was in ihnen schlummert, das sie aber stets peinlich vor anderen zu verstecken versuchen. Er hatte vor, eine Mischung aus Ausstellung, Museum und Beichtstuhl zu schaffen. Menschen, die sein neues Lokal besuchen, sollten in den Dialog mit den sieben Todsünden treten. Ihre Träume, Ängste und Erfahrungen mussten lebendig werden, ihnen einen tiefen Blick gestatten hinter ihre eigene Fassade, in die Bereiche, die sonst im Dunkeln liegen. In der Zeit, als Charles ganz unten war, lernte er diese verborgenen Seiten seiner Mitmenschen kennen. Und seine eigenen dazu. Und er spürte wie dick und zäh die Fassade ist, die jeder zum eigenen Schutz vor sich her schiebt. Dick, zäh, unecht und unehrlich. Jeder hatte etwas zu verbergen.
Entsprechend gestaltete er die Räumlichkeiten aus: enge Passagen, niedrige Decken, dunkle Farben. Dazwischen Spiegel, die den Besucher auf sich selbst zurückwarfen. Eine spezielle Geräuschdämmung sorgte für Grabesstille und dafür, dass die Gäste ihre Empfindungen noch intensiver fühlten. Extreme Vergrößerungen von Gemälden Pieter Bruegels dem Älteren zu den Themen „Hochmut“, „Neid“, „Wollust“ und „Geiz“ wirkten mit ihren krassen, spätmittelalterlichen Darstellungen der menschlichen Todsünden wie riesige Magnete, die die Besucher anzogen. Sie öffneten die Herzen und ermutigten in die eigenen Tiefen hinabzusteigen.
Charles schuf einen Irrgarten der Todsünden. Wie im richtigen Leben verloren sich die Menschen darin. Die unmittelbare Begegnung mit ihrem Ich zeigte den Menschen die eigene Position – was ist, was war – und was hätte sein können.
Anfangs lösten nur einige Neugierige Eintrittskarten an der Kasse. Doch täglich wurden es mehr. Hauptsächlich ältere Besucher, reihten sich in die Schlange vor dem Schalter ein.
Die nachdenklichen Gesichter der Menschen, die durch den Ausgang gingen und wieder das Tageslicht spürten, bewiesen Charles, dass ihnen etwas wertvolles mitgegeben hatte, etwas, das sie bewegte. Vielleicht sogar etwas, das sie in ihrem Leben weiterbrachte. Keiner der Besucher sprach mit ihm darüber. Aber ihre Mienen sprachen Bände.
Charles war glücklich. Und er fand seinen früheren Stolz wieder. Stolz auf sich und auf seine Leistung, die jetzt nicht mehr nur aus "Technik" bestand, sondern die für Menschen nützlich war.
Bis zu dem Tag, als ein Herr im dunklen Anzug vor dem Kassenschalter erschien.
Er machte sich nicht die Mühe, sich vorzustellen, sondern schob wortlos eine Visitenkarte durch die kleine Öffnung. An den Namen des Besuchers konnte sich Charles später nicht mehr erinnern, wohl aber an die Zeile, die direkt unter dem Namen gedruckt war: „juristischer Vertreter des katholischen Kirche“.
Ohne auf das Fragezeichen in Charles Augen zu antworten, schob der Mann in Schwarz ein Blatt Papier unter der Scheibe durch: eine in verklausulierter Anwaltssprache abgefasste Erklärung. Vereinfacht sagte sie aus, dass die Todsünden eine Erfindung der katholischen Kirche seien und damit die Nutzungsrechte beim Vatikan lägen. Charles sollte sein florierendes Unternehmen dicht machen und der Kirche keine Schwierigkeiten bereiten, meinte der Jurist. Danach verschwand er grußlos.
Aufgeben? Nicht im Traum, sagte sich Charles. Nicht noch einmal ganz unten anfangen.
Leider konnte er sich keinen teuren Anwalt leisten.
Er haderte mit Mona Lisa, als er sie das nächste Mal besuchte. Doch es nützte nichts. Die Kirche war stärker.
Und Charles wieder ganz unten.