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Der dritte Mann
"Immentalstr. 17. Das ist da vorne", sagte Willinski.
Dreier nickte. Er manövrierte den BMW in eine Parklücke. Willinski knöpfte die Lederjacke auf, griff zum Schulterhalfter. Dreier schüttelte den Kopf und sagte: "Eine Befragung, Gerd, es ist nur eine Befragung."
"Wenn du meinst", antwortete sein Kollege, nahm die Hand wieder runter, stieg aus und folgte Dreier. Sie waren erst wenige Meter vom BMW entfernt, da blieb Willinski stehen und griff in seine Jackentasche. Er zog ein Handy aus der Jacke, entschuldigte sich bei Dreier und ging ran. Dreier ging weiter, schaute sich die Klingelleiste an dem Haus an.
"Dritter Stock", sagte er, als Willinski neben ihm auftauchte.
"Mein Vater", sagte Willinski. "Randaliert wieder in der Wohnung rum. Meine Mutter weiß nicht mehr, was sie noch tun kann."
"Hast du einen neuen Klingelton?", fragte Dreier.
"Vibrationsalarm. Sicher ist sicher", sagte Willinski und versuchte ein Grinsen. Es misslang. "Mein Alter spinnt. Am liebsten würde ich..."
"Fahr hin", sagte Dreier, "ich schaff das auch alleine."
"Bist du sicher?"
"Hau schon ab."
"Du bist ein echter Kumpel", sagte Willinski und lief zum Wagen.
Ein älterer Mann verließ das Haus. Dreier grüßte freundlich, hielt ihm die Tür auf und ging dann in den dritten Stock.
"Corinna Wetzel?"
Sie nickte.
"Kriminalpolizei, mein Name ist Dreier“, sagte Dreier und hielt ihr seine Hundemarke vor die Nase, „Darf ich eintreten?“
"Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?“
"Noch nicht, aber wenn Sie darauf bestehen...“
"Schon gut. Kommen Sie.“
Sie zog die Tür auf. Dreier folgte ihr in den Flur, in dem eine altersschwache Glühbirne einen vergeblichen Kampf gegen die Dunkelheit focht. In dem diffusen Licht konnte Dreier Kisten und Säcke erkennen, manche bis zur Decke hoch gestapelt. Auf dem Boden vor ihm lagen haufenweise Kleidungsstücke.
"Küche?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und schlug eine Schneise durch den Dschungel aus Hemden, Hosen, T-Shirts, Blusen und Socken, wobei sie die wie Riffe aufragenden Kisten gekonnt umkurvte. Mit einem beiläufigen Fußtritt kickte sie eine fast leere Tüte Orangensaft aus dem Weg.
In der Küche angekommen, nahm sie einen Stapel Zeitungen von einem Plastikstuhl und forderte Dreier mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Dreier blieb stehen und schaute sich in dem Chaos um. In der Spüle stapelte sich Geschirr, unter der Anrichte standen Bierkisten und aus dem Abfalleimer wuchs eine Pyramide aus Essensresten, Filtertüten und leeren Dosen. Die Kaffeemaschine sprotzelte vor sich hin und auf dem Küchentisch standen zwei Kaffeetassen. Fast so, als ob sie ihn erwartet hätte. Zwischen den Kaffeetassen lag ein Papierflieger.
"Auch einen Kaffee?“, fragte sie, nahm den Flieger vom Tisch und knüllte ihn zusammen.
Dreier lehnte ab. Er ging zum Fenster, schob die vergilbte Gardine mit spitzen Fingern zur Seite und schaute zu den nebelverhangenen Bergen hinüber.
"Wann haben Sie Jürgen das letzte Mal gesehen?“, fragte er und beobachtete, wie die Fensterscheibe von seinem Atem beschlug.
"Was soll er denn diesmal angestellt haben?“, fragte sie.
Dreier drehte sich um. Sie hatte sich gesetzt und fingerte eine Zigarette aus der Packung.
"Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“
"Kann mich nicht erinnern. Muss schon ein paar Tage her sein.“ Ihr Lächeln war so falsch wie ein Drei-Euro-Schein. Sie ratschte ein Streichholz an und zog den Rauch gierig in ihre Lungen.
"Banküberfall“, sagte Dreier.
"Jürgen?“ Sie lachte freudlos, verschluckte sich und fing an zu husten.
Dreier wartete.
"Wer hat ihnen denn das Märchen erzählt? Jürgen klaut Autos, macht auch mal ´n Bruch, aber er überfällt doch keine Bank.“ Sie drückte die halbgerauchte Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher aus, stand auf und holte sich Kaffee.
"Die Zweigstelle an der Dreisam wurde überfallen. Sie waren zu dritt. Jürgen war der Fahrer.“
"Wer sagt das?“ Sie hatte sich wieder gesetzt und fingerte die nächste Zigarette aus der Packung.
"Wir haben alles auf Video“, sagte Dreier.
"Video?“
"Die Jungs hatten Pech. In der Nähe der Bank wurde gerade eine Szene für ein Remake der Schwarzwaldklinik gedreht. Der Kameramann hat sofort reagiert.“
"Schwarzwaldklinik.“ Sie seufzte.
"Zwei der Täter konnten wir eindeutig identifizieren. Charly Hauser und Jürgen Wetzel. Jetzt fehlt uns nur noch die Identität des dritten Mannes.“
"Professor Brinkmann.“
"Bitte?“
"Nichts.“ Sie schaute zur Uhr. "Wenn sonst nichts mehr ist? Ich habe noch einen wichtigen Termin."
"Ob ich noch mal kurz ins Badezimmer dürfte?", sagte Dreier.
"Ohne Durchsuchungsbefehl? Tut mir leid, aber ich habe es wirklich eilig", antwortete sie.
Vor dem Haus schaute Dreier sich um. Der Wagen war weg, Willinski hatte ihn genommen. Hundert Meter die Straße rauf war eine Trinkhalle. Er ging hin und bestellte sich einen Kaffee und ein belegtes Brötchen.
"Käse oder Wurst?", fragte die ältere Frau hinter dem Tresen.
"Machen Sie mir zwei Brötchen, eins mit Käse, eins mit Wurst. Und den Kaffee schwarz, kein Zucker."
Er wollte gerade in das Wurstbrötchen beißen, da klingelte sein Handy. Es war Willinski.
"Wo bist du?", fragte Dreier.
"Unterwegs. Mein Vater hat sich wieder beruhigt. Egal. Was ist Stand der Dinge?"
"Das sage ich dir, wenn du hier bist." Dreier erklärte ihm, wo er war.
"Fünf Minuten", sagte Willinski, "bestell mir schon mal einen Kaffee."
Zehn Minuten später standen sie sich an einem Stehtisch gegenüber. Dreier hatte Willinski von der Befragung unterrichtet und wischte sich den letzten Krümel des Käsebrötchens von seinem Tweedjacket.
"Du glaubst also, die Alte weiß, wo Jürgen sich aufhält?"
Dreier ging zum Tresen und holte sich noch einen Kaffee.
"Ich bin mir sogar sicher, dass sich Jürgen in der Wohnung befindet", sagte er, nachdem er den Stehtisch wieder erreicht hatte.
"Und warum...", polterte Willinski los. Er griff nach einer unbenutzen Papierserviette und begann sie zu falten. Dreier schaute ihm zu, sagte nichts.
Schließlich knüllte Willinski die Serviette zusammen und sagte deutlich ruhiger: "Und warum hast du ihn nicht verhaftet?"
"Weil ich den dritten Mann schnappen will. Jürgen ist doch nur ein kleines Licht. Der Fahrer, mehr nicht. Hauser ist auch nicht viel besser. Ich will den Kopf der Bande. Vielleicht führt Jürgen uns zu ihm."
"Vielleicht", murmelte Willinski.
Danach schwiegen sie. Sie tranken Kaffee und beobachteten den Eingang des Hauses Nummer 17. Gerade, als Willinski vorschlug, von Kaffee auf Bier umzusteigen, klingelte Dreiers Handy. Er meldete sich, hörte zu und sagte schließlich "Wir kommen."
Willinski schaute ihn fragend an.
"Das war Staatsanwalt Reuter. Sie haben Charly Hauser gefunden", sagte Dreier.
"Und?"
"Tot. Erschossen. Wenn ich nur wüsste..." Dreier schaute zum Eingang des Hauses, dann zu Willinski.
"Ja?", fragte dieser.
"Wir sollen sofort zum Tatort, sagt Reuter, aber..."
"Aber du würdest am liebsten hier bleiben und darauf warten, dass Jürgen Wetzel endlich seinen Bau verlässt", vollendete Willinski den Satz.
Dreier sagte nichts, schaute auf sein Handy, dann die Immentalstraße hinunter, um schließlich wieder sein Handy anzustarren.
"Willst du nicht wissen, wo sie Hauser gefunden haben?", fragte er schließlich, immer noch auf das Handy starrend.
"Du wirst es mir sagen", antwortete Willinski.
Dreier hob den Blick und sah Willinski an. "Hinter den Bahngleisen. Zwischen Gundelfingen und Denzlingen. Ein Spaziergänger hat ihn gefunden."
"Und?"
"Deine Eltern wohnen in Gundelfingen."
"Was willst du damit sagen?", fragte Willinski mit leiser Stimme. Er ballte seine Fäuste und öffnete sie wieder. Ununterbrochen. Fasziniert beobachtete Dreier die Bewegungen.
"Vergiss es", sagte er schließlich. "Verrate mir lieber, wie wir zum Tatort fahren können, ohne Jürgen Wetzel aus den Augen zu verlieren."
"Von dem du noch nicht mal weißt, ob er sich tatsächlich in der Wohnung aufhält", sagte Willinski nach einer kurzen Pause. Seine suchenden Hände hatten inzwischen ein Ziel gefunden. Er zerfledderte eine weitere Papierserviette.
"Jürgen...", fing Dreier an.
"Ist gut", unterbrach Willinski schroff. "Du fährst alleine nach Gundelfingen. Ich kann sowieso nicht mit Reuter, wie du weißt. Ich passe hier auf, dass uns Jürgen nicht durch die Lappen geht."
Noch einmal schaute Dreier die Immentalstraße runter, dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben.
"So machen wir es", sagte er. "Gib mir die Autoschlüssel. Ich komme so schnell wie möglich zurück. Wenn Jürgen das Haus verlässt, folgst du ihm. Egal wie. Und du rufst mich an."
"Okay, Chef", sagte Willinski und salutierte.
Dreier ging zu dem BMW und fuhr los. Doch schon hinter der ersten Abbiegung bugsierte er den Wagen in eine Parklücke und stieg aus. Er lief den Weg zurück, schaute vorsichtig um die Häuserecke und sah gerade noch, wie Willinski im Eingang des Hauses Nummer Siebzehn verschwand. Dreier seufzte und machte sich auf den Weg. Er klingelte wahllos bei einigen Namen, bis der Türöffner summte. Dann stieg er in den dritten Stock hinauf. Vor Wetzels Tür blieb er stehen. Nichts zu hören. Er klingelte.
Nichts passierte. Er klingelte noch einmal. Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet und Corinna Wetzel schaute ihn fragend an.
"Ja?"
"Lassen Sie mich bitte rein", sagte Dreier, "ich weiß, dass Gerd da drinnen ist."
Sie öffnete die Tür und Dreier folgte ihr ein zweites Mal durch das Chaos in dem Flur. Sie erreichten die Küche. Willinski stand am Fenster und schaute hinaus. Vielleicht sieht er genau das Gleiche, was ich vor wenigen Stunden gesehen habe, dachte Dreier.
"Hätte ich mir denken können", sagte Willinski, ohne sich umzudrehen.
"Ich mir nicht", sagte Dreier.
"Und wie bist du drauf gekommen?", fragte Willinski.
"Du hast einen Flieger zuviel gefaltet", sagte Dreier.
Willinski seufzte.
Corinna Wetzel schaute von einem zum anderen und setzte sich an den Tisch.
"Ich habe dir doch gleich gesagt, dass das eine Schnapsidee ist", sagte sie und zündete sich eine Zigarette an.
"Halt die Klappe", sagte Willinski.
"Wieso musstest du Hauser erschießen?"
"Du warst zu dicht an Jürgen dran", antwortete Willinski müde. "Ich musste dich irgendwie von der Wohnung wegbekommen. Wer konnte denn auch ahnen, dass die gerade heute vor der Bank einen Film drehen. Sonst..."
"Warum?", fragte Dreier.
"Das willst du nicht wirklich wissen, oder?", antwortete Willinski, immer noch aus dem Fenster schauend.
"Stimmt, die Antwort habe ich wahrscheinlich schon hundert Mal gehört", sagte Dreier, "und inzwischen interessiert es mich tatsächlich nicht mehr. Wo ist Jürgen?"
"Hat sich im Schlafzimmer eingeschlossen, die Pfeife", sagte Corinna.
"Halt die Klappe", sagte Willinski noch einmal, drehte sich um und griff nach der Waffe im Schulterhalfter.
"Mach keinen Quatsch", sagte Dreier, der seine Waffe längst gezogen hatte.
"Flott, Flott", sagte Willinski. Seine Hand war immer noch in der Jacke. Dann zog er die Waffe. Der Schuss hallte laut durch die Küche. Corinna Wetzel schrie auf und ließ sich vom Stuhl fallen. Willinski brüllte, sackte zusammen und blieb mit blutender Schulter und knirschenden Zähnen auf dem Boden liegen. Dreier ging, seine Waffe weiterhin nach vorne gerichtet, auf Willinski zu, schob dessen Waffe mit dem Fuß zur Seite und griff nach dem Handy.
"Mörder", schrie Corinna Wetzel.
"Er wird's überleben", sagte Dreier und drückte die Kurzwahl für den Notarzt.