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Der Duft der Außergewöhnlichkeit
Der Duft der Außergewöhnlichkeit
von Theodor Flüssigfeuer
Eines Abends saß ich mit einem Freund in einer mexikanischen Bar nahe dem Josefstädter Theater. Wir hatten einen Tisch in einer recht unbeleuchteten Ecke gewählt, weit ab vom wühlenden Getümmel an der Theke, ein ruhiges Plätzchen für entspannte und offene Gespräche. Ich war an jenem Abend allerdings sehr schweigsam, irgendwie trieb ich an der Schwelle zum Überdruss dahin. Wohin ich auch kam, überall begegneten mir die gleichen Menschen, eingehüllt in verschiedene Kleidung, umsäumt mit anderer Hautfarbe, mal still oder auch aufbrausend, teils fest im Leben, teils weltverloren, jeder mit einer anderen Geschichte, und doch waren sie alle bis zur Widerlichkeit gesteigert gleich. Woher ich diese Überzeugung nahm, wusste ich nicht, nur loderte sie wie ein unlöschbares Feuer in meinen Gedanken und lähmte an jenem Abend meine Geselligkeit.
Es war aber nicht notwendig zu reden. Johannes, meine Begleitung, ereiferte sich stundenlang begeistert über die oberflächlichsten und nebensächlichsten Dinge. Er ekelte mich überaus an, und dieses Gefühl des Abscheus ließ sich auch mit hochprozentigem Schnaps nicht aus der Kehle spülen. So saß ich da, finster, nachdenklich und unzufrieden. Johannes nahm davon keine Notiz, zu sehr war er mit seiner überflüssigen Rede beschäftigt. Ich beobachtete ihn etwas. Er hatte erst vor kurzem das Rauchen aufgegeben, nach mehr als zehn Jahren, und die Folgen waren in Form nicht altersgerechter Furchen tief in seine Gesichtshaut eingegraben, seine eigentlich schönen und gerade gewachsenen Finger waren an den Kuppen mit eitergelben Flecken überzogen, seine entzündeten Augen blinzelten trostlos in den Höhlen, ja seine gesamte Erscheinung, die Jahre zuvor hübsch und jugendlich frisch geschimmert hatte, war in einen Abgrund vorzeitiger Alterung gerutscht. Und wie es jene Menschen nach jahrzehntelangem Rauchen so an sich haben, vergrub er in jedem Moment aufflackernder Unsicherheit seine Hände in den Taschen und suchte nach einem Feuerzeug und einer Packung, wohl deshalb, weil ihm diese Gewohnheit Halt und Selbstsicherheit gab, jedenfalls so lange, bis er sich seines Nichtrauchens bewusst wurde, ein immer wieder mitleiderregender Augenblick, in dem seine ganze Verzweiflung und Mutlosigkeit wie ein erbärmlicher Schatten über sein Gesicht huschte.
Gut nur, dass ich einen günstigen Platz hatte und den Raum vollständig überblicken konnte; so war ich nicht den ganzen Abend an Johannes’ beklagenswertem Antlitz gebunden. Unruhig suchten meine Augen nach etwas Neuem, etwas Anderem, was mir den Abend noch versüßen konnte. Ich fand aber nichts, zumindest nichts Außergewöhnliches. Mir geschieht es jedoch ziemlich häufig, dass solch hässliche Enttäuschungen mir sogleich eine eigenartige Genügsamkeit schaffen, und so hafteten sich mein Blick an einer eher gewöhnlichen Gestalt fest. Sie saß am Nebentisch. Ich starrte sie sehr lange, fast schon ungeschickt lange an. Fraglos war sie hübsch, sehr hübsch sogar, und je länger ich sie ansah, umso mehr verdichtete sich ihre Gestalt zu einer märchenhaften, beinahe paradiesischen Illusion, die von meiner bitteren Langeweile zu immer größeren und schöneren Höhen gepeitscht wurde. Ihre besondere Anmut war ein Trugbild meiner Qual, das wusste ich, und dennoch drang sie schnell in mein Herz vor. So verging die Zeit, und dank ihr fand ich eine Spur innerlicher Ruhe.
Noch heute zittern allerdings meine Hände, wenn ich daran denke, welch Erschütterung sie plötzlich in mir ausgelöste. Da stand sie nämlich auf, um die Toilette zu besuchen, und schon während sie sich erhob, fiel mir ein merkwürdiges Schwanken in ihrer Bewegung auf. Sie hatte durchaus Schwierigkeiten, zwischen Tischkante und Sitzreihe voranzukommen, und als sie sich endlich frei bewegen konnte, glich ihr Gang dem eines torkelnden Suffkopps. Ehrlich gesagt war das auch mein erster Gedanke, und schon wieder stieg Abscheu und Ekel in mir hoch, nur diesmal mit noch böserem Schwung als zuvor bei Johannes. Meine ernüchterten Augen wollten sich schon abwenden, da bemerkte ich die Einseitigkeit ihrer Bewegungsstörung. Tatsächlich zog sie ihr linkes Bein schwerfällig hinter sich her und versuchte mit jedem Schritt dieses in möglichst natürlicher Haltung wieder nach vorne zu holen. Im Ganzen war es ein unsicheres und mechanisch anmutendes Gestelze. Für diese Art von Bewegung gab es nur eine Erklärung: Sie hatte ein künstliches Bein.
Selbst Johannes hatte inzwischen mein Interesse für diese Frau erkannt. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. „Ein bildschönes Mädel.“, meinte er. „Gott, wenn sie nur nicht behindert wäre…wie traurig das ist. Ach, eine gute Frau wäre sie…aber so…zu schade, nein wirklich zu schade…“
Ich entgegnete darauf nichts. Ich hatte sie schon vergessen, hatte sie so energisch aus meinem Bewusstsein gedrängt, dass ich sie nur noch flüchtig gewahrte, als sie von der Toilette wiederkam. Sie war für mich ins Nichts abgeglitten, ohne dass ich wusste warum. Ich beachtete sie nicht mehr, und selbst Johannes’ unwichtige Worte gewannen wieder meine vorübergehend eingestellte Aufmerksamkeit.
Eine Stunde später überwältigte mich die Erschöpfung, ich fühlte mich leer und ausgesaugt und wollte gehen. Es war sehr schwierig, gegen Johannes’ unermüdlichen Redeschwall anzukämpfen, aber nachdem ich meine Stimme fast bis zu einem Brüllen angehoben hatte, konnte ich mich durchsetzen und ihn überzeugen, den Abend zu beenden.
Bevor wir gingen, wollte ich mich noch erleichtern und bat Johannes, einen Moment zu warten. Ich durchschritt den düsteren Gang zur Toilette, aber noch ehe ich in den Raum eintrat, entdeckte ich in einer finsteren Ecke des Gangs zwei funkelnde Augen. Sie durchdrangen mich wie ein glühender Blitz, ich blieb entgeistert stehen, wie paralysiert vom elektrischen Schlag. Wie war sie dahin gekommen? Wartete sie auf mich? Unversehens schlängelte sich ein uralter Trieb durch meine Adern, brachte mein Blut zum Brodeln und versetzte mich in die Unruhe eines Erwachten. Dort, in diesem finsteren Gang, in dieser finsteren Ecke waren wir allein, ohne die schreienden Augen der Welt, dort konnte ich das ergreifen, wonach ich so lange gesucht hatte. Ich zitterte, als mir das bewusst wurde. Schon zerrte sie liebvoll und einladend an meinem Arm, ich stolperte überwältigt auf sie zu, und ihre Lippen umfingen die meinen mit dem unvergesslichen Duft einer wilden Sommerrose. Jedes Glied meines Körpers weichte allmählich auf, und die milde Liebe ihrer Berührungen sog mich in eine blühende Geistesabwesenheit, der ich am liebsten nie wieder entkommen wäre. Ihr herrlicher Mund küsste mein Ohr und flüsterte: „Bleib bei mir!“
Ihre Worte ließen mich augenblicklich erstarren. Ich hasste mich sehr in diesem Moment, verabscheute und verfluchte mich und meine Tat. Bebend wich ich von ihr zurück, ich blickte in ihre dunklen Augen, aber ich sah nicht sie, ich sah mich, sah die dunkle Seite meiner Seele, sah meine Schwäche, das Außergewöhnliche nur im Schutze der Dunkelheit lieben zu können, und erschrak darüber so heftig, dass ich wortlos davoneilte und sie allein im Gang zurückließ. Schweißbedeckt stürmte ich an Johannes vorbei. „Lass mich in Ruhe!“, schrie ich ihn an. Er begriff das nicht. Es war auch besser so.
Ende