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Der dunkle Spiegel
Die Gimpelfalle
Als Jackey sich mit einem gut einstudierten Hüftschwung umwandte und ihr Blick auf den Mann fiel, der gerade das Zimmer betreten hatte, vergaß sie einen Moment lang ihre Rolle und hielt inne. "Was kann ich für dich tun, mein Süßer?", wäre eigentlich die erste Frage an ihren Kunden gewesen, doch stattdessen machte sie einen Schritt zurück und sagte kein Wort.
Der offene Blick in das Gesicht eines Menschen stellt stets eine Mutprobe dar, und Jackeys Freier bestanden diese Probe nur selten. Doch der Fremde, dem sie jetzt gegenüberstand, schaute sie nicht einfach nur an. Er musterte sie. Jackey kannte diese Art, jemanden anzuschauen. Es war kein unschuldiges Betrachten, kein Gucken oder Ansehen – es war eine Technik. Der Geruch eines Verhörzimmers lag plötzlich in der Luft – ein steriles, mit feuerfester Farbe gestrichenes Zimmer, das von Zeit zu Zeit in Jackeys Träumen auftauchte, auch wenn die Erinnerungen daran allmählich verblassten.
Der Fremde glitt wie ein Schatten an der Wand entlang.
"Mein Name ist Sundberg", stellte er sich vor. Er nahm den Hut ab, warf ihn aufs Bett und zog umständlich seinen Mantel aus. Während er ihn auf einem Bügel an die Wandgarderobe hängte, fasste sich Jackey und versuchte, wieder ins Spiel zu kommen.
"Ich bin Maria", sagte sie. "Wie lange möchtest du bleiben?"
Sundberg öffnete sein Sakko und setzte sich in einen Sessel, der dem Bett gegenüberstand. "Ich denke, wir werden nicht lange brauchen", sagte er und zog eine Brieftasche aus dem Innenfutter des Jacketts.
"Dreißig Minuten sind Minimum", erwiderte Jackey. "Das macht hundertfünfzig Euro."
Sundberg fischte zwei Scheine aus seiner Brieftasche und legte sie auf die Armlehne des Sessels. Jackey musste sich überwinden, doch dann machte sie ein paar Schritte durch den kleinen Raum und griff nach den Scheinen. Sie rechnete damit, dass Sundberg ihren Arm packen würde, doch nichts dergleichen geschah.
"Sorry, aber ich muss die checken", sagte Jackey, ging zurück zum anderen Ende des Zimmers und zog die Scheine durch einen kleinen Scanner, der auf dem Nachtisch stand.
Sundberg beobachtete die Prozedur mit einem unergründlichen Lächeln, und als der Scanner zum zweiten Mal ein grünes Lämpchen aufleuchten ließ, sagte er: "Dann wollen wir beginnen."
Jackey hatte das Geld in eine Schublade des Nachttisches gelegt. Jetzt öffnete sie mit klopfendem Herzen den Verschluss ihres Push-Up aus und warf den BH aufs Bett, wo er dekorativ neben Sundbergs Hut landete.
"Willst du es erst mit dem Mund?", fragte sie, doch Sundberg hob abwehrend die Hände. "Ich möchte nur reden."
Noch ehe Jackey etwas erwidern konnte, schleuderte er eine Frage in den Raum, die sie traf wie ein Peitschenhieb.
"Wie geht es Ihrer kleinen Tochter, Jackey?"
Sundberg rekelte sich behaglich im Sessel. Mit aneinandergelegten Fingerspitzen, die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt, sagte er: "Geboren 1988 in Brünn, beide Eltern für die Waffenfabrik Uherský Brod tätig. Vater deutscher Ingenieur, Mutter tschechische Fremdsprachenkorrespondentin."
Jackey hatte sich auf das Bett gesetzt und starrte Sundberg unverwandt an. Sie verstand nicht, was hier passierte, aber es bestand kein Zweifel daran, dass eine tot geglaubte Bestie, die jahrzehntelang ihre Familie gepeinigt hatte, erneut erwacht war.
"Nachdem Ihr Vater im Jahr achtundneunzig einen tödlichen Unfall hatte, übersiedelte Ihre Mutter mit Ihnen und Ihren zwei kleineren Geschwistern nach Prag", fuhr Sundberg fort. "Und dort – die Stadt fand gerade ihre Bestimmung als größtes Bordell des ehemaligen Ostblocks – durchlebten Sie Ihre Pubertät ohne die strenge Hand eines Vaters …"
"Was zum Teufel wollen Sie von mir?", fragte Jackey entgeistert.
"Ich will, dass Sie mir noch eine Minute lang zuhören, damit Sie verstehen, mit wem Sie es zu tun haben."
Jackey stand auf. "Ich habe keine Zeit für diese Scheiße! Sie kriegen Ihr Geld zurück. Hauen Sie ab!"
"Ich werde eine Inobhutnahme Ihrer Tochter veranlassen, Jackey", sagte Sundberg leise. "Wissen Sie, was das ist?"
Jackey sah ihn stumm an, ihre Lippen zitterten.
"Dabei handelt es sich um eine Zwangstrennung von Mutter und Kind, die vom Familiengericht angeordnet werden kann."
Jackey war zu verwirrt, um nach einer Begründung zu fragen, doch Sundberg lieferte sie frei Haus: "Ihre Tätigkeit als Prostituierte und gewisse kriminelle Aktivitäten lassen eine erhebliche seelische Gefährdung von Lisa befürchten."
Jackey schwieg betroffen. Das war die Stimme der Bestie. Jahrelang hatte sie ihrem Vater geflüstert, geschmeichelt, gedroht. Das war die Art, wie sie zu den Menschen sprach.
"Ihre Vita, Jackey, ist die Geschichte einer ganzen Generation tschechischer Mädchen, so kommt es mir zumindest vor. Nach ein paar Jahren exzessiven Partylebens inklusive chronischen Drogenkonsums und ebenso chronischen Geldmangels, kam die erste Nacht als Elite Private Companion. Und das war Ihr Einstieg in die Prostitution."
"Was wollen Sie von mir?", fragte Jackey noch einmal, doch jetzt wusste sie, dass sie tun würde, was auch immer man von ihr verlangte.
Jackey atmete tief ein, zog die Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns nach oben und betrat den schwach beleuchteten Salon.
"Ich bin sicher, wir werden auch dafür eine Lösung finden, Mr. Koljakov", sagte Sundberg eben auf Englisch zu einem jungen Mann, der aussah, als hätte er gerade die Schule verlassen. Die beiden saßen einander in schweren Clubsesseln gegenüber. Auf dem Tisch standen Gläser sowie eine geleerte und eine angebrochene Flasche Smirnoff-Wodka. Bläulicher Dunst lag in der Luft.
Sundberg warf Jackey einen Blick zu und winkte sie heran. "In der Zwischenzeit sollten Sie sich etwas entspannen", sagte er. "Selbstverständlich auf unsere Kosten." Als er sich erhob, glaubte Jackey ein leichtes Schwanken wahrzunehmen. Sie wusste, wie der Plan aussah: Koljakov ablenken, weichkochen, verführen, bis er sein Da! zu einem Deal gab, den Sundberg eingefädelt hatte.
Koljakovs wodka-umnebelter Blick war Sundbergs Geste gefolgt und ruhte nun auf Jackey. Einen Moment lang schien er nicht zu verstehen, doch dann entblößte ein Raubtierlächeln seine Zähne. Mühsam stemmte er sich aus dem Sessel und machte einen Schritt auf Jackey zu. Nachdem er sie eine Weile schweigend betrachtet hatte, sagte er zu Sundberg gewandt: "Sie soll sich ausziehen."
Sundberg nickte Jackey zu und sagte an Koljakov gerichtet: "Ich lasse Sie beide dann allein, wir können morgen alles Weitere besprechen." Doch Koljakov schüttelte den Kopf. "Nein. Lassen Sie uns gleich darüber sprechen. Die Strümpfe soll sie anbehalten", fügte er mit einem Blick auf Jackey hinzu, die ihren Push-Up auf den Boden geworfen hatte und nun den Tanga abstreifte.
Koljakov umkreiste Jackey wie ein Hai und sagte: "Fangen wir beim entscheidenden Punkt an. Wie viel bieten Sie mir?" Sundberg stand etwas unschlüssig im Raum, räusperte sich und antwortete schließlich: "Unser Angebot richtet sich natürlich nach der Qualität des Produkts, aber falls Ihre Lieferungen von Umfang und Gehalt dem Muster entsprechen, das Sie uns vorgelegt haben …"
Jackey beobachtete, wie Koljakov seine Manchettenknöpfe löste und sie in die Sakkotasche gleiten ließ.
"Ich schlage hunderttausend pro Paket vor", sagte Sundberg. Koljakov blieb vor Jackey stehen. Der erste Schlag kam wie aus dem Nichts. Jackey spürte einen grässlichen, dumpfen Schmerz in den Eingeweiden, und ihr blieb die Luft weg. Keuchend krümmte sie sich zusammen und ging auf die Knie.
"Ich biete Ihnen Material mit Informationen aus der obersten Führungsebene", sagte Koljakov. "Luftwaffe, Landstreitkräfte, Marine. Geplante Flottenbewegungen, detaillierte Fakten zum Zustand der U-Boot-Basen, Manöveranalysen."
Jackey rang nach Luft, aber etwas in ihr verkrampfte und blockierte die Atmung. Sundberg hatte einen Schritt auf Jackey zu gemacht, doch Koljakov hob die Hand. "Bitte setzten Sie sich wieder", sagte er. "Ich glaube, so kommen wir schneller zu einem Ergebnis."
Nachdem Sundberg schwerfällig in den Sessel gesunken war, fuhr Koljakov fort: "Dieses Material ist sehr viel mehr wert, und das wissen Sie."
Jackey hockte noch immer am Boden. Aus den Augenwinkeln sah sie Koljakov wie einen Tiger im Käfig auf und ab gehen. Seine Stimme bebte, als er Sundberg vorwarf, ihn austricksen zu wollen, doch es war nicht klar, ob die Verhandlungen der Grund seiner Erregung waren oder etwas anderes.
"Sie glauben vielleicht, einen dümmlichen Generalssohn vor sich zu haben, einen naiven Jungen, den man mit Wodka und einer Nutte von den Fakten ablenken kann."
"Also gut", sagte Sundberg. "Ich denke, Sie werden zweihunderttausend pro Lieferung als fair betrachten."
Obwohl Jackey jetzt mit dem Schlag gerechnet hatte, warf sie der Hieb der Länge nach zu Boden. In ihren Ohren sang ein hoher Pfeifton, und sie spürte, wie sich ihr Mund mit Blut füllte. Koljakov tobte.
"Fair?", brüllte er. "Sie finden ein Angebot, das weniger als ein Drittel des wahren Wertes darstellt, fair?" Er packte Jackey am Haar und schleifte sie wie seine Jagdbeute hinter sich her, quer durch den Salon. An einem der hohen Fenster angekommen, in denen die nächtliche Silhouette des Brandenburger Tors zu erkennen war, schlang er das Ende eines Vorhangs um Jackeys Hals.
"Ich werde Ihnen zeigen, was fair ist", schrie er.
Sundberg verfolgte das Ganze vom Sessel aus. In Jackeys Keuchen hinein sagte er: "Ich glaube eher, dass einige meiner Vorgesetzen zweihunderttausend als Overpay betrachten werden."
Koljakov ließ Jackey los, fuhr herum und starrte ihn wild an. "Overpay", wiederholte er und spuckte die zweite Silbe förmlich in den Raum. Mit zitternden Händen öffnete er die Schnalle seines Gürtels. Als die Hiebe auf Jackeys Rücken und Beine niedergingen, wusste sie, dass Koljakov sie totschlagen würde, falls niemand ihn hinderte.
Sundberg goss jedoch Öl ins Feuer. "Es sind auch Zweifel an der Authentizität der Informationen über diesen U-Boot-Prototypen zur Sprache gekommen."
Koljakov heulte auf. "Ihr verdammten Bürowichser!", stieß er hervor und glotzte stumpf auf Jackey hinab, die wimmernd über den Boden kroch und dabei eine dunkle Spur auf dem Parkett hinterließ.
Koljakov holte tief Luft, ging zum Tisch und ergriff die leere Wodkaflasche am Hals. Dann wandte er sich zu Jackey um, die beinahe die Tür des Salons erreicht hatte. Er machte ein paar Sätze durch den Raum und holte zum Schlag aus.
In diesem Augenblick traten zwei Männer herein. Während einer der beiden Koljakov packte und ihm den Arm auf den Rücken drehte, bis die Flasche klirrend auf den Boden fiel, ging der andere ohne vom Handgemenge Notiz zu nehmen zu Sundberg hinüber und stellte einen Laptop auf den Tisch.
"Bringen Sie ihn her", sagte Sundberg, und Koljakov wurde unsanft zum Tisch befördert. "Schauen Sie es sich an", forderte Sundberg Koljakov auf. "Wir haben es aus drei Kamerawinkeln. Die Schlagzeile wird lauten Russischer Diplomat prügelt Prosituierte halbtot." Aus dem Lautsprecher des Laptops tönten Jackeys Schreie. "Das wird eine recht unangenehme Heimreise, könnte ich mir vorstellen. Und der Empfang zu Hause, na, da möchte ich nicht mit Ihnen tauschen."
Koljakov sackte zusammen. "Eine Gimpelfalle - nennt man es bei Ihnen nicht so?"
"Nun ja", antwortete Sundberg. "Ihre sexuell-sadistischen Neigungen waren uns bekannt. Ebenso Ihr Mangel an Selbstbeherrschung und Ihre Schwäche für Wodka."
"Ist das Ihr Ernst, nach allem, was Sie mir angetan haben?" Jackey war fassungslos.
"Betrachten Sie es als eine Art Wiedergutmachung", sagte Sundberg. "Ich biete Ihnen eine echte Chance, Ihr Leben in den Griff zu bekommen."
Sie saßen auf einer Parkbank im Berliner Humboldthain. Vor ihnen lag eine weitgestreckte Rasenfläche in der Frühjahrssonne, doch bis auf ein paar Jungen, die Frisbee spielten, war niemand zu sehen. Sundberg zog einen Umschlag aus seiner Manteltasche und übergab ihn Jackey.
"Und diese fünftausend sind für Ihre Unannehmlichkeiten. Sie haben über alles striktes Stillschweigen zu bewahren. Falls Sie sich nicht daran halten …"
"Ich weiß schon", sagte Jackey. "Noch einmal zu Ihrem Angebot: Sie wollen mir einen Job geben, habe ich das richtig verstanden?"
"Mit allem, was dazu gehört", erwiderte Sundberg. "Neuer Name, Kranken- und Sozialversicherung, einen anständigen Happen aus dem Rentenfond, regelmäßiges Einkommen."
"Warum? Sagen Sie mir nicht, dem Geheimdienst gehen die Nutten aus."
"Oh, ich sehe weit mehr in Ihnen ..."
"Sie kennen die Geschichte meiner Familie", unterbrach ihn Jackey.
"Ich weiß, dass Ihnen die Agenten des Staatssicherheitsdienstes zu schaffen machten", sagte Sundberg.
Jackey setzte zu einer Erwiderung an, doch dann fand sie es zwecklos.
"Ihre Tochter, Jackey, hat eine finanziell abgesicherte Zukunft verdient. Etwas, das Sie ihr zur Zeit nicht bieten können. Und Sie besitzen genau die Fähigkeiten, die ich bei einem Anwärter suche."
"Anwärter?"
"Ich kann natürlich nichts versprechen. Wir müssten erst ein paar Tests machen."
Jackey schüttelte den Kopf.
Sundberg schwieg einen Moment lang. Dann sagte er: "Der dunkle Spiegel."
Jackey sah ihn fragend an.
"So bezeichnete mein Ausbilder den Geheimdienst gelegentlich", erklärte Sundberg. "Die bunten Farben fehlen, aber die Reflexion zeigt exakt, was die gesellschaftliche Realität ist."
"Soll das die Rechtfertigung für Ihre Methoden sein?"
Sundberg zuckte mit den Schultern. "Es soll erklären, weshalb unsere Methoden funktionieren. Sehen Sie es mal so: Diesen Methoden verdanken wir Ihre Mitarbeit und Koljakov …" Er verstummte. "Na, sagen wir, es wurde ein neuer Freund gewonnen."
Einen Moment lang sann er seinen Worten nach, dann erhob er sich abrupt. "Meine Karte ist im Umschlag", sagte er. "Rufen Sie mich an." Er setzte seine Sonnenbrille auf und ging grußlos davon.
Jackey schaute der dunklen Gestalt nach, bis sie in einen Seitenweg abbog und vom buschigen Grün einer Traubenkirsche verschluckt wurde.