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Der Eindringling
Eine Zeit lang im Frühling schlief Thomas schlecht. Er hatte sich wohl seinen Rhythmus ruiniert, jedenfalls wachte er jede Nacht zwischen zwei und vier Uhr früh auf. Einmal schreckte er mitten aus einem schlechten Traum hoch. Er brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden; dann stand er auf und holte sich Wasser aus der Küche nebenan. Als er in der Dunkelheit in sein Zimmer zurückkam, sah er unter dem Rollladen hindurch draußen ein Paar Beine.
Thomas wohnte in einem Reihenhaus in einem ruhigen Viertel der Vorstadt. Es war eine Art Wohngemeinschaft, aber er hatte nur einen Mitbewohner, der gleichzeitig sein Vermieter war, und auch der war fast nie da. Thomas' Zimmer lag im Erdgeschoss, mit einem großen Fenster hinaus auf das Gärtchen.
Am Abend hatte er den Rollladen nicht völlig geschlossen, damit Luft hereinkam. Nun ging er in die Hocke, um mehr sehen zu können. Links, wo die Weide am Zaun stand, sah er einen Schatten im grauen Nachtlicht. Dann vernahm er das leise quietschende Geräusch von Füßen, die durch feuchtes Gras gehen: Die massige Gestalt kam näher. Doch mitten im Garten blieb der Schemen plötzlich stehen. Er wandte den Kopf ab, als hätte er etwas gehört. Thomas konnte jetzt sehen, dass es ein Mann mit einer Reisetasche war, mit heller Hose und dunklem Pullover, kräftig, aber nicht dick. Kaum zehn Meter stand er von Thomas entfernt.
Thomas richtete sich auf und schlich durch den Türspalt hinaus. Mit seinen nackten Füßen patschend stieg er die kalten Steinstufen in den ersten Stock hinauf. Oben tastete er sich durch das Fotozimmer und näherte sich vorsichtig dem Fenster, dessen Rollladen wie immer offen war. Er sah in den Garten hinab. Das kleine Rasenstück zwischen der Weide und dem Wohnzimmer war leer. Thomas suchte den Garten mit den Augen ab, und schließlich sah er den Mann: Er stand am Wohnzimmerfenster und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein.
Thomas fühlte Ärger in sich aufsteigen. Ohne lang zu überlegen, öffnete er das Fenster und brüllte: "He, Sie – was tun Sie da unten? Verschwinden Sie sofort, oder ..."
Er beendete den Satz nicht, denn der Mann hatte sogleich seine Lampe ausgemacht und war über den Zaun verschwunden.
Schwer atmend stand Thomas am Fensterbrett und spürte, wie das Blut in seinem Brustkorb pulste. Er stützte sich mit beiden Armen schwer auf das Fensterbrett und sog die Nachtluft ein. Er atmete ein und aus, ein und wieder aus. Er merkte, wie sich seine Brust hob und senkte, sich hob und wieder senkte. Allmählich ging er zur Nasenatmung über und schließlich zur Bauchatmung. Dann sah er noch einmal hinunter in den Garten. Alles blieb ruhig. Und so legte sich Thomas auf die Gästematratze und schlief bald wieder ein.
Andreas, der WG-Genosse von Thomas, kam am nächsten Abend von einer Fotoreise zurück. Thomas zeigte ihm ein paar wichtig aussehende Briefe, erwähnte die bevorstehende Stromzählerablesung, doch von den Ereignissen der vergangenen Nacht sagte er nichts. Für den Preis eines WG-Zimmers bewohnte er fast immer das ganze Haus, und Andreas könnte leicht auf den Gedanken kommen, zu seiner Freundin zu ziehen, und das Haus im ganzen zu vermieten. Deshalb wollte Thomas mit Andreas nicht über Probleme sprechen. Sie tranken zusammen zwei Flaschen fast schwarzen Cabernet, fachsimpelten über neue Digitalkameras und gingen zu Bett.
Einige Tage vergingen, Andreas war längst wieder weg, und Thomas hatte den Vorfall fast vergessen, da wachte er eines Nachts abrupt aus einem schweren Traum auf. Er fuhr hoch und horchte, denn er hatte den Eindruck, von einem Geräusch aufgewacht zu sein. Der Laut wiederholte sich nicht, aber Thomas wurde klar, dass er vom Fenster her gekommen sein musste. Vorsichtig, bemüht, keine auffälligen Bewegungen zu machen, drehte er sich herum und sah unter dem Rollladen hindurch.
Der Mann war wieder da. Diesmal hockte er unter der Fichte gegenüber dem Fenster. Den Rücken dem Haus zugewandt, kramte er in der Tasche vor seinen Füßen. Er hatte dieselben Sachen an wie beim letzten Mal, nur dass er diesmal eine Kapuze übergezogen hatte. Thomas stand so leise wie möglich auf und schlich hinüber ins Wohnzimmer zum Telefon.
"Ein Mann ist in unserem Garten", sagte er, und bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu halten. Es war mitten in der Nacht, und er wollte nicht wie jemand klingen, der gerade aus einem Alptraum erwacht ist.
"Sind Sie sicher?", kam es vom anderen Ende der Leitung. "Können Sie den Mann beschreiben?"
"Ich würde sagen um die dreißig oder vielleicht auch vierzig, dunkler Pullover mit Kapuze, helle Hose, mittelgroß und kräftig", antwortete Thomas.
"Gut", sagte der Beamte. "Schließen Sie Türen und Fenster und lassen Sie die Rollladen herunter. Wir kommen so schnell wir können."
Thomas pirschte zum Fenster hinüber. Von hier war der Mann nicht zu sehen. Er zog den Rollladengurt heraus, so weit er konnte und ließ den schweren Laden in einem Rutsch herunterrasseln. Er lief hinüber in sein Zimmer und ließ auch hier den Laden herunterkrachen, dasselbe in der Küche. Das Geräusch musste sämtliche Nachbarn aufwecken, aber das war Thomas jetzt egal. Das Erdgeschoss war verrammelt.
Als die Polizei kam, war der Mann natürlich weg. "Schlafen Sie bei geschlossenen Rollladen", empfahl der eine von den beiden Beamten. "Vielleicht schicken wir mal eine Zivilstreife vorbei um nachzusehen."
Am nächsten Abend bestellte sich Thomas über das Internet eine Gummizug-Schleuder mit Stahlkugelmunition. Für alle Fälle legte er sie auf sein Nachtkästchen. Die Monate vergingen, und noch oft musste Thomas den Mann vertreiben. Die Schleuder gab Thomas Sicherheit. Er setzte sie aber nie gezielt gegen den Eindringling ein. Denn was, wenn er den Mann dabei getötet hätte?
Über seinen Abwehrversuchen wurde es Sommer, und die Hitze machte das Schlafen bei geschlossenem Rollladen zur Qual. Als seine Eltern ihn baten, für ein paar Wochen ihr Haus zu hüten, willigte er gerne ein. Dort würde er im ersten Stock bei geöffnetem Fenster schlafen. Es würde kühl und ruhig sein.
Jedoch auch dort im Haus seiner Eltern erwachte er gleich bei der ersten Übernachtung in den frühen Morgenstunden. Ihm war, als hätte ihn das Geräusch einer umfallenden Plastikgießkanne geweckt. Thomas stand seufzend auf und trat ans Fenster. Unten im Garten schien alles ruhig zu sein, nichts bewegte sich. Der schmale, zunehmende Mond stand über dem Wald auf der anderen Straßenseite und spiegelte sich in dem kleinen Teich, den Thomas selbst anlegen geholfen hatte, vor ein paar Jahren. Die Bäume am Rand des Gartens warfen einen schwachen Schatten auf den grauen Rasen. Er würde ihn jetzt endlich mähen müssen. Schon vor einer Woche war das Gras recht hoch gewesen. Wenn er noch lange wartete, käme er mit dem Handmäher nicht mehr durch. Mit diesem Vorsatz ging Thomas wieder zu Bett.
Am nächsten Nachmittag, es war ein Sonntag, mähte er den Rasen. Der Himmel war bedeckt, und die Luft hing schwül und schwer im Garten. Mücken umsurrten ihn, als er den Handmäher durch die Wiese schob. Immer wieder blockierte das Mähwerk im langen Gras, so dass er neu ansetzen musste. Die mühselige und stumpfsinnige Arbeit zermürbte Thomas, und eine düstere Stimmung überfiel ihn. Er musste an die Nachtgestalt denken, an seinen zähen Kampf gegen den unbekannten Eindringling.
In diesem Moment rief ihn jemand vom Eingang her.
"Hallo", tönte es von der Gartentür her. "Junger Herr! Entschuldigen Sie bitte, junger Herr."
Thomas ließ den Mäher stehen und näherte sich der Gartenpforte. Ein Mann um die vierzig stand dort, und Thomas war, als kenne er die Gestalt, diesen kräftigen, dabei aber nicht dicken Körper.
"Ach Sie", sagte er müde. "Sie schon wieder. Was wollen Sie nur von mir?"
"Sehen Sie, ich bin zur Zeit in Schwierigkeiten", fing der Mann an. Aus seinen schmalen Lippen drang der Geruch von Zigarettenrauch. "Ich bin aus dem Gefängnis entlassen worden und finde keine Arbeit. Hätten Sie einen Euro für mich, junger Herr, bitte?"
"Wenn Sie mich dann in Ruhe lassen", sagte Thomas.
Der Mann machte eine unbestimmte, seitliche Bewegung mit dem Kopf. Die Schleife sah anmutiger aus, als er es diesem früh gealterten Gesicht zugetraut hätte. Es sah nicht aus wie das Kopfschütteln über die unverständliche Äußerung eines Irren. Es war auch kein klares Nein. Möglicherweise bedeutete es: Ich will es mir überlegen. Oder: Das kommt darauf an. Lang starrte Thomas den Fremden an, aber der schwieg und blickte über die Schulter von Thomas hinweg. Ohne viel Hoffnung reichte ihm Thomas schließlich eine Münze aus seinem Portemonnaie.