Der Eindringling
Der Saal war noch vollkommen leer und die beklemmende Stille schmiegte sich ihm mit liebevollem Stechen ans Herz. Zwei Scheinwerfer waren eingeschaltet und die Schatten, die er warf erstreckten sich wie riesenhafte Wächter auf der hinteren Kulissenwand, Frederick stand geblendet und andächtig in der Mitte der Bühne, atmete in erregter Entspanntheit die Ruhe des Saals und erahnte die Konturen der Sitzreihen; der gesamten Atmosphäre haftete der Geruch des Heiligen an, die zwei Scheinwerfer waren wie zwei Lichter, die entzündet worden waren um allabendlich den Verrenkungen des Lebens zu gedenken. Sein Gesicht war in harten und markanten Zügen gezeichnet, die einerseits zwar seine Jugend etwas verwischten und ihn älter wirken ließen, die aber andererseits keineswegs von Bitternis sondern eher von einem asketischem Stolz zeugten, dieses Gesicht mit seinem angedeutetem Lächeln wirkte im grellen Scheinwerferlicht in diesem Moment so fern und entrückt, obgleich sich doch in ihm die große Nähe und das große Vertrauen, das er empfand, ausdrückte. Sein fast kahl geschorener Kopf, über den sich nur ein feiner, dunkler Haarflaum zog, schien Ausdruck seines Wunsches, sich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren, zu sein. Dieses Wesentliche, das er sich in harter Arbeit erkämpft hatte, dieses sture Handwerk des Schauspielers, der mit der Verbissenheit des Novemberwindes auszuharren hat, will er vorwärtskommen und wo die kleinen Triumphe mit festem und trockenem Brot belohnt werden, an die er sich klammert um den kargen Verhältnissen zu trotzen.; aber es waren seine kleinen Triumphe, die er gesammelt hatte, die tausenden Gesichter, die er angenommen hatte, deren Ausdruck er überspitzen musste, wollte er sie zum Leben erwecken, die ihm oft so erschreckend nahe kamen, dass er nicht mehr wusste, ob diese Masken nun sein Gesicht oder ob sein Gesicht eine Maske sei. Es überkam ihn ein Gefühl der Wärme, dachte er daran zurück, wie er sich all diese Gesichter erkämpft hatte und wie sehr sich diese Gesichter oft wehrten mit Kratzen und Schreien, weil sie nicht in seine Form gegossen werden wollten und wie er sie schließlich doch überwältigt und ihnen den Kuss abgezwungen hatte. Theater: für ihn war das immer dieses große und unberechenbare Gebäude des Wahnsinns, in dem die menschlichen Leidenschaften ihre Heimstatt gefunden hatten, in dem sie sich austobten und an ihre Grenzen stießen, wo deren Höhenflüge und irrlichternden Abstürze den Seelennerv bis zur Unerträglichkeit kitzelten ,wo sie ihn verlockten, ihn umgarnten um ihn schließlich zu verstoßen, sich ihm wieder um den Hals warfen um ihn im nächsten Moment wieder zuzudrücken. Dort wollte er immer sein, wo das Leben versucht sich selbst zu überlisten, indem es sich absichtlich überspielt um sich Fiktion nennen zu können. Nach der Vorstellung oder in der Pause hatte er sich immer am Anblick der Zuseher erfreut, die meist in kleinen Gruppen beisammenstanden, in aller Ruhe Wein oder Sekt tranken um ihre Panik zu überspielen, dass sie eben entlarvt und vor allen bloßgestellt worden waren.Und um sich zu beruhigen sprachen sie über „das Stück“, um nicht über ihr eigenes Leben sprechen zu müssen, waren erleichtert, dass nicht ihre Innereien es sind, die von grellem Licht durchleuchtet werden und das sie sich in der Dunkelheit als heimliche Voyeure fühlen durften ohne Angst haben zu müssen, entdeckt zu werden. Dort wollte er immer hin und dort war er nun auch angelangt, dort stand er nun, der Eindringling, der für seinen Einbruch in tausend fremde Leben auch noch belohnt wird. Heute abend also sollte sein erster größerer Aufritt sein, ein modernes Drama über einen Sklavenaufstand, er spielte darin einen der Aufständischen. Das Stück wurde in anderen Städten von der Kritik oft völlig verrissen, man warf ihm Utopismus vor. Das störte ihn nicht; er liebte das Stück; das Theater war für ihn immer ein utopischer Ort gewesen; das Theater hatte in der Welt keinen Platz und so trotze das Theater diesem widrigen Umstand und zog die Welt zu sich hinein und in seinen Bann, das Theater, der helle Raum der Möglichkeiten, hatte sich einfach entschlossen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen und die Welt der Utopie zu bezichtigen, weil sie ihre Möglichkeiten nicht wahrhaben will und sie sie sich erst lang und breit vom Theater darlegen lassen muss. Das Theater, so dachte er, überlistet das Schicksal. Dieses Stück verdeutlichte diesen gesegneten Umstand sehr schön und so begann er, sehr ruhig erst aber ohne des nötigen Nachdrucks zu entbehren, seinen Text zu rezitieren um sich schließlich immer mehr zu steigern und mit dem Donner seiner Bassstimme das Publikum seiner eingedunkelten Behaglichkeit zu entreißen. Er spielte die Szene, in der er, der Sklave, mit seiner bislang stummen Hinnahme bricht und die Fesseln seines Schweigens endlich löst, nachdem er von einem Aufseher ins Gesicht geschlagen worden war, weil er sich geweigert hatte, einen anderen Sklaven wegen Ungehorsams zu erstechen, wie es ihm befohlen worden war. Es ist der Moment, in dem ein Sturm in diesem Sklaven losbricht. Er tritt langsam an den vorderen Bühnenrand und wirft seine Anklagen gegen die, die ihn gedemütigt haben, erhitzt sich immer mehr und als er schließlich an jene Stelle gelangt, wo er, um seine grenzenlose Empörung noch zu verdeutlichen, mit dem Fuß auf den Boden stampfte brach plötzlich das Brett durch, auf das er getreten hatte. Dergestalt aus seiner Rolle gerissen, stand er in stummen Staunen vor dem Loch in der Bühne, das ihn dunkel und vorwurfslos anglotzte. Er sah sich im ersten Moment verwirrt um, als suchte er nach jemandem, der ihm diesen Vorfall erklären konnte und war nur froh darüber, dass er diese Stelle noch vor der Premiere geprobt hatte. Zuerst versuchte er vergebens, einen Bühnentechniker zu finden, gab das jedoch bald wieder auf, da er wusste ,dass die frühestens in einer halben Stunde kommen würden. Er entschloss sich, den entstandenen Schaden so gut als möglich selbst zu beheben
und seine Schauspielkollegen später darauf hinzuweisen. Er kniete sich neben der klaffenden Bühnenwunde nieder und steckte seinen rechten Arm hinein um das zerbrochene Holzstück wieder ans künstliche Tageslicht zu befördern, er musste sehr tief reingreifen, bis er endlich auf etwas Hartes stieß, das Brett war scheinbar nur in zwei Teile zerbrochen. Er legte das erste beiseite und fuhr fort. Eine Zeitlang tappte er erfolglos umher, bis er endlich wieder etwas unter seiner Hand fühlte, was sich aber wie Papier, wie ein Skript anfühlte. Dies hatte sein Interesse sehr viel heftiger entfacht als das andere Holzstück und so umfasste er das Skript und holte es aus seiner seltsamen Heimatshöhle. Es handelte sich um etwa fünfzig geheftete Seiten mit einem Umschlag aus etwas festerem Karton worauf eine dicke Staubschicht nistete, auch machte das gesamte Werk schon Anstalten zu vergilben. Vorsichtig und etwas verunsichert über diesen seltsamen Fund wischte er die Staubschicht vom Umschlag, was ihn husten machte. Als sich der kratzende Reiz wieder aus seinem Hals entfernt hatte, las er, was säuberlich in der Mitte und und unterstrichen in Schreibmaschinschrift in fetten Großbuchstaben darauf stand: „Die wahren Bretter oder Was bedeutet die Welt ?“ und darunter „Über das Theater“. Er hörte Stimmen von draußen, einige seiner Kollegen waren gerade gekommen. Er empfand plötzlich eine große Furcht, mit dieser Schrift entdeckt zu werden, er fühlte sich schuldig, diese Schrift gefunden zu haben, sie in Händen zu halten und schuldig wegen der Anziehung, die sie auf ihn ausübte. Er rannte hinter die Bühne in die Garderobe und versteckte sie in seiner Tasche, machte kehrt um seine Mitspieler zu begrüßen. Zwar gelang es ihm nicht, seine Erregung und Verwirrung zu verstecken, schob das aber auf die nahende Premiere ab.
Die Vorstellung war gut gelaufen, das Publikum quittierte die Anstrengungen der Schauspieler und des Regisseurs mit lang anhaltendem Applaus, die Premierenfeier wurde mit einer Ausgelassenheit begangen, die stolz auf das Geschaffene zurückblickte. Auch sein Part wurde sehr gelobt und artig lächelte er darüber und erzählte von der Magie, die diese Rolle auf ihn ausgeübt hatte und welche Methoden er gewählt hatte, um sich vorsichtig an sie heranzuschleichen um sie schließlich zu zähmen. Aber der Fund dieser Schrift hatte einen Krater in ihm hinterlassen, den er während der gesamten Aufführung und danach nicht hatte zuschütten und vergessen können, stetig hing ein ahnungsvoller Schrecken über der Inszenierung, die ihn niederdrückte wie dumpfe Schwüle vor einem Gewitter. Am stärksten fiel ihm
das selbst auf, als sein Herz furchtvoll zu rasen begann, als man in einer Szene nach einem Verräter suchte, der den Aufstand von innen her sabotiert hatte.
Am nächsten Morgen sah er die Tasche neben seinem Bett stehen und erschrak, als er die Schrift noch immer darin fand. Er kam sich lächerlich vor, denn was sollte er denn schon zu befürchten haben, er,
der... Er bereitete sich Kaffee,setzte sich an seinen Tisch, legte die Schrift unaufgeschlagen vor sich hin und zündete sich eine Zigarette an. So als wollte er einen unheilbringenden Dämon verjagen ließ er den Rauch darüber gleiten, als wollte er sie in einen Zaubernebel hüllen, der die Verwirrung der Buchstaben auflöst und den wahren Titel offenbart. Aber es war nur der Rauch, der sich langsam auflöste. „Lächerlich, absolut lächerlich, absurd !“, dachte Frederick bei sich, „Das Werk eines frustrierten Zynikers, eines entlaufenen Clowns ist es, das mich derart aufbringt, das mich derart verunsichert ! Was kann es denn schon anrichten, ich würde jedes der Argumente, sollte es so etwas überhaupt enthalten, tausendfach widerlegen können ohne auch nur die geringste Anstrengung aufbringen zu müssen !. Das Werk eines verkannten Kritikers, der seinen persönlichen Rachefeldzug unternimmt ! Ich wurde geboren im Theater, ich bin dort aufgewachsen, ich kenne jede Einzelheit! Den Geruch, die Farben, die Schreie, das Flüstern, das Tanzen, das Verbrennen, das Erfrieren, die Liebenden, die Hassenden, die Verzweifelnden, die Idealisten, die Narren, die Komiker, die düsteren Weltverächter, ich kenne sie ! Ich kenne sie alle und weiß ganz genau, weiß...“-wütend dämpfte er seine Zigarette aus, stand auf, fuhr sich verkrampft über den Kopf, schüttelte die halbvolle Tasse Kaffee im Spülbecken aus, zündete sich eine neue Zigarette an, nahm einen Zug, dämpfte sie aber wieder aus.
Er fühlte sich sehr leer, nachdem er die letzte Seite beendet hatte. Er saß auf seinem Balkon,es war Anfang Mai, die Sonne schien und ein hellblauer Spätnachmittagshimmel lächelte sanft und wolkenlos. Er wohnte direkt über einer Fußgängerzone ,die Menschen freuten sich, endlich wieder etwas von ihren schützenden Hüllen ablegen zu können und zeigten der Sonne stolz ihr Fleisch. Einige Paare gingen eng umschlungen oder händchenhaltend über die hellen Pflastersteine hinweg und hielten nur manchmal inne, um sich zu küssen. Es herrschte ganz allgemein eine rege und frohe Geschäftigkeit, die den vom Alltag ausgemergelten Gesichtern wieder etwas von ihrem Strahlen verlieh. Er wollte nicht aufstehen. Er hatte keine Zigaretten mehr, er hätte aufstehen können, sich Geld nehmen, das Stiegenhaus hinuntergehen und beim Automaten vor der Türe Zigaretten kaufen können, aber es machte für ihn keinen Unterschied. Er wusste nicht, ob er rauchen wollte. Er wollte nicht sitzenbleiben.Er stand auf und blieb eine Weile stehen, setzte sich dann aber wieder. Er kaufte sich dann schließlich doch Zigaretten, er glaubte, vielleicht müsse er einfach zu seinen gewohnten Handlungen zurückkehren und sogleich würde sich sein altes Gefühl wieder einstellen. Der Gang zum Zigarettenautomaten kam ihm endlos vor, er hatte das Gefühl, als würde er bei jedem Schritt gleich niedersinken müssen, das Kleingeld in seiner Hand kam ihm ungewöhnlich kalt und schwer vor. Wieder zurück am Balkon zündete er sich eine Zigarette an und wollte
weinen. Nicht, dass er das dringende Bedürfnis danach gehabt hätte, es erschien ihm einfach angemessen, er versuchte sich zu zwingen, jenen kalten Schmerz, der mit stumpfen Messern auf ihn einstach zum erlösenden Ausbruch zu bringen, es gelang ihm nicht. Er verachtete sich für seine Gleichgültigkeit. Heute abend war wieder eine Vorstellung, drei Stunden hatte er noch, bevor er sich auf den Weg machen müsste. Sollte er hingehen ? Ein leichter Ekel überkam ihn bei dem Gedanken daran, er schüttelte sich, so als wollte er seinen verstörten Zustand aus der Brust jagen. Er bemerkte, dass er Hunger hatte, ging zum Kühlschrank, öffnete ihn, stand einige Minuten unentschlossen davor, er fühlte sich unheimlich träge und unfähig etwas zu essen. Schließlich nahm er sich ein Fruchtjoghurt ohne recht zu wissen warum, wurde plötzlich unheimlich wütend über diesen Umstand, sah sich selbst in seiner ganzen Lächerlichkeit mit einem Joghurt in der Hand, dass er nicht essen wollte, vor dem Kühlschrank stehen und warf es mit einem blind rasendem Aufschrei der Verbitterung gegen die Wand, besah sich den Fleck, die zähe, hellrote Masse, die sich nun langsam die weiße Wand hinabmühte, und begann zu weinen. Aber es war kein erlösendes Weinen, er setzte sich auf den Boden und schlug seinen Kopf einige Male gegen die Kühlschranktür und in ihm verkrampfte sich ein Schmerz, der wie ein Vogel war, dem man die Flügel über dem Rücken zusammengebunden hatte und der nun versuchte unter heftigsten Bewegungen seinen Kopf nach hinten zu drehen um die höhnischen Fesseln zu lösen und der die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens nicht begreift.
Ein leichtes Frösteln überfiel ihn, als er durch den Bühneneingang schritt. Seine Apathie erklärte er damit, wenig geschlafen zu haben, versicherte aber, es würde schon gehen. Dieser Ort, der ihm plötzlich eng und bedrückend vorkam, schien ihm mit einem Mal unheimlich fremd geworden zu sein. Manchmal fürchtete er, keine Luft mehr zu bekommen. Kurz vor seinem Auftritt stand er geschlossener Augen am hinteren Bühnenrand im Halbdunkel und wünschte sich einzig, er möge sich auflösen. Aber sein Stichwort fiel dennoch und schon hatte er sie wieder aufgelegt, die Maske des Aufrührers, dieses empörten und wütenden Menschen, der nicht einen Augenblick länger gewillt war, die Demütigung zu ertragen, dieser entfesselte Sturm eines Menschen, der sich seiner Rechte gewahr geworden war und sie nun einforderte und dafür zu kämpfen bereit war. Die Monologe schienen ihm nun übertrieben und pathetisch, plötzlich verstand er all die Kritiker und wunderte sich noch über ihre höfliche Zurückhaltung. Mehrmals wünschte er sich, mitten im Satz einfach abzubrechen und ohne weitere Erklärung die Bühne zu verlassen, so sehr empfand er dieses Stück, sowie auch seinen Part darin als eine groteske Farce, das eine grausame Freude darin fand, sich über ahnungslose Zuschauer und Schauspieler lustig zu machen.Der riesenhafte Aufwand, der hier betrieben wurde, erschien ihm
wie ein einziger absurder Misston; die von verkrampfter Konzentration entrückten Gesichter der Schauspieler, die überzeichneten Gebärden, die verzweifelt um ihren Ausdruck rangen, die Sätze, die allesamt ohne Bedeutung erlangt zu haben, zugrunde gingen trotz dessen, dass man bemüht war, sie in größtmöglichster Klarheit hervorzupressen, die mathematisch genauen Bewegungen, die ohne erkennbare Motivation vollführt zu sein schienen, alles schien nur darauf konzentriert zu sein, eine Atmosphäre großen Ernstes und schwerer Würde zu erzeugen, aber ironischerweise schien eben genau dieses Bemühen das Gelingen dieses Versuchs im Vorhinein zum Scheitern verurteilt zu haben und alles ertrank hingegen in einem abstrakten Meer aus Bewegungen, Gesichtern, Geräuschen und Farben. Es war darin nichts mehr von jener Wärme zu spüren, die den Aufführungen einst diese weichen Farben und Formen verlieh als würden sie von frühabendlichem Augustlicht beschienen werden welches den Blick weit und das Herz begierig macht. Er konnte sich nicht mehr hineinsinken lassen, es war, als hätte sich eine dicke Glaswand zwischen ihn und das Theater geschoben, an die er sich nicht zu nah heranwagen durfte und das ihn zum stummen Beobachter eines Geschehens, dass er weder begriff noch angreifen durfte, machte. Es war ihm somit nur mehr eine dunkle Erinnerung geblieben, zurückdenkend wie an eine ehemalige Geliebte, von der er nicht mehr wusste, ob er sie wirklich jemals geliebt hatte oder ob es einzig ihre Schönheit gewesen war, die ihn begeistert und aufgewühlt hatte, die, umso öfter er in ihren Genuss kam, immer mehr ausbleichte und an Kraft verlor, ihn schließlich gleichgültig machte und ihn ausgehöhlt zurückließ mit einer ungemeinen Verachtung für diese Schönheit, die er einst bewundert hatte.
Es half nichts, das Theater zu verlassen, das Gefühl nahm er mit, er hatte nicht einmal Lust, sich dagegen zu wehren, es schien ihm der Mühe nicht wert zu sein. Er wurde sehr traurig und entschloss sich, um sich irgendwie abzulenken, sich der Ausübung seiner Pflichten und Gewohnheiten zu verschreiben, er schuf sich einen einigermaßen sicheren Posten indem er wie ehedem seine Gewohnheiten praktizierte, aber auch das konnte ihn nicht vor seiner Verstörung retten.Aus irgendwelchen Gründen, die er sich selber nie wirklich bewusst hatte machen können, legte er noch Wert darauf, zumindest nach außen hin den Anschein abzustrahlen, er wäre glücklich wie jeder andere in den Lauf der Dinge versponnen. Nur manchmal nach den Aufführungen, als er in seine Wohnung zurückkam und die tödliche Stille darin ihn zu erdrücken drohte und er rauchend auf dem Balkon stand und die drei Stockwerke hinunter auf den vom Licht der Auslagen erleuchteten Pflastersein blickte, empfand er eine dumpfe und bedrängende Sehnsucht, die ihn dann denken ließ, vielleicht wäre es besser, würde er... Aber doch zog ihn immer etwas zurück und er wusste, dass es nicht bloß Feigheit war, die ihn dann doch nur die Glut seiner Zigarette am Boden in kurzem Funkenflug aufprallen ließ,es gab noch etwas in ihm, das sich in sturem Protest in ihm regte und sich wie aus Trotz noch an dieses Leben hing und es fest umklammerte. Natürlich blieb es den meisten seiner Freunde und auch seinen Eltern nicht verborgen, dass es etwas in seinem Leben gegeben haben musste, das ihn in sich einfallen gemacht hatte, doch wusste er stets, deren Sorgen zu zerstreuen und Begebenheiten dafür verantwortlich zu machen, die jedem einleuchteten; sei es nun Stress oder zu wenig Schlaf oder Zweifel über den weiteren schauspielerischen Werdegang. Nie hätte er aussprechen können, was ihn in Wahrheit bedrückte, es er schien ihm als etwas dunkles und verbotenes, vor dem er die anderen zu bewahren hatte, er fürchtete, er würde eine unsichtbare Grenze überschreiten und irgendwohin gelangen, von wo aus er nicht mehr zu anderen zurückkehren würde können, hätte er es erst einmal ausgesprochen. So hatte er sich auch deshalb zum Schweigen verpflichtet, weil es ihm so sicherer schien als wenn er sich mit einem falschen Wort den Stürmen der Konsequenzen ausgesetzt hätte, die er nur erahnen konnte und von deren Gewalt er fürchtete, sie würden ihm noch seine letzten brüchigen Festungen nehmen, in die er sich manchmal noch zurückziehen konnte, um nicht vollständig von der rauhen Kälte dieser Befremdung durchdrungen zu werden.
Heute sollte die letzte Aufführung stattfinden.Er hatte sich entschlossen, früher zu kommen, er hatte das Schweigen und die Einsamkeit seiner Wohnung nicht länger ertragen können und es war ihm wohler dabei in einem weiten, offenen Raum zu sein als von den bedrückenden Wänden seines kleines Appartements, so hatte er sich zur Flucht entschieden, stand nun aber genauso unentschlossen, und ohne jede Lust, irgendwelche Übungen zu beginnen, auf der großen,von schwachem Scheinwerferlicht beschienenen Bühne und sog in unruhigen Zügen den weichen Geruch der Sitzbezüge, des Vorhangstoffes und des Holzes ein. Er schritt im Halbdunkeln auf und ab, abwechselnd auf den Boden und in den Zuschauerraum blickend, als er bei jener Stelle vorbeikam, an der er einst mit seinem Fuß das Brett durchbrochen hatte, welches bald darauf ersetzt worden war und das sich durch seine helle Farbe deutlich von den anderen Brettern abhob. In ihm begann die Erinnerung an diesen Abend wieder aufzuwallen und mit den heftigen Wogen dieser Bilder, die sich in ihn eingebrannt hatten, überfiel ihn eine ganze Bilderschar, die aus dem Hinterhalt ihn überwältigte und eine Wut in ihm entfachte, die befähigt schien, ihn zur Gänze zu verbrennen.Völlig den Auswüchsen seines Zorns ergeben, stampfte er mit dem Fuß auf diese Stelle mit dem einzigen Wunsch dieses Brett zu zerstören. Aber es war gut gearbeitet und jeder Tritt bereitete ihm Schmerzen, wohingegen das Brett völlig unbeschadet blieb. Als er dies bemerkte, sank er auf die Knie und malträtierte es mit seinen Fäusten weiter, was auch keinerlei Erfolg brachte. In seiner besinnungslosen
Verlorenheit begann er das Brett zu beschimpfen: „Ich habe nicht darum gebeten, dass zu entdecken, was du verborgen hast, ich wollte nie erfahren, nie wissen, was unter dir begraben liegt, dein Geheimnis hat mich nie interessiert, es hätte mir nichts ausgemacht, weiterhin in dieser Lüge zu leben, es hätte mich nicht gestört, nicht im Geringsten, ich war verloren und glücklich damit, solange ich es nicht wusste, ich wollte es nicht wissen ! Ich wünschte, dich nie gelesen zu haben,elende Mörderschrift !“ Er hatte nicht bemerkt, dass eine der Schauspielerinnen des Ensembles seit einiger Zeit am hinteren Bühnenrand gestanden hatte und ihn beobachtete. Sie trat nun langsam hervor und auf ihn zu. Als Frederick die Schritte hörte, erschrak er und richtete sich auf, sie stand ihm nun gegenüber. Er wollte einen Satz beginnen, welcher sich aber in Stammeln verlief. Krampfhaft versuchte er sich zu erklären, sie aber schien überhaupt nicht nach einer Erklärung zu verlangen. Sie blickte ihm mit weit geöffneten Augen gerade in die seinen und fragte ihn nur: „Wo hast du sie gefunden ?“. „Du kennst sie ?“, schrie er sie nahezu an in seiner Verwirrung. Sie nickte nur.Er deutete mit dem Finger auf das neue Brett. „Darunter“, sagte er in der festen Erwartung seiner Verurteilung. Aber auf ihrem Gesicht entfaltete sich lediglich ein Ausdruck großer Überraschung. „Wieso..“ begann er einen Satz, wurde aber unterbrochen vom Gelächter anderer Schauspieler, die gerade eintraten und leichten und fröhlichen Schrittes auf die letzte Aufführung zugingen, die den Abschluss einer gelungenen Saison darstellte. „Wir reden nach der Aufführung, gut ?“ sagte sie und ohne seine Antwort abzuwarten ging sie auf die anderen Schauspieler zu, sie zu begrüßen.
Während der gesamten Aufführung plagte ihn eine unablässige Unruhe, die ihn davon abhielt, sich seiner Rolle ganz anzunehmen, keine der Lektionen, die er im Laufe seiner Ausbildung gelernt hatte, kam ihm zur Hilfe. Er spielte wie in Trance, es war ihm, als ob es ein Anderer war, der dort spielte, es war, als hätte er sich in sich verkrochen und alleine seine Rolle auf die Bühne geschickt, die er nun beim Spielen beobachten konnte. Er suchte beständig Blickkontakt zu jener Schauspielerin, die ihn zuvor ertappt hatte, sie verstand es aber, seinen Versuchen geschickt auszuweichen, was seine Angespanntheit noch vermehrte.Es wütete eine unbestimmte Furcht in ihm, die herausgefordert wurde von der vorigen Reaktion der Schauspielerin, die für ihn einen unverständlichen Widerspruch darstellte, schien diese Reaktion doch auf keinerlei Anklage, auf keinerlei Urteil hinzudeuten und nichts hätte er stärker erwartet. Eine Sturzflut von Fragen hatte ihn gleich nach diesem kurzen Wortwechsel ergriffen, aus der er sich während der ganzen Inszen-ierung nicht befreien hatte können. Woher wusste sie von der Schrift, hatte sie sie gelesen und wer noch aller ? Wusste sie, wer sie verfasst hatte, sollte diese Schrift eine Art Prüfstand für
Schauspieler sein, sie auf ihre Überzeugung und Hingabe hin zu testen (immerhin war er der jüngste im Ensemble), vielleicht würde sie ihm dazu gratulieren, den richtigen Beruf ergriffen zu haben, eine Art Einführungsritual also ? Im nächsten Moment aber schon schien ihm dieser Gedanke wieder vollends absurd. Wieso sollte jemand so grausame Methoden wählen, nur um jemanden auf die Probe zu stellen ? Und außerdem: hatte er nicht schon alleine dadurch, dass er in seiner Ausbildung reüssiert hatte, zur Genüge bewiesen, dass er geeignet war, diesen Beruf zu ergreifen ? Aber hatte er sich nicht auch schuldig gemacht dadurch, dass er die bestechend klaren Ausführungen in der Schrift wachen Geistes gelesen hatte und sie genau in dieser Klarheit verstanden und in sich aufgenommen hatte und ohne es zu wollen, seine Zustimmung zu dem, was dort beschrieben stand, gegeben hatte,weil die Einfachheit und zwingende Logik darin ihn zur Einwilligung gezwungen hatte; er fühlte, dass das alles unausweichliche Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Applaus. Das Publikum wollte „seine“ Schauspieler nicht ohne weiteres gehen lassen, nötigte sie insgesamt noch fünfmal, sich zu verbeugen und selbst dann schienen sie noch nicht wirkliche Genugtuung erfahren zu haben. Der Regisseur kam glücklich in die Garderobe und überreichte jedem der Schauspieler eine rote Rose, sagte, nachdem er sie
jeden überreicht hatte, er wolle niemanden vor Sonnenaufgang sich von der Dernierefeier davonschleichen sehen und verabschiedete sich, indem er überschwängliche Handküsse in die Menge warf. Frederick war mittlerweile sehr ruhig geworden, die Aufführung hatte ihn mehr als jede vorige erschöpft, er saß, nunmehr bereit dazu alles anzunehmen, was auch immer auf ihn zukommen sollte und seine Schuld nicht abzustreiten, vor einem der Spiegel am Ende der Garderobe und wischte sich mit einem feuchten Watteballen in genauen und sehr sorgfältigen Bewegungen die Schminke vom Gesicht. Es schien ihm als hätte er alle Möglichkeiten bedacht und keine davon kam ihm wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher als die andere vor. Er hatte aufgehört zu spekulieren und er hatte aufgehört zu hoffen, alles was er jetzt noch wusste war, dass, was immer nun geschehen würde, es einen tiefen Einschnitt in sein bisheriges Leben darstellen wird. Darauf hatte er sich eingestellt und nun blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten.
„Freunde !“, hob die Schauspielerin von vorhin ihre Stimme und brachte damit das Stimmengewirr langsam zum Verstummen, „ich bitte euch um einen Moment Ruhe.“ Sie wartete einige Sekunden bevor sie weitersprach und Frederick, plötzlich wieder unruhig, hatte die Watte beiseite gelegt und sich ihr zugewandt. „Freunde“ begann sie nochmals einen Satz, „ich habe vorher schon kurz mit euch darüber gesprochen, wie ihr wisst hat nun auch Frederick unsere Schrift gelesen..:“.Frederick konnte nicht an sich halten und entgeistert und alle Fassung verlierend, zu der er
sich gerade erst überwinden hatte können, schrie er, indem er aufsprang: „Unsere Schrift ? Ihr habt das geschrieben ?“. „Ja, Frederick...“, entgegnete sie mit einer sanften und ruhigen Stimme, „wir haben das geschrieben.“. Und Frederick blickte die Reihe der Gesichter des Ensembles entlang, die allesamt von den Exaltationen des Schauspielerlebens gezeichnet waren, diese Gesichter, die Romane erzählten von den Höhen und Tiefen, die sie durchwandert hatten, von den siegreichen Schlachten, die sie gefochten hatten und von den bitteren Niederlagen, die ihnen widerfahren sind, die ausmaßlose Trauer kannten genauso wie die tiefe Empfindung des Glücks, die dumpfe Banalität gleichsam wie geniegleiche Größe gekostet hatten, die tausende Tode gestorben sind um dann, wenn niemand mehr damit gerechnet hätte, sich wieder zu regen begonnen hatten und ihrer Gruft entstiegen sind. Er sah in diese Gesichter, die er schon hunderte Male mit den verschiedensten Ausdrücken belegt gesehen hatte und deren Eigenheiten er kannte, aber noch nie hatte er sich diesen Menschen, mit denen er schon so viel Zeit verbracht hatte, so nahe gefühlt wie jetzt da jedem dieser Gesichter ein komplizenhaftes Lächeln entsprieß und er fühlte wie sich in ihm eine verkrustete Naht löste, die er bisweilen nicht anzurühren gewagt hatte; er wusste, dass ihn niemand verurteilen würde.
Nachdem sie sich alle umgezogen hatten, machten sie sich auf den Weg zur Dernierefeier, die in einem nahegelegenem Lokal stattfinden sollte. Es war eine angenehm warme Sommernacht und es ging leichter Wind. Es war Samstag und Menschenmassen fluteten die Gassen der Stadt. Frederick blieb einen Moment lang stehen und blickte sich, von einer Straßenlaterne beleuchtet, um. Er blickte sich um, besah sich die Gesichter der Menschen die vorbeizogen und fühlte sich wieder wie in diesem großen und unberechenbaren Gebäude des Wahnsinns, in dem die menschlichen Leidenschaften ihre Heimstatt gefunden hatten, in dem sie sich austobten und an ihre Grenzen stießen, wo deren Höhenflüge und irrlichternden Abstürze den Seelennerv bis zur Unerträglichkeit kitzelten , wo sie ihn verlockten, ihn umgarnten um ihn schließlich zu verstoßen, sich ihm wieder um den Hals warfen um ihn im nächsten Moment wieder zuzudrücken. Dort also hatte er er hingewollt und dort stand er nun, der Eindringling.