Der Eine hat, was der Andere nicht hat
Thomas war ein literarisches Genie. Nicht verkannt, doch kaum jemand wusste davon. Mit vierzehn Jahren begann er Gedichte und Kurzgeschichten zu schreiben. Das tat er abends, wenn die Dunkelheit eingebrochen war und er sein Schreibtischlämpchen benötigte, um Stift, Papier und sein Gekritzeltes sehen zu können. Seine Familie hockte währenddessen gemütlich vorm Fernseher, so, wie nahezu die gesamte Bevölkerung der westlich zivilisierten Welt. Sie fragte sich nicht, was ihr Sohn oben im Zimmer so treibt.
Thomas war etwas Besonderes, weil er nicht mehr brauchte als das, was sein Kopf ihm hergab, um sich zu unterhalten. Sein Kopf sprudelte vor Ideen, Eindrücken und Gedanken, die er nur zu bündeln und kanalisieren brauchte, um erstklassige und geistreiche Texte aufs Papier zu bringen. Diese Art der Beschäftigung mit sich selbst war ihm die größte Erfüllung.
Er war ein eher zurückhaltender und unauffälliger Junge. Ging jeden Tag in die Schule, brachte gute bis sehr gute Noten nach Hause, trieb Sport, hatte Freunde, war seinen Eltern ein unkomplizierter und liebevoller Sohn. Denn so lange er jeden Abend zwei, drei Stunden schreiben konnte, war er besänftigt und hatte keinen Grund zur Unzufriedenheit.
Anfangs schrieb er nur zum Spaß. Es hatte etwas Beruhigendes, die eigene Weltanschauung, die erstmals nur in seinem Kopf existierte, zu materialisieren und wirklich werden zu lassen, indem er sie auf ein leeres Blatt niederschrieb. Später stellte er fest, dass das Schreiben zu einem notwendigen Bedürfnis und gar einer Sucht geworden war. Schrieb er eine Zeitlang nicht, war ihm unbehaglich zumute. Im Alltag war er dann unkonzentriert, nervös, fehlbar. Die Stunden am Schreibtisch waren oft anstrengend und schwergängig, doch euphorisierte ihn später die Erinnerung daran, was er mit seinem Stift so von sich gegeben hatte.
Thomas behielt das Schreiben, seine täglichen Versuche, für sich. Weder seine Lehrer, noch Mitschüler, noch Eltern ahnten überhaupt etwas davon. Mit der Zeit haben sich hunderte von engbeschriebenen Seiten angesammelt, die er in den unteren Schreibtischschubladen verstaute. Diese waren eigentlich für seine Schulhefte vorgesehen, doch Thomas überlegte gar nicht erst, welche Papiere bedeutender und von höherem geistigen Wert waren. Die alten Schulhefte wanderten mit gutem Gewissen in den Papierkorb.
Als er siebzehn war, studierte er seine literarische Entwicklung der vergangenen drei Jahre. Er verglich sein Schreiben mit dem der Schriftstellerikonen, die er wie Götter verehrte. Sachlich stellte er fest, dass er mittlerweile das schriftstellerische Handwerk beherrsche und darüber hinaus einen eigenen Stil entwickelt habe. Ja, in einem Anflug von Größenwahn glaubte er sogar, dass er schrieb, wie nie zuvor jemand geschrieben hatte und dass die Qualität seiner Texte durchaus mit der von altüberlieferten, gefeierten und berühmten Schriften mithalten könne. Von dieser Erkenntnis beflügelt begann er seinen ersten Roman zu schreiben. Er nahm sich vor ihn mit achtzehn Jahren zu veröffentlichen. Mitschüler, Lehrer, Eltern und den Rest der Welt wollte er überraschen. Das Buch sollte eine Bombe werden, die aus berstenden und hochexplosiven Wörtern zusammengesetzt ist. Er selbst eine literarische Sensation, oder ein Stern, der am Himmel zu glühen beginnt. Nicht weniger hat er sich vorgenommen.
Herr Schlüter war Lektor des renommiertesten Verlages Deutschlands. Seine Aufgabe bestand zu Einem in der Betreuung der für seinen Verlag publizierenden Schriftsteller, zum Anderen darin, literarische Neuentdeckungen zu machen. Dazu überflog und las er jedes Jahr hunderte Manuskripte. Die meisten waren zu Nichts zu gebrauchen. Nach wenigen Seiten konnte er das feststellen. Aus manchen Manuskripten war etwas zu machen. Diese waren nicht unbedingt brillant oder originell, doch nach einiger Überarbeitungsarbeit, dem Kürzen oder Hinzufügen von pikanten Textstellen, und der anschließenden Vermarktung durch Presse und Werbung, waren sie durchaus unter die Leute zu bringen und zum Geldscheffeln geeignet. Für Herrn Schlüter war es in Ordnung, den literarischen Anspruch seines Verlages herunterzuschrauben. Schließlich werden zu wenige Talente geboren, um ausschließlich erstklassige Ware, einzigartige Kunst, zu veröffentlichen. Wollte ein Verlag überleben, so musste er tricksen und was er an solidem und überdurchschnittlichem Material zur Verfügung hatte, geschickt als Produkte künstlerischer Höchstleistung verkaufen. Das gehörte zum Spiel. Die Regeln des Kapitalismus.
Sehr selten, vielleicht einmal im Jahrzehnt, geriet ein Manuskript in seine Hände, das von einem wirklichen Talent stammte, jemandem, der mit der Kühnheit und Originalität des Genies gesegnet war und das Zeug hatte, sich eines Tages neben die Schriftstellergrößen in den Olymp zu stellen. Die Verantwortung seiner Arbeit bestand darin, ein solches Talent nicht zu übersehen. Nicht nur gegenüber dem Autor. Für den Verlag wäre ein Übersehen und Verkennen eine große Schlampigkeit, ein finanzieller Verlust, ein Schaden für das Ansehen. Deshalb ist Herr Schlüter beim Lesen sehr geduldig und gibt jedem Manuskript eine ernsthafte Chance.
Herr Schlüter begeisterte sich sehr früh schon für Literatur. Seitdem er anfing, mit sich selbst und der Welt zu hadern, begleitete sie ihn auf Schritt und Tritt. Bücher waren ihm wie Kirchen, ihr Inhalt die Bibel und eine gesamte Religion. In seinen Jugendjahren hegte er den unbescheidenen Wunsch eines Tages selbst ein großer und genialer Schriftsteller zu werden. Er begann mit den ersten Schreibversuchen. Nach der Schule folgte ein Literaturstudium. Es stellte sich heraus, dass er sprachlich zwar sehr begabt war, solide und geistvolle Texte verfassen konnte, doch zum Künstler taugte er nicht. Er verfügte nicht über die Gaben der künstlerischen Intuition, feinen Empfindung, uneingeschränkten Phantasie, unbändigen Schaffenskraft. Seins war die wissenschaftliche Arbeit. Das Analysieren, Auseinanderlegen, Bewerten und Betrachten. Darin gehörte er zu den Besten. Unumstritten.
Mit seinem Schicksal jedoch, nämlich ein akademischer und stumpfer Wissenschaftler und kein kreativer Künstler zu sein, konnte sich Herr Schlüter nicht abfinden. Hätte er ein wenig mehr Humor gehabt, dann würde er über seinen Schriftstellertraum lachen. Doch lachen konnte Herr Schlüter nicht.
Eines Tages geriet Herrn Schlüter ein Manuskript in die Hand, das er so schnell nicht wieder losließ. Erst nach vier Stunden, als sein Kopf längst qualmte und völlig erschöpft war von den gewaltigen Worteskapaden, brillanten Einfällen und dem originellen Stil, kehrte er ein wenig zur Besinnung zurück und gönnte sich eine Zigarette.
Das war eine Entdeckung. Phänomenal. Das Manuskript, auf das er zehn Jahre gewartet hatte. Ein literarischer Triumpf. Eine Sensation. Ein Geniestreich. Er wusste es, bevor er es zu Ende gelesen hatte. Die vierstündige Leseprobe hatte gereicht. Nun musste er schnell handeln. Das unbekannte Talent kontaktieren, bevor es ein anderer Verlag täte. Es war nämlich seine Entdeckung, und er würde sich auf sie stürzen.
Das Manuskript war mit dem Namen Leopold Lewis unterzeichnet. Ein Brief war beigefügt. Schlüter öffnete und las ihn: der Junge sei erst achtzehn Jahre alt, unfassbar dachte Schlüter dazu, er sei mit seinen schriftstellerischen Erzeugnissen noch nie an die Öffentlichkeit gegangen, seine engsten Vertrauten wüssten nicht einmal, dass er schriebe. Er sei sich darüber im Klaren, dass das Abgelieferte ein Meisterwerk sei, dass er in der allerobersten Liga mitspiele, und er strebe an, nach der Schule eine freie Künstlerexistenz zu führen, ohne Studium, nein, nur schreiben und leben, das wolle er. Außerdem habe er das Manuskript nur an diesen einen Verlag geschickt, denn diesen schätze er am meisten, und er hoffe doch, dass einer freundlichen Zusammenarbeit nichts mehr im Wege stehe, und wartete schon längst auf den begeisterten Anruf des sehr verehrten Lektors usw..
Herr Schlüters Lektorenherz schlug viele Takte mehr pro Minute. Es handelte sich um eine größere Sensation als nach der bloßen Lektüre gedacht. Achtzehnjährig, völlig unentdeckt, vermutlich unscheinbar, irgendwo verborgen. In diesem Moment schien niemand außer ihm und diesem Leopold Lewis zu wissen, dass auf Deutschlands Straßen eine literarische Wucht, ein James Joyce oder David Foster Wallace, rumlungerte.
Er griff sogleich zum Telefon um ein Treffen zu arrangieren. Wie sich herausstellte wohnte der Junge nicht weit. Er solle zu ihm, nach Hamburg, ins Verlagsbüro kommen. Ein Vertrag könne sofort unterschrieben werden, und Mehr als das, versprach er dem Jungen am Telefon. Herr Schlüter legte auf und griff sich ans Herz. Eine Idee überwältige ihn.
Thomas war auf dem Weg nach Hamburg. Zwei Stunden dauerte die Fahrt mit der deutschen Bahn. Am Telefon beschrieb er sich als schwarzhaarig, lockig, eins siebzig groß. Er würde einen blauen Kapuzenpulli tragen. Der Lektor, Herr Schlüter, würde am Bahnhof auf ihn warten. Dann würden sie alles Geschäftliche verhandeln, Thomas würde sein einzigartiges und gewaltiges Debüt veröffentlichen und die Welt erobern. Herr Schlüter könnte seine Schriftstellerreihe um ein großes Talent erweitern.
Herr Schlüter wartete schon zehn Minuten vor Eintreffen des Zuges am richtigen Gleis. Ein sportlicher Anzug, der erkennen ließ, dass er ein Mann von Bedeutung und Würde war, kleidete ihn. Er sah gut aus. Er war vielleicht dreißig Jahre alt und für Frauen durchaus attraktiv.
Er erkannte Thomas sofort. Er begrüßte ihn mit freundlichen Blicken und einem respektvollen Händedruck. Er beglückwünschte ihn. Es sei ihm eine Ehre, einen wahrhaftigen literarischen Kometen kennenlernen zu dürfen. Das Buch sei großartig, ein Wunder, und Thomas erwarte eine glänzende Zukunft. Die Türen der Welt stünden ihm offen, doch darüber würden sie später mehr reden.
Thomas war ganz und gar erregt und außer sich. Ehrgeiz und Erfolgswahn haben ihn gepackt. Anfangs schrieb er ohne wirkliche Ambitionen, sein Schreiben war sehr ehrlich und natürlich. Doch nun wollte er sein Talent und seine Kunst nutzen um neue Horizonte zu erschließen. Sein jugendliches Herz begehrte Alles, er wollte nicht weniger als die Welt erobern.
Am heutigen Tage, nach Unterschreiben des Vertrages, würde er sich neu erschaffen, dachte er. Nicht mehr einer von vielen Abiturienten sein, die irgendwelchen Mädchen nachliefen und deren Wochenhöhepunkt die Kellerparty am Freitagabend war, sondern sich als Wunderkind feiern lassen und ganz in seinem Werk aufgehen. Sein Herz pochte. Ein Traum würde wahr werden. Einer der glücklichsten Tage seines Lebens. Ein Glück, das er bisher nur mit seinem Lektor teilte.
Sie stiegen in Herrn Schlüters Wagen ein. Ein nagelneuer Audi. Er erzählte, dass sie zu ihm nach Hause fuhren. Er hätte ein köstliches Gericht zubereitet, außerdem verfüge er über eine ansehnliche Bar, mit erlesenen Weinsorten, Schnäpsen und erstklassigen Whiskey. Der Moment müsse ausgiebig gefeiert werden, erklärte er Thomas lachend.
Über Schlüters Haus staunte Thomas nicht schlecht. Eine kompakte Villa. Weißgestrichene Wände, verzierte Säulen, Springbrunnen im Garten, in der Nähe eines Waldes gelegen. Ein Erbstück, vermutete Thomas. Schlüter war adeliger Herkunft.
Beim Essen führten sie ein erregtes Gespräch. Über Thomas Leben, seine Familie, über Schriftsteller, die Schlüter persönlich kannte, über Literatur und Kunst im Allgemeinen, über Thomas Buch usw.
Thomas teilte mit, dass kein Mensch über seine schriftstellerische Begabung wisse. Er sei immer recht unscheinbar gewesen, obwohl er bei Allem ganz vorn dabei gewesen wäre. Der Roman sollte sein Outing sein. Dazu hätte er sich einen kleinen Spaß ausgedacht. Er solle unter seinem Künstlernamen erscheinen, so dass er erstmal noch unbekannt bliebe. Und wenn der erste Bericht über ihn und sein Buch im Fernseher ausgestrahlt werde, am Besten in einer Kultursendung am Sonntagabend auf ZDF, und er möchte in diesem Bericht unbedingt interviewt werden und etwas zu seinem Buch sagen, dann wollte er mit seinen Eltern, die natürlich Nichts ahnen und womöglich kurz vorm Einschlafen sind, einfach nur auf der Wohnzimmercouch sitzen, dem Wohnzimmer, in dem seit Jahren nichts verstellt und geändert wurde, ganz beiläufig die Sendung einschalten und der Eltern Gesichter und Reaktion studieren, wenn sie checkten, dass der Junge, der sie gerade vom Fernseher aus anlacht und von sämtlichen Literaturkritikern der Welt gepriesen wird, derjenige ist, über den sie sich beim Abendessen zuvor geärgert hätten, und nun völlig unschuldig und unscheinbar und ganz gewöhnlich neben ihnen sitzt. Er wollte, dass sein Outing einschlüge wie eine Bombe.
Herr Schlüter musste über diese Vorstellung lachen. Er fand sie irgendwie genial, außerdem war der Plan gut mit seinem zu vereinbaren. Doch er wandte ein, dass diese Idee etwas Perverses an sich habe. Schließlich müsste die Neuigkeit seinen Eltern einen ziemlichen Schock und Schrecken einjagen. Das sei schon eine übertriebene Überraschung, eine Überraschung, bei der nicht auszuschließen sei, dass sie seinen Eltern einen Herzstillstand verursache. Schließlich würden sie schlagartig entdecken, und nicht etwa im persönlichen Gespräch, sondern in der unpersönlich, distanziert übermittelten Form des Fernsehens, dass ihr Sohn ein ganz Anderer sei als derjenige für den sie ihn hielten.
Thomas lachte, er war angetrunken. Genau darum ginge es, sagte er, denn dieser Moment, in dem seine Eltern ihn plötzlich neu kennenlernten, in dem ihnen eine unbekannte Wahrheit über ihren Sohn offenbart würde, wäre seine zweite Geburt, von da an wäre er ein neuer Mensch, würde die Welt in neuem Gewande betreten, als großer Schriftsteller, erwachsen, und bereit ein selbstständiges, unabhängiges und der Literatur gewidmetes Leben zu führen. Schlüter dachte, sich einen wirklichen Knaller angeangelt zu haben.
Zur Krönung und zum Beschluss dieses Plans, sagte er nun feierlich, würde er etwas sehr Kostbares zum Anstoßen holen. Er ging an die Diele und füllte zwei Gläser mit würzigem, klarem Whiskey und etwas Anderem.
„Auf deine zweite Geburt!“, sagte er.
„Auf unsere Zukunft!“, sagte der euphorisierte Thomas.
Thomas öffnete die Augen. Wo war er, was war los? Er befand sich in einem Zimmer, das er nicht kannte. Moment mal. Gestern ist er doch zu dem Lektor gefahren, sie haben seinen Roman gefeiert, etwas getrunken. Hatte er etwa einen Filmriss erlitten? Aber nein, dermaßen betrunken hatte er sich nicht, er fühlte sich nicht einmal verkatert, keine Kopfschmerzen, keine Übelkeit in Magengegend. Sein Verstand war wach und klar, ungetrübt. Doch was war passiert? Wo war die Erinnerung daran, wie er in dieses Zimmer gekommen ist? Eine Deckenlampe leuchtete, kein Fenster aus dem Licht kam. Thomas sprang auf und lief zur Tür. Er wollte raus, sich Klarheit verschaffen. Verdammte Scheiße. Die Tür war verschlossen. Ein kleines Zimmer, er war gefangen.
Thomas ahnte etwas Schreckliches. Er hatte mal von K.O. Tropfen gehört, die einem unbemerkt verabreicht werden, im Getränk beigemischt, und einen sofort plattmachten, dazu verwendet würden um… aber nein, so etwas kann doch nicht passiert sein. So etwas passiert in Filmen, Stephen King Büchern, man liest es höchstens in der Zeitung. Geschah das denn jetzt wirklich? Träumte er vielleicht? Hat er dann auch das Treffen mit dem Lektor, seine literarische Karriere…. Nur erträumt? Was war los?
Thomas zählte seine Finger. Es waren zehn. Er rieb sich die Augen, da war nicht einmal Schmalz angesammelt. Er kniff sich, doch nichts geschah. Das war kein Traum. Also gut, überlegen.
Thomas musterte das Zimmer. Er hatte in einem ordentlichen, sauber bezogenen Bett geschlafen. An der Wand stand ein Schreibtisch. Mit einem spärlichen Holzstuhl davor. Da war ein Regal voller Bücher. Außerdem ein Medienturm, Fernseher und Stereoanlage. Die Wände weiß tapeziert. Ein Plakat hing an der Wand… es zeigte seinen Namensvetter, Thomas Mann, genügsam in einem ausstaffierten Sessel sitzend, Zigarre im Mund, überlegen in die Kamera schauend. Dann war er ja in guter Gesellschaft, hätte sich Thomas gesagt, wenn er‘s jetzt nicht mit der Scheißangst gekriegt hätte. Ein Lichtschalter, er drückte, es wurde dunkel. Er schaltete das Licht wieder an. Kein Fenster, kein Ausweg. Thomas stampfte auf den Boden. Es ergab ein dumpfes Geräusch. Oh je, allen Anzeichen nach befand er sich im Keller. Die Luft begann stickig zu werden. Was hatte sich der Schlüter gedacht, was hatte der vor. Wenn es nichts mit ihm zu tun haben sollte, dann ist er jetzt völlig übergeschnappt, dachte Thomas.
Er blickte sich nochmal um. Da, ein Brief, auf dem Schreibtisch. Schnell hin, eine Botschaft, man hatte an ihn gedacht. Alles würde gut ausgehen.
„Lieber und verehrter Thomas,
ich habe gleich nach unserem ersten Gespräch Alles vorbereitet, um es dir wirklich gemütlich zu machen. Wie es aussieht wirst du längere Zeit bei mir verbringen.
Was wir gestern besprochen haben, wird eingehalten. Dein literarisches Talent wird gewürdigt, du wirst noch sehen. Ich bin gerade auf der Arbeit und muss letzte Angelegenheiten klären.
Noch ehe du Hunger verspürst und dich genug beruhigt hast, um überhaupt einen Happen runter kriegen zu können, werde ich zurück sein und dich mit einer duftenden Mahlzeit begrüßen. Keine Angst. Wir sind und bleiben Partner.
Du kannst die Wartezeit gerne sinnvoll nutzen. Dazu empfehle ich dir was von Wolfgang Koeppen, findest du im Bücherregal. Übrigens ein ganz persönliches Geschenk von mir. Falls du ihn nicht kennen solltest, ein zu unrecht vergessener, weil genialer Mann.
Lass den Kopf nicht hängen, wir haben noch was zu feiern!
Liebe Grüße und bis nachher, Dein Michael
P.S: Verzeih mir bitte den Umstand des Eingesperrtseins. Das muss leider sein.“
Verdammte Scheiße, dachte Thomas. Er ist da wohl in einen David Lynch Film geraten oder so. Was war der Zweck all dessen, was hatte der Schlüter mit ihm vor? Wahrscheinlich würde er gleich zurück kommen und es stellte sich heraus, dass Alles mit rechten Dingen zu ginge, dass Alles ein übler Scherz sei. Vielleicht machten das alle Frischlinge durch, alle jungen und unschuldigen Schriftsteller, die zu den ganz Großen gehören wollen. Ja, wahrscheinlich handelte es sich um irgend so ein Ritual, eine Prüfung, die den Jungen zum Mann macht, wenn er cool bleibt und eisenstramme Nerven behält. Es war wohl der letzte Teil der großen Party, der Einweihungszeremonie, die gestern begann, als er seine Trinkfestigkeit bewiesen hatte, und später würde er rückblickend sagen, dass auch der jetzige, ungemütliche, beängstigende Teil einen Sinn mache. Der Schlüter würde gleich mit zwei Sixpacks Becks Bier antanzen, einem Vertrag in der Hand, der selbst einen aufstrebenden BWL Studenten ins Schwindeln brächte, und einen feierlichen Montblanc Füller aus seiner rechten Hosentasche ziehen, als Zeichen, dass das Horrorszenario beendet sei und die Zukunft, die Thomas am gestrigen Tage vorgeschwebt war, würde er offiziell und endgültig mit einer feinen Unterschrift verwirklichen. Ja, so werde es sein, alles Andere mache keinen Sinn. Er würde es dem Schlüter aber nicht so leicht machen, den sadistischen Scherz nicht einfach einstecken. Er würde ihm eine überzeugende Erklärung abverlangen, schließlich warteten seine Eltern zu Hause, wahrscheinlich äußerst besorgt und an zehn Fingernägeln kauend, denn er hatte sie angeschmiert, ihnen gesagt, er würde mit seinem Kumpel Jan nach Hamburg zum Einkaufen fahren, und nun hätten sie erfahren, dass Jan zu Hause geblieben ist oder seine Freundin besucht hatte, und überhaupt keine Ahnung von Thomas Aufenthalt hätte, und dann stelle sich den Eltern die beängstigende Frage, warum Thomas sie angelogen hatte und überhaupt, wo zum Teufel er denn stecke, ob ihm etwas passiert sei? Hoffentlich haben sie dann noch nicht die Polizei alarmiert.
Also, der Scherz war das Gegenteil von harmlos, sauübel eigentlich, ernst, mit verheerenden Konsequenzen, und der Schlüter müsste ihm eine verdammt gute Erklärung für diesen Mist geben, sonst hätte er (Schlüter) es verpatzt, er würde es noch bedauern, denn den Vertrag könne er sich dann abschminken oder sonstwo hinstecken, Thomas würde mit seinem Meisterwerk zu einem anderen Verlag gehen, Andere würden große Erfolge mit ihm feiern, wenn der Vollpfosten von Lektor ein Ausnahmetalent wie das Seine nicht angemessen zu behandeln wisse.
Thomas stöberte im Bücherregal, fand etwas von Thomas Mann darin, begann trotzig zu lesen und beruhigte sich. Einige Zeit verging. Thomas horchte auf. Ein Knarzen im Türschloss, die Klinke senkte sich, mit zwei dampfenden Tüten in der Hand trat der breitgrinsende Schlüter herein. „Hey Thomas, gut geschlafen? Entschuldige das Eingesperrtsein. Ich hoffe du magst chinesisches Essen genau so wie ich.“
Thomas verschlug es den Atem. Die Schreckensszenarien, die er sich für einen kurzen Moment ausgemalt und die er zu seiner Beruhigung unterdrückt hatte, traten in sein Bewusstsein zurück und schienen bestätigt zu werden. Der Schlüter schloss die Tür gleich nach Eintreten wieder ab, eine Knarre ragte aus seiner rechten Hosentasche hervor. Das Essen wurde nicht mehr angerührt. Schlüter machte den Zögling mit knallharten Tatsachen vertraut. Ein einziger, wie auswendig gelernter Monolog.
Demnach kannte niemand Thomas‘ Aufenthaltsort, keine einzige Spur führte in Schlüters Kellerzimmer. Genau so wenig wüsste man über Thomas‘ ersten Roman und seinen Genius Bescheid. Keine Verbindung zwischen Schlüter und Thomas sei auszumachen, obwohl Schlüter etwas über Thomas wisse, was er sein Leben lang als Geheimnis gehütet hatte.
Er, Schlüter, hätte schon immer danach getrachtet, ein großer Schriftsteller zu sein, nur leider mangele es ihm an Talent. Nun hätte er einen Ausweg gefunden. Wenn er schon kein Schriftsteller sein könne, so wolle er zumindest als einer gelten. Und irgendein Schiedsrichter, vielleicht ein Engel, Gott persönlich oder einfach nur der Zufall hätte sich mit ihm erbarmt, ihm das geeignete Werkzeug zur Schriftstellerexistenz direkt in die Hände gesandt. Oder besser, in sein Kellerloch, wie er lachend korrigierte.
Er habe schon alle Vorkehrungen getroffen. Das Zimmer so eingerichtet, dass Thomas sich wie zu Hause fühlen könne. Dass es kein Fenster gäbe, möge Thomas ihm Bitte verzeihen. Mit der freien und ungestörten Existenz als Schriftsteller, die Thomas sich so gewünscht hatte, könne er sofort beginnen. Er müsse gar nicht erst warten, bis er die Schule beendet habe, denn bei seinem Talent sei das Abitur überflüssig. Um ehrlich zu sein, gestand Schlüter, hätte Thomas vom gegenwärtigen Standpunkt aus gesehen keine Wahl, die Entscheidung hätte Schlüter ihm abgenommen. Das Abitur würde er nicht machen. Und um zur Sache zu kommen, weiter Schlüter, wolle er, Thomas, nicht elendig verrecken und alleingelassen verhungern, so müsse er täglich mehrere Seiten abliefern. In der obersten Schreibtischschublade befände sich genug Tinte. Und sollten die zukünftigen schriftlichen Erzeugnisse von Leopold Lewis, erm, Schlüter räusperte sich, von Michael Schlüter Qualitäten sein, so würde er (Schlüter) alles Erdenkliche tun, damit sich Thomas in diesem Loch verhältnismäßig wohl fühlen könne.
Er (Schlüter) brauche jetzt nur noch Thomas Einverständniserklärung und seine Bereitschaft, mit ihm, Schlüter, sozusagen zu einer Person zu verschmelzen. Die Welt werde Thomas‘ Talent schon anerkennen, versprach Schlüter. Thomas Texte müssten natürlich unter seinem (Schlüters) Namen veröffentlicht werden, nicht nur, weil Thomas draußen in der Welt bald schon als vermisst oder gar verstorben gelten werde, sondern eher, weil es in der Natur der Sache läge. Rein wissenschaftlich, also psychologisch betrachtet, sei Thomas jetzt so etwas wie Schlüters Unterbewusstsein. Vorausgesetzt, Thomas‘ Selbsterhaltungstrieb sei stärker als die, zugegeben, widrigen Umstände seiner neuen Existenz. Der neuen Existenz nach der zweiten Geburt, wie er selbst so schön gesagt hatte. Doch Thomas werde das schon schaffen, er sei ein taffer Bursche. Schlüter wolle Thomas nun etwas Bedenkzeit lassen, schließlich hätte er (Thomas) etwas zu verdauen, das trotz seines überragenden Intellekts einige Zeit in Anspruch nähme. Übrigens sei die Ente vom besten Chinesen der Stadt und hoffentlich hätte Thomas nichts dagegen einzuwenden, dass die Soße scharf sei. Schlüter würde am nächsten Morgen wieder vorbeikommen. Er hätte seine Arbeit gekündigt, und sei gerade dabei seinen ersten Roman zu veröffentlichen. Morgen sollte sich Thomas dann entschieden haben, Tod oder Leben.
Nach dem Vortrag verließ Schlüter gutgelaunt das Kellerzimmer. Thomas war mit seinem Talent und seinem Unglück allein gelassen. Ein Kellerzimmer. Von der Welt abgekapselt. Wie im Uterus. Sollte das seine zweite Geburt sein?
Thomas blieb nichts Anderes übrig, als sich dem Schicksal zu ergeben. Die Erde hat ihn geschluckt, er war von ihrer Oberfläche verschwunden. Herr Schlüter, der sich bisher unglücklich und vom Schicksal bestraft gefühlt hatte, konnte es durch sein Eingreifen wenden. Den Zufall, der Thomas zu ihm gebracht hatte, begriff er als Wiedergutmachung. Er hatte sich genommen, was sein Erschaffer bei der Zeugung vergessen hatte ihm zu geben. Sein Verbrechen erschien ihm logisch, er fühlte sich im Recht.
Er veröffentlichte den ersten Roman, ganz zur Überraschung seiner Arbeitskollegen und Bekannten, und wurde von da an als großer Literat gefeiert. Im Laufe der nächsten fünfzehn Jahre veröffentlichte er vier weitere Romane, zwei Dramen, zahlreiche Gedichte und diverse hochphilosophische und kulturkritische Essays. Er steuerte auf den Nobelpreis und einen sicheren Platz in der Literaturgeschichte zu. In herrlichen Weltsalons und überschlagenden Medienberichten wurde er als eines der letzten literarischen Genies gefeiert. Die Welt lag ihm zu Füßen.
Thomas konnte sich fünfzehn Jahre lang am Leben halten. Beim Schreiben erfreute er sich geistigen Ausflügen, die ihm seine Gefangenschaft vergessen ließen. Wenn er nicht gerade schrieb, sah sein Leben eher dürftig aus. Er schlief, schaute Fern und masturbierte, oder bildete sich an der umfassenden Büchersammlung weiter. Nur selten, und in der Dunkelheit der Nacht, ließ ihn Schlüter nach draußen. Dann sah er den Mond, spürte die kalte Luft, hörte das Hundegeheule, erblickte die groben Umrisse einer unbekannten Gestalt. Herr Schlüter drückte ihm dabei stets die Knarre in den Rücken. In freundlicherer Atmosphäre zeigte sich die Welt Thomas nicht mehr.
Nach fünfzehn Jahren hat er sich verausgabt. Er hatte über Alles geschrieben, was er kannte, was er von der Welt vor seiner Gefangenenschaft kennengelernt hatte, was in seinem Bewusstsein von ihr geblieben war. Schließlich hat er vergessen, was es heißt, zu leben. Keine einzige Zeile konnte er mehr schreiben.
Schlüter wusste welche Maßnahmen zu ergreifen waren, wenn dieser Zeitpunkt einträte. Thomas flehte um Gnade. Er hatte seinem Herrn außerordentliche Dienste geleistet, dafür hätte er sich verdient, in die Freiheit entlassen zu werden. Er versprach, was Schlüter ihm angetan und was er für Schlüter getan hatte, für sich zu behalten. Die Geschichte war zu krass um sie zu erzählen. Schließlich hat er nicht vor in der Klapsmühle zu landen. Doch Herr Schlüter kannte mit seinem erschöpften und verkommenen Talent keine Gnade. Die Knarre, die Thomas jahrelang begleitet hatte, bereitete ihm sein Ende.
Die Weltöffentlichkeit nahm von diesem finsteren Augenblick etwas wahr. Von dem Augenblick an hieß es, der geniale Michael Schlüter stecke in einer Schaffenskrise. Eine Schaffenskrise, von der er sich bis an sein Lebensende nicht erholt hatte. Nach seinem fünften Roman veröffentlichte er nichts mehr. Als Vorzeigeintelektueller konnte er trotzdem herhalten, und sein erster Roman hat für den Nobelpreis gereicht.