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Der Einzige
Sie stand in der Küche, die Augen weit geöffnet, der Blick erschrocken. Sie setzte sich und begann, den Brief noch einmal zu lesen. „Ich kann es nicht glauben“, dachte sie, während sie die Worte wieder und wieder anstarrte. Drei Jahre hatte sie auf diesen Brief gewartet. Drei lange Jahre. Und jetzt, ohne es zu erwarten, bekam sie dieses Lebenszeichen. Tom lebte noch. Und er hatte sich an sie erinnert.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sollte sie lächeln und sich freuen, weil er geschrieben hatte? Sollte sie wütend sein, weil er ihr bis jetzt nichts von seinem Leben erzählt hatte und sie ihn schon für tot erklärt hatte? Oder sollte sie traurig sein, weil jetzt all die Erinnerungen wiederkamen? Die wunderschönen und doch so schmerzvollen Erinnerungen ...
Ob sie wollte oder nicht, sie wurde traurig. Ihre Gedanken spielten verrückt, und sie sah Tom und sich auf einer Bank mitten im Central Park. Es war Herbst, die Blätter fielen von den Bäumen und es war kalt, aber nichts von all dem schien eine Bedeutung zu haben, denn Tom war bei ihr. Er saß neben ihr, hielt ihre Hand und flüsterte leise „Ich liebe dich.“ Alles schien so perfekt. Dass ein Schein trügen kann, interessierte sie nicht. Sie war naiv, und vielleicht auch blind vor Liebe.
Tom war der perfekte Mann für sie, und sie tat alles, damit es so blieb. Sie war sich sicher, es würde beiden gut tun, wenn sie jeden Tag bei ihm war, wenn sie ihn jedes Mal anrief, wenn sie sich nicht sehen konnten, wenn sie ihm so oft es ging sagte, dass sie ihn liebte, wenn sie jedem auf der Welt zeigte, dass er ihr gehörte. Er war der Einzige für sie.
Und dann, auf einmal, war er nicht mehr da. Sie konnte ihn nicht zu Hause finden, er war nicht erreichbar, und niemand konnte ihr sagen, wohin er verschwunden war.
Ein Jahr lang konnte sie nicht schlafen, essen, trinken, Musik hören oder weinen, ohne an Tom und die wunderschöne Zeit, die sie hatten, zu denken. Und sie konnte nichts tun, ohne sich zu fragen, warum zur Hölle Tom gegangen war. Einfach so, ohne jemandem etwas zu sagen. Sie ging nicht aus, machte nichts mit ihren Freunden und erschien auf keiner Party mehr, denn nichts gab ihrem Leben einen Sinn.
Und dann, ganz plötzlich, sah sie, dass es das nicht wert war. Tom würde nicht wiederkommen. Er hatte sie verlassen, und sie wusste nicht warum. Wenn er sie wirklich geliebt hätte, dann hätte er ihr etwas gesagt. Und das war nie passiert. Sie wusste, dass all die kostbare Zeit, die sie damit verbracht hatte, an Tom zu denken und wegen ihm zu weinen, es einfach nicht wert war. Sie begann, ihr Leben neu zu ordnen. Ein Leben ohne Tom.
Und jetzt musste sie kein Lächeln mehr vorspielen und auch keine heile Welt vortäuschen, denn sie fühlte sich wieder lebendig. Sie hatte es geschafft. Sie lebte ein glückliches Leben. Ohne Tom.
Und nun, in dieser guten Zeit, bekam sie diesen Brief. Ein Brief von Tom. Es war nur eine Zeile, unordentlich geschrieben.
Liebe Maria, ich bin wieder in der Stadt. Ich habe dich vermisst.
Tom
Eine Träne rollte ihr über die Wange. „Ich habe dich auch vermisst“, flüsterte sie.