Der Eisvogel
Er blickte in das fließende Grau des Flusses tief unter ihm.
Alles war schief gegangen in den letzten Jahren und er empfand sein Leben als sinnlos.
Bis heute, sechs Jahre nach seiner Scheidung hatte er noch immer nicht begriffen Warum.
Und dieses Warum zermarterte ihm nun schon seit sechs Jahre den Kopf und lies ihn nicht zur Ruhe kommen..
Dass er nach vielen zermürbenden Anwaltsbesuchen und Gerichtsverhandlungen sowohl den Unterhaltsprozess als auch den Sorgerechtsprozess verlieren würde, hatten ihm seine Anwälte immer vorausgesagt.
Dass seine Exehefrau aber dann mit ihrem neuen Partner nach New York ziehen würde und er seine kleine Tochter nicht mehr sehen konnte, dass hatten diese Anwälte auch nicht gewusst.
Seine Tochter nicht mehr sehen zu dürfen war das Schlimmste an seiner Situation.
Als er vor vier Jahren seine Arbeit verlor, mit vierundvierzig Jahren, war er sich sicher, er würde sofort einen neuen Job finden, wenn er sich nur intensiv darum bemühte.
Wie naiv war er damals doch gewesen, erinnerte er sich bitter.
Der Verlust seiner Arbeit ging einher mit einer immer größer werdenden Einsamkeit.
Im letzten Jahr hatte er bemerkt, dass er immer öfters mit sich selbst redete. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er über ein solches Verhalten gelächelt, hätte Selbstgespräche alten Käuzen und Eigenbrötlern zugeordnet.
Wie schnell sich alles ändern kann!
Das fliesende Grau unter ihm war heller geworden.
Er war so in seine Gedankenwelt vertieft gewesen, dass er nicht einmal bemerkt hatte, wie die Sonne hinter dem Berg im Osten aufgegangen war.
Die ersten Strahlen eines neuen Tages streiften mit warmer Helligkeit über die Bäume am Ufer des Flusses.
Die Sonne bemalte den Morgen mit leuchtenden Farben, ließ das Grau der Nacht verschwinden.
Wie schnell sich alles ändern kann!
Unter ihm flog ein Vogel, schön wie ein Diamant, am Ufer entlang.
Es war ein Eisvogel, erkannte er.
Eisvögel waren seine Lieblingsvögel.
Wie lange schon hatte er keinen Eisvogel mehr gesehen.
Die gab es doch vor ein paar Jahren hier noch gar nicht, erinnerte er sich.
Wie schnell sich alles ändern kann!
Er klammerte sich fester an die Brüstung des Geländers.
Etwas in ihm hatte sich verändert.
Der Fluss unter ihm strömte nun in einem erfrischenden Blau zwischen einem Spalier aus mächtigen alten Bäumen dahin.
Warum habe ich diese Schönheit um mich herum nicht gesehen, fragte er sich.
Wieder sah er den Eisvogel, dessen glänzende Farben in der Sonne schillerten.
Wie schön er doch war.
Man sollte diese Vögel schützen, man sollte die Bäume am Fluss schützen, man sollte, ich sollte!
Ja ich sollte etwas tun.
Er kletterte über die Brüstung und zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte er.
Kopfschüttelnd und voller Pläne ging er nach Hause.
Wie schnell sich alles ändern kann!