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Der Elternwinkel
Das Esszimmer wie aus dem Frühjahrskatalog, der aufgeschlagen auf dem Tisch liegt. Ein Tisch drückt sich englisch massiv in alte Dielen; sie verlaufen sonnenerhellt zur gläsernen Schiebetür, die nur Sommerlicht hindurch lässt, nur positive Menschen, nur freundliche Energien, nur gute Stimmungen.
Mit dem blühenden und gedeihenden Garten verschmilzt die Einrichtung, die sich, wie ein Chamäleon der Umgebung, dem Jahreszeitencharakter anzupassen scheint.
Als ob man keine Barriere zwischen draußen und drinnen durchschreiten würde, so gleich riecht es im Garten wie auch im Zimmer nach Lavendel, Vögelgezwitscher hört man auch und nirgens ist man vor Wespenstichen sicher.
Den Besuchern wird gerne das geräumige Wohnzimmer gezeigt, das saubere Bad, die ästhetische Diele, auch ein Blick ins gemütliche Schlafzimmer ist erlaubt.
Ja: Hier fühlt man sich wie Gott in Frankreich.
Manchmal und an schlechten Tagen erwacht im Dachstuhl ein Wesen hinter zugezogenen Vorhängen, kriecht unter seiner muffigen Decke hervor, zischt nur kurz in die Abenddämmerung hinein, und huscht durch den geschmackvoll gestalteten Flur, über die abendlich erblassenden Holzdielen auf einen der gut gepolsterten Stühle an dem englisch massiven Tisch, und klappt den Frühjahrskatalog zu, während sich der Garten allmählich schlafen legt.
Er will es nicht zerstören, diesen Konstrukt penibler Liebe.
Schon ein Wort, ein falsches Atmen könnte alles zum Einstürzen bringen. Und das darf nicht passieren, nicht jetzt. Nicht jetzt, da sie sich gerade wieder schätzen gelernt haben, miteinander leben und kommunizieren, in des Gegenübers Augen ohne Bisse der Vergangenheit schauen können.
Er drückt sie aus sich heraus, die Alltags- und Höflichkeitsfloskeln, das Danke und ja und Amen und er zerschneidet elegant sein zartes Fleisch, die Kartoffeln, den Salat und die Blicke, die auf ihn einprasselnden Worte, die schon im Klang Vorwürfe enthalten.
Innerlich zittert er. Wie gerne würde er den Teller durch die gläserne Schiebetür pfeffern, oder nur das Glas neben den Untersetzer abstellen.
Sein Vater sitzt ihm gegenüber, dieser Malocher, dieser schuftende Eigenheimbesitzer, der sich alles mit eigenen Händen aufgebaut hat, nichts hatte und jetzt auch noch immer viel zu wenig hat, nicht mehr als ein wenig Glück, krampfhaft in vier Wände eingemauert, vor der bösen Außenwelt, regiert vom Teufel, durch Beton behütet, und schaufelt sich sein Essen ins Maul wie noch vor Stunden den Sand in den Betonmischer.
Seine Blicke pendeln mechanisch zwischen Messer und Gabel und seinem Sohn, für den er sich schämt und für den er die Worte wohl überlegt schneidet wie die Kartoffeln.
Mutter ist immer etwas traurig. Zusammen mit ihrem Mann bildet sie einen Winkel, der gut gemeinte Worte zurückschmeißt, einen geballter Hall garantiert.
Er wird auch der Elternwinkel genannt.
Eine zerteilte, aufgespießte und dampfende Kartoffel zirkuliert im Winkel, findet gelegentlich den Weg unter die Nase des Sohnes, welcher nicht in diesen Raum passt, nicht im Katalog zu sehen ist, nicht einmal eine biologische Verbindung zu seinen Eltern zu haben scheint.
Der Sohn zweier Engel gehört dem Teufel, das steht fest. Du kannst wohlhabend geboren werden, oder hungernd, in Asien oder in Afrika, aber nicht als Engel.
Für Eltern