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Der Elternwinkel

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22.11.2005
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Der Elternwinkel

Das Esszimmer wie aus dem Frühjahrskatalog, der aufgeschlagen auf dem Tisch liegt. Ein Tisch drückt sich englisch massiv in alte Dielen; sie verlaufen sonnenerhellt zur gläsernen Schiebetür, die nur Sommerlicht hindurch lässt, nur positive Menschen, nur freundliche Energien, nur gute Stimmungen.
Mit dem blühenden und gedeihenden Garten verschmilzt die Einrichtung, die sich, wie ein Chamäleon der Umgebung, dem Jahreszeitencharakter anzupassen scheint.
Als ob man keine Barriere zwischen draußen und drinnen durchschreiten würde, so gleich riecht es im Garten wie auch im Zimmer nach Lavendel, Vögelgezwitscher hört man auch und nirgens ist man vor Wespenstichen sicher.

Den Besuchern wird gerne das geräumige Wohnzimmer gezeigt, das saubere Bad, die ästhetische Diele, auch ein Blick ins gemütliche Schlafzimmer ist erlaubt.

Ja: Hier fühlt man sich wie Gott in Frankreich.


Manchmal und an schlechten Tagen erwacht im Dachstuhl ein Wesen hinter zugezogenen Vorhängen, kriecht unter seiner muffigen Decke hervor, zischt nur kurz in die Abenddämmerung hinein, und huscht durch den geschmackvoll gestalteten Flur, über die abendlich erblassenden Holzdielen auf einen der gut gepolsterten Stühle an dem englisch massiven Tisch, und klappt den Frühjahrskatalog zu, während sich der Garten allmählich schlafen legt.

Er will es nicht zerstören, diesen Konstrukt penibler Liebe.

Schon ein Wort, ein falsches Atmen könnte alles zum Einstürzen bringen. Und das darf nicht passieren, nicht jetzt. Nicht jetzt, da sie sich gerade wieder schätzen gelernt haben, miteinander leben und kommunizieren, in des Gegenübers Augen ohne Bisse der Vergangenheit schauen können.

Er drückt sie aus sich heraus, die Alltags- und Höflichkeitsfloskeln, das Danke und ja und Amen und er zerschneidet elegant sein zartes Fleisch, die Kartoffeln, den Salat und die Blicke, die auf ihn einprasselnden Worte, die schon im Klang Vorwürfe enthalten.

Innerlich zittert er. Wie gerne würde er den Teller durch die gläserne Schiebetür pfeffern, oder nur das Glas neben den Untersetzer abstellen.

Sein Vater sitzt ihm gegenüber, dieser Malocher, dieser schuftende Eigenheimbesitzer, der sich alles mit eigenen Händen aufgebaut hat, nichts hatte und jetzt auch noch immer viel zu wenig hat, nicht mehr als ein wenig Glück, krampfhaft in vier Wände eingemauert, vor der bösen Außenwelt, regiert vom Teufel, durch Beton behütet, und schaufelt sich sein Essen ins Maul wie noch vor Stunden den Sand in den Betonmischer.
Seine Blicke pendeln mechanisch zwischen Messer und Gabel und seinem Sohn, für den er sich schämt und für den er die Worte wohl überlegt schneidet wie die Kartoffeln.

Mutter ist immer etwas traurig. Zusammen mit ihrem Mann bildet sie einen Winkel, der gut gemeinte Worte zurückschmeißt, einen geballter Hall garantiert.
Er wird auch der Elternwinkel genannt.

Eine zerteilte, aufgespießte und dampfende Kartoffel zirkuliert im Winkel, findet gelegentlich den Weg unter die Nase des Sohnes, welcher nicht in diesen Raum passt, nicht im Katalog zu sehen ist, nicht einmal eine biologische Verbindung zu seinen Eltern zu haben scheint.

Der Sohn zweier Engel gehört dem Teufel, das steht fest. Du kannst wohlhabend geboren werden, oder hungernd, in Asien oder in Afrika, aber nicht als Engel.


Für Eltern

 

Hallo Naut

Freut mich, dass es dir sehr gefallen hat. Als ich mit Schreiben fertig war, habe ich mir auch gedacht: Scheiße, schon wieder Kafka. Du solltest mal aufhören, so viel von diesem Typen zu lesen. Aber ich mag diese Art und sicherlich hatte kafka ja auch so seine Probleme mit seinem alten Herren.

Es ist verplüffent, wie du so exakt meine Text interpretieren kannst; sie kommen bei dir immer auf gerade Linie an, wie mir scheint.
Deine Ausführungen: Genau so, genau so!

Das welcher ist aus dem vielen Umschreiben entstanden, als ich Wortdopplungen mit der die das vermeiden wollte. Aber jetzt kann es wieder umgeschrieben werden. Danke.

besten Gruß

 

Gar nicht mal so übel.Aber nur ein kurzes Blitzlicht.
Oder eine kurze Kamerafahrt zwischen drei Klischeewelten hin-und herzappend.
Erinnerte mich irgendwie an eines dieser Videos, die gerne mit knappen Schnitten arbeiten...
Nichts was bleibt, zum dran erinnern eben. Aber wie gesagt, nicht mal so übel...m.E. handwerklich ganz in Ordnung.

Lord

 
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Hallo Aris,

du bis ein klassisches Thema mutig und unbedarft angegangen und hast eine interessante Metapher für eine mögliche Elternkonstellation gefunden, die dann auch zum Titel deiner Geschichte wurde. Es sind natürlich noch einige andere Möglichkeiten denkbar, wie Eltern auf ein Kind wirken können, der Winkel, der ja auch etwas Behütendes darstellen könnte, ist sicher nicht die schlechteste Möglichkeit. Für dein Geschichtenkonzept aber hast du den Winkel als negative und einschränkende Form beschrieben - es ist dir soweit gelungen - ich konnte deinen Ausführungen gut folgen.

Das Lesen deiner Geschichten ist immer eine Entdeckungsreise, weil du halt im positiven (und auch negativen) Sinne anders schreibst, anders zu schreiben versuchst. Auf der Suche nach der eigenen schriftstellerischen Identität ist das sicher nützlich und wertvoll, man könnte dich eigentlich jetzt schon relativ sicher aufgrund deines Stils aus einer Fülle von Geschichten herausfinden.

Wenn ich jetzt textliche Anmerkungen mache, dann sind diese auf meine Sichtweise des Schreibens zurückzuführen, klar. Aber das muss ich ja eigentlich nicht mehr betonen. Insgesamt hat mir die Geschichte und das, was sie auf ihre eigenwillige Art thematisiert, gut gefallen, das schon einmal vorweg. Ich bin aber der Meinung, dass du hier und da noch optimieren könntest. Dabei gehe ich bei meinen Vorschlägen natürlich extrem kleinkariert vor, sorry.

Der erste Absatz ist gut, könnte aber meiner Ansicht nach durch ein paar Umstellung und etwas Feinjustierung noch besser werden. Ich liefere dir mal meine Version.

Das Esszimmer wirkt wie aus dem Frühjahrskatalog, der aufgeschlagen auf dem Tisch liegt. Ein Tisch drückt sich englisch massiv in alte Dielen; sie verlaufen sonnenerhellt zur gläsernen Schiebetür, die außer Licht nur positive Menschen, freundliche Energien und gute Stimmungen durchlässt.
Die Einrichtung, die sich, wie ein Chamäleon der Umgebung und dem Jahreszeitencharakter anzupassen scheint, verschmilzt mit dem blühenden Garten.
Im Garten wie auch im Zimmer riecht es nach Lavendel, als würde es keine Grenze zwischen drinnen und draußen geben. Vogelgezwitscher ist überall zu hören, und nirgendwo ist man vor Wespenstichen sicher.

Du schreibst im weiteren Verlauf relativ dicht hintereinander einmal von einer ästhetischen Diele und einmal von einem ästhetischen Flur. Abgesehen davon, dass man das eine "ästhetisch" z. B. durch "geschmackvoll" ersetzen könnte, besteht ein großer Unterschied zwischen einer Diele und einem Flur. Wenn die Wohnung sowohl das eine als auch das andere hat, ist es okay, wenn du aber mit Flur und Diele dasselbe meinst, wäre es in meinen Augen falsch.


Zitat: Manchmal und an schlechten Tagen erwacht im Dachstuhl ein Wesen hinter zugezogenen Vorhängen

Zitat: Er will es nicht zerstören, diesen Konstrukt penibler Liebe

Er, das Wesen? Da hast du dich selbst in eine Falle geschrieben.

Zitat: "...in des Gegenübers Augen ohne Bisse der Vergangenheit schauen können"

Liest sich irgendwie komisch. Bisse der Vergangenheit... Ließe sich da nichts Besseres finden? Zumal die gerade beim Essen sind, da zündet diese Metapher eh nicht so richtig. Und Bisse im Auge?

Zitat: Sein Vater sitzt ihm gegenüber, dieser Malocher, dieser schuftende Eigenheimbesitzer, der sich alles mit eigenen Händen aufgebaut hat, nichts hatte und jetzt auch noch immer viel zu wenig hat, nicht mehr als ein wenig Glück, krampfhaft in vier Wände eingemauert, vor der bösen Außenwelt, regiert vom Teufel, durch Beton behütet, und schaufelt sich sein Essen ins Maul wie noch vor Stunden den Sand in den Betonmischer.

An für sich ein kraftvoller und mutiger Satz. Wenn du schreibst, dass der Vater "nichts hatte und jetzt auch immer noch zu wenig hat", dann verstehe ich das so, dass darin aus der Sicht des Sohnes ein Vorwurf liegen soll. Den könntest du verdeutlichen, wenn du schreiben würdest:

Sein Vater sitzt ihm gegenüber, dieser Malocher, dieser schuftende Eigenheimbesitzer, der sich alles mit eigenen Händen aufgebaut hat, nichts hatte und jetzt auch noch immer viel zu wenig zu haben glaubt

oder "nichts hatte und meint, noch immer nicht genug zu haben..."

Zitat: Seine Blicke pendeln wie (kann das nicht weg?) mechanisch zwischen Messer und Gabel und seinem Sohn, für den er sich schämt und für den er die Worte wohl überlegt schneidet wie die Kartoffeln, letzte Woche ausgemacht, das schon wieder zu lasche Fleisch und den Salat.[/I]

Den Schlussteil des Satzes verstehe ich irgendwie nicht.

Nun denn, das sind ein paar kleine Punkte, die ich (wie vor hundert Jahren versprochen) noch einmal anmerken wollte.

Du wirst die richtigen Entscheidungen treffen.

Wie gesagt, die Geschichte kommt gut rüber und den Ansatz hast du sehr klug gewählt.

Grüße von Rick

 

Hallo Lord

Du scheinst begeistert aber nicht aus den Socken gehauen. Aber das ist ja schon mal was. Danke für deine Meinung, die ich mit dir teile.

Hi Rick

Das hast du also die letzten 10 Dekaden getrieben. Hab mich schon gefragt, wo du bist.
Vielen vielen Dank für diese aufwendige Kritik und die vielen netten Worte. Das tut gut!

man könnte dich eigentlich jetzt schon relativ sicher aufgrund deines Stils aus einer Fülle von Geschichten herausfinden.
Das ist ein Kompliment was mir sehr viel bedeutet. Ich denke oft drüber nach, hier einmal incognito zu posten. Um zu sehen, ob ihr mich enttarnen könntet.

In 100 Jahren, wenn es die große Internetsäuberung gibt, wird man sagen "Schau an, ich habe hier, in den abgelegensten Datenbanken wieder einen gefunden: Einen original Rosentrehter! Hier sogar mit Pinselstrich seines kongenialen Partners rick. Unbezahlbar!

:D
:D

Denn alle deine Tipps und Hinweise sind fundiert, richtig und werden umgesetzt. (Morgen)

Ich kann mich nur nochmals bedanken!

besten Gruß

 

HI!

Mir gefällt deine Kg gut, besonders weil du eine bestehende Grundsituation aus verschiedenen Blickwinkeln beschreibst. Und du beschreibst wirklich gut, lässt sich gt lesen, wirkt aber auch nciht aufgesetzt, sondern echt.
Alles in allem ein gelungener Text, ist ja mehr eine Beschreibung. Die Situation ist nachvollziehbar und realistisch. Kompliment.

MFG Steeerie

 

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