Der etwas andere, aber garantiert ultimative Leitfaden zu spannenden Geschichten …
Die meisten Schreibratgeber verleiten dazu, langweilige Texte zu schreiben.
Eine provokante Behauptung, oder? Diese Eröffnung lässt einiges erwarten! Und damit bin ich bereits beim Thema.
Ein interessanter Einstieg bewirkt etwas in uns, ob wir wollen oder nicht. Er hebt das Reizniveau im Hirn und plötzlich wird etwas erwartet. Simpel gesagt: Es entsteht Vorfreude.
Wer meint, Vorfreude habe keine Bedeutung, sie sei zu ignorieren, der braucht ab hier nicht weiterlesen. Der sollte seine Zeit anders nutzen und auch in Zukunft seine Leser ins Koma texten.
Worauf freuen wir uns nach einem packenden Einstieg? Auf eine gute Geschichte? Das jedenfalls wollen uns Schreibratgeber weismachen. Ich provoziere weiter und sage: Nein, darauf freuen wir uns ganz gewiss nicht.
Zu dem, worauf wir uns wirklich freuen, komme ich im nächsten Abschnitt.
Eine spannende Geschichte lesen ist wie ...
Viele Schreibratgeber sind wie Kochbücher. Sie bieten Rezepte, verraten aber nicht, warum wir ohne zu überlegen ein schmackhaftes Gericht dem Einheitsbrei vorziehen. Ohne diese tiefer gehende Einsicht sagen sich viele angehende Autoren: warum besonderes Augenmerk auf den ersten Satz? Hauptsache, er steht da. Wozu eine Prämisse, einen roten Faden und warum nicht abschweifen? Alles ist doch irgendwie unterhaltsam. Ich schreibe, also wird es gelesen!
Nein, wird es nicht!
Finden sich zu wenige Reize in der Geschichte, dann zeigt unser Organismus ein lesefeindliches Verhalten. Er sucht nach neuen Reizen in der Umwelt, um der Eintönigkeit zu entkommen. Im Idealfall schaltete er in den Schlafmodus und wir wachen irgendwann munter und erfrischt genug auf, um den Text zum Altpapiercontainer zu tragen.
Dagegen ist eine spannende Geschichte lesen wie Sex haben. Wer in diesem Fall mit wem Sex hat, dürfte klar sein: Bei dem Pärchen handelt es sich um Autor und Leser, wobei der Autor für das Gelingen verantwortlich ist.
Nachdem der Autor mittels provokanter Eröffnung Vorfreude beim Leser erzeugt hat, das heißt: Sein Hirn erwartet und freut sich auf Entspannung nach Anspannung, ist es zum Ziel noch ein ganzes Stück Weg.
Wie hält man den Leser am lustvollen Keuchen?
Laut Kochbuch gelingt das, wenn der Autor beim Motiv bleibt und den roten Faden nicht aus den Augen verliert. Nix ist schlimmer, als wenn jemand mitten im Akt zu seinem Partner sagt: „Du, ich geh jetzt erst mal Blumen gießen. Schlaf bitte derweil nicht ein.“
Was mich zu einem kurzen aber interessanten Einschub animiert:
Figurencharakter und Spannungsbogen oder:
warum es scheißegal ist, ob ein Detektiv kochen kann.
Es gibt Schreibgurus, die bejubeln frenetisch den harten, prügelnden und kompromisslosen Privatdetektiv, der, um der Figur Tiefe zu verleihen, nebenbei als virtuoser Hobbykoch präsentiert wird.
Das ist gequirlte Scheiße oder salonfähiger gesagt: Informationsmüll. Es sei denn, der Detektiv ermittelt gegen chinesische Porree Fälscher.
Damit will ich sagen: Auch private Marotten der Figuren sollten sich mit dem Hauptgeschehen (irgendwann) verknüpfen. Entweder zum Vor- oder zum Nachteil der handelnden Figur.
Warum Spannungsbogen,
und wenn ja, wie viele und was bewirken die überhaupt?
Der ideale Autor erzählt also nicht zwischendurch vom Blumengießen, sondern er bedient sich zweier Arten von Spannungsbögen.
Der erste ist der „orbitale“ Spannungsbogen. Er entsteht aus einem Konflikt zweier Figuren oder Parteien und lässt diese als Stellvertreter gegensätzlicher Wertesysteme antreten. Zum Beispiel: Gut gegen Böse, Macht wider Ohnmacht, Kunst kontra Profit, Mensch versus Natur.
Dieser Konflikt sorgt von Anfang an für die Grundspannung und wird erst gegen Ende der Geschichte gelöst.
Der orbitale Spannungsbogen sorgt auf dem Weg vom Anfang bis zum Ende der Geschichte für lustvolles Keuchen des Lesers.
Der oder die „lokalen“ Spannungsbögen animieren den Leser zwischendurch zu kurzen, lustvollen Schreien. Die lokalen Spannungsbögen können methodisch im Text untergebracht werden. Sie ergeben sich nicht aus dem Kampf der Wertesysteme, sondern aus dem Handlungsablauf.
Sie haben daher nicht die Kraft, eine ganze Geschichte zu tragen, zumindest keine gute Geschichte. Das vermag nur ein orbitaler Spannungsbogen zu leisten.
Der Hauptteil einer Spannungsgeschichte oder:
Das ist ja ein reizendes Chaos!
Man benutzt also zwei unterschiedliche Spannungsbögen und schreibt konsequent dem Wendepunkt entgegen.
Aber zunächst wirklich nur dem Wendepunkt „entgegen“ und nicht darüber hinaus!
Der Wendepunkt, wobei „Punkt“ nicht wörtlich zu nehmen ist, ist die Wende in einer Spannungsgeschichte. Schreibratgeber verorten dort gern die Lösungsansätze aller Konflikte.
Der Detektiv hat einen entscheidenden Hinweis erhalten oder ist durch einen Gedankenblitz zu einer Erkenntnis gelangt.
Das erinnert wieder an Kochrezepte und vermittelt kein Verständnis zur Notwendigkeit eines Wendepunktes und noch weniger verdeutlicht es, was genau genommen sich dort wendet. Dazu komme ich jetzt und im nächsten Abschnitt.
Der Hauptteil des Textes versorgt den Leser mit immer mehr Informationen. Zum einen über die Art und die Feinheiten der Konflikte, zum anderen über die Charaktereigenschaften der Figuren und ihre mehr oder eher weniger hilfreichen Handlungen zur Beseitigung von Schwierigkeiten.
Regionale Spannungsbögen sorgen für Rückschläge oder Richtungsänderungen, kurz: Chaos!
Der Autor darf und soll in dieser Phase für Chaos sorgen, am besten einem Chaos, welches in seiner Qualität das Chaos des gewöhnlichen Alltags (des Lesers) übersteigt.
Dadurch wird die Konzentration des Lesers auf die Geschichte überdurchschnittlich gesteigert, da er automatisch versucht, Ordnung im Informationsfluss zu schaffen. Der Leser kann daher aus seinem Alltag flüchten, was für viele der Anlass zum Lesen ist.
Der Hauptteil einer Spannungsgeschichte ist also die Zone, wo laut Kochbuch der Detektiv Fakten zum Verbrechen sammelt, nach einem Muster sucht und mehrere Personen als Verdächtige in Frage kommen usw.
Jetzt hätte ich beinahe das Hirn des Lesers vergessen. Sein Hirn ist nun aufs Äußerste gereizt. Es stöhnt und ächzt unter der Komplexität der Geschichte, es verbraucht Energie in hohem Maße, es leistet verdammt viel Arbeit, um zu verstehen, was in der fiktiven Welt geschieht. Dennoch ruft es nicht dem Leser zu: „aufhören, ich will nicht mehr!“ Nein, denn wenn es das täte, und nun sind wir wieder beim Sex, wäre die Menschheit längst ausgestorben.
Nein, das Hirn will nicht aufhören, bevor … aber dazu mehr im nächsten Abschnitt.
Die Umkehrung der Entropie oder:
Wie man das Hirn des Lesers befriedigt
Im Hauptteil haben wir stetig zunehmendes Chaos. Es gibt Autoren, die entlassen ihre Leser ins Chaos. Es gibt allerdings wenige Leser, denen es gefällt, nach der Lektüre Stunden, Tage, Wochen über den Text zu sinnieren, dann zu googeln, Fachbücher zu wälzen, um am Ende doch die Oma anzurufen, die ja bekanntlich immer Rat weiß und wahrscheinlich sagt: „Lies halt was Anständiges!“
Für den Großteil der Lesergruppe käme ein solches Ende einem Koitus Interruptus gleich, oder wie der moderne Lateiner sagt: einem verdammt unbefriedigenden Ende.
Das bisher schwer durchschaubare Geschehen und die offene Entwicklung der Geschichte sollten jetzt, nach dem Wendepunkt, schrittweise (sofern man keine Pointengeschichte oder einen Ratekrimi schreibt) entschlüsselt und in eine erkennbare Richtung geführt werden.
Das Chaos lichtet sich, die Komplexität reduziert sich, der Leser beginnt die fiktive Welt zu verstehen. Und das Hirn? Zu der Frage komme ich später. Zunächst möchte ich wieder zum Hauptthema zurück, zum Spannungsbogen.
Zur Erinnerung: Ich hatte zwei unterschiedliche Spannungsbögen erwähnt und jetzt, nach dem Wendepunkt, konzentriere ich mich ausschließlich auf den so wichtigen orbitalen Spannungsbogen.
Der sorgt auch während der Entropieverminderung für Spannung. Zwar wird der Erfolg des Ermittlers sichtbar, aber man weiß noch nicht, ob der Täter tatsächlich seine Strafe bekommt. Man weiß noch nicht, ob das Gute, nach allen Wirren und Hindernissen, sprich: lokalen Spannungsbögen, über das Böse siegen wird.
Dazu muss in der Geschichte erst eine poetische Gerechtigkeit hervorgebracht werden. Erst mit dem Zustandekommen einer poetischen Gerechtigkeit ist jegliche Spannung aus dem Text und die Geschichte zu Ende.
Erst jetzt ist der Leser zufrieden mit der Spannungsgeschichte.
Bleibt noch die scheinbar dumme Frage: warum?
Mach es noch einmal, Schatz!
Warum ist es dem Leser nicht egal, wie und an welchem Punkt eine Geschichte endet? Es ist doch alles bloße Fiktion!
Nun, inzwischen dürfte eines klar geworden sein: Das Hirn liest mit!
Womit hier nicht der Verstand gemeint war und ist, sondern ein paar Bereiche einer Region namens Amygdala und wahrscheinlich auch irgendein Teil dessen, was umgangsprachlich Reptiliengehirn genannt wird. Womit sich die Zahl unserer potentiellen Leserschaft erfreulicherweise verdreifacht. Aber Scherz beiseite und gedanklich zurück zum ersten Abschnitt.
Dort ging es um den ersten Satz, um den packenden oder provozierenden Einstieg.
Das auf diese Weise gereizte, man kann auch sagen, das angespannte Hirn macht (ohne das wir es daran hindern können – Amygdala!) einen Zeitsprung in die Zukunft und freut sich auf Entspannung nach Anspannung. Und weil das so trocken und wenig aufregend klingt, sage ich lieber: Das Hirn freut sich auf einen ansehnlichen Orgasmus!
Nun, wer schon mal einen Orgasmus hatte weiß, was danach kommt: der Wunsch nach einem weiteren. Warum das so ist, braucht uns nicht zu interessieren. Wichtig ist nur, dass der Leser nach der Lektüre denkt: Hey, von dem Typ will ich noch mehr lesen!
Damit hat der Autor sein Ziel erreicht.