Der Exhibitionist
Der Exhibitionist
Mitten in der Nacht saß doch glatt ein Mann mittleren Alters und mit vollem Rauschebart völlig unbekleidet im Bushäuschen auf dem Busbahnhof. Er hatte sein Ding zwischen die Beine geklemmt und starrte stur geradeaus. Sein Blick war leer. Es war kalt, es war ja immerhin erst Anfang März – und der Typ saß einfach so nackt da und betrieb freiwillig oder unfreiwillig Exhibitionismus.
Er saß die ganze Nacht über da und gegen morgen erwachte die Bushaltestelle allmählich zum Leben; Schüler versammelten sich, die Aktenkoffermenschen strömten aus den U-Bahn-Schächten, die alten Damen nahmen den Bus, um in die Stadt zum Einkaufen zu fahren, die ersten Schulbusse starteten, die Autos auf den Straßen wurden immer zahlreicher – und der nackte Mann saß immer noch dort, wo er die ganze, kalte Nacht über gesessen hatte. Da waren keine Kleider weit und breit. Der Kerl mußte ohne sie auf die Straße gegangen sein.
Das aber war für die Leute nicht von Bedeutung; sie sahen nur kurz hin – dann sofort wieder weg, weil sich etwas anderes nicht gehörte. Eine alte Frau näherte sich dem nackten Mann bedrohlich; das heißt, sie ging an seiner Bank im Bushäuschen vorbei und warf ihm - stolz, wie sie war - ein „Sie sollten sich was schämen!“ an den Kopf. Die Kinder, etwas abseits auf den Straßen, kicherten hinter vorgehaltenen Händen und dachten sich schon erste Mutproben aus, die den nackten Kerl prompt mit einschlossen.
Gegen Nachmittag kam dann endlich die Polizei. Der Busfahrer des Busses, der den halben Tag lang immer wieder an der Haltestellen, an der der nackte Mann saß, halten mußte und deshalb kaum noch Fahrgäste zum Herumkutschieren hatte, rief sie schließlich an. Er hätte auch versucht, mit dem Kerl zu reden, aber das sei einer von der ganz harten Sorte, behauptete er. In Wirklichkeit warf er während des Telefonierens immer wieder ängstliche Blicke auf den Exhibitionisten, der sich noch immer nicht von der Stelle rührte.
Wie auch immer; die Polizei kam. Der nackte Mann war nicht aufgestanden und davon gerannt, als sie sich ihm näherten. Er schien wie in Trance zu sein – nur in Trance wäre okay gewesen, aber das auch noch nackt?
„Freundchen, na hören se mal, se kennen hier ned so durch die Gegend loofen, ne, des gehört sich eufach ned!“ schimpfte ein altes, stolzes Weib, als es zügig an der Haltestelle vorbei ging (natürlich erst, nachdem es die Polizei herannahen gesehen hatte).
Trauben von Menschen bildeten sich innerhalb von wenigen Sekunden, wenigen Minuten, viele angelockt durch das Polizeiauto auf dem Busbahnhof. Sie nahmen sich alle die Zeit, zu gaffen – sie tuschelten, lästerten, lachten und kicherten – alles hinter vorgehaltenen Händen. Alle waren sie erleichtert, als die Polizei vorfuhr. Ihr Freund und Helfer. Die würden nun endlich für Ordnung sorgen! Die würden dem Kerl das Handtuch legen (und zwar um die Hüften, daß er nicht gar so nackt war)!
Ein Polizist tippte den Exhibitionisten an, drehte sich zu seinem Kollegen um und sagte: „Du, der ist tot.“
Der Kollege gähnte und fröstelte in einem Atemzug: „Und wer ist der Typ? Was tut er hier völlig nackt?“
„Wahrscheinlich ist das der alte Willie von der Tankstelle. Hat vor kurzem Haus, Frau und Kinder verloren. Lebte von der Sozi, war aber eigentlich zu stolz dafür. Fand keinen Job mehr, er war halt zu alt.“
„Na, wen juckt’s, schaffen wir ihn fort.“
Der Polizist, der den Exhibitionisten kannte, streifte sich die Polizeijacke von den Schultern und bedeckte damit das beste Stück des Toten.
„Und Abmarsch“, sagte er.
© by Stefanie Kißling, 8. März 2002
[Beitrag editiert von: stephy am 07.04.2002 um 17:03]