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Der Exhibitionist

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06.02.2001
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Der Exhibitionist

Der Exhibitionist

Mitten in der Nacht saß doch glatt ein Mann mittleren Alters und mit vollem Rauschebart völlig unbekleidet im Bushäuschen auf dem Busbahnhof. Er hatte sein Ding zwischen die Beine geklemmt und starrte stur geradeaus. Sein Blick war leer. Es war kalt, es war ja immerhin erst Anfang März – und der Typ saß einfach so nackt da und betrieb freiwillig oder unfreiwillig Exhibitionismus.
Er saß die ganze Nacht über da und gegen morgen erwachte die Bushaltestelle allmählich zum Leben; Schüler versammelten sich, die Aktenkoffermenschen strömten aus den U-Bahn-Schächten, die alten Damen nahmen den Bus, um in die Stadt zum Einkaufen zu fahren, die ersten Schulbusse starteten, die Autos auf den Straßen wurden immer zahlreicher – und der nackte Mann saß immer noch dort, wo er die ganze, kalte Nacht über gesessen hatte. Da waren keine Kleider weit und breit. Der Kerl mußte ohne sie auf die Straße gegangen sein.
Das aber war für die Leute nicht von Bedeutung; sie sahen nur kurz hin – dann sofort wieder weg, weil sich etwas anderes nicht gehörte. Eine alte Frau näherte sich dem nackten Mann bedrohlich; das heißt, sie ging an seiner Bank im Bushäuschen vorbei und warf ihm - stolz, wie sie war - ein „Sie sollten sich was schämen!“ an den Kopf. Die Kinder, etwas abseits auf den Straßen, kicherten hinter vorgehaltenen Händen und dachten sich schon erste Mutproben aus, die den nackten Kerl prompt mit einschlossen.
Gegen Nachmittag kam dann endlich die Polizei. Der Busfahrer des Busses, der den halben Tag lang immer wieder an der Haltestellen, an der der nackte Mann saß, halten mußte und deshalb kaum noch Fahrgäste zum Herumkutschieren hatte, rief sie schließlich an. Er hätte auch versucht, mit dem Kerl zu reden, aber das sei einer von der ganz harten Sorte, behauptete er. In Wirklichkeit warf er während des Telefonierens immer wieder ängstliche Blicke auf den Exhibitionisten, der sich noch immer nicht von der Stelle rührte.
Wie auch immer; die Polizei kam. Der nackte Mann war nicht aufgestanden und davon gerannt, als sie sich ihm näherten. Er schien wie in Trance zu sein – nur in Trance wäre okay gewesen, aber das auch noch nackt?
„Freundchen, na hören se mal, se kennen hier ned so durch die Gegend loofen, ne, des gehört sich eufach ned!“ schimpfte ein altes, stolzes Weib, als es zügig an der Haltestelle vorbei ging (natürlich erst, nachdem es die Polizei herannahen gesehen hatte).
Trauben von Menschen bildeten sich innerhalb von wenigen Sekunden, wenigen Minuten, viele angelockt durch das Polizeiauto auf dem Busbahnhof. Sie nahmen sich alle die Zeit, zu gaffen – sie tuschelten, lästerten, lachten und kicherten – alles hinter vorgehaltenen Händen. Alle waren sie erleichtert, als die Polizei vorfuhr. Ihr Freund und Helfer. Die würden nun endlich für Ordnung sorgen! Die würden dem Kerl das Handtuch legen (und zwar um die Hüften, daß er nicht gar so nackt war)!
Ein Polizist tippte den Exhibitionisten an, drehte sich zu seinem Kollegen um und sagte: „Du, der ist tot.“
Der Kollege gähnte und fröstelte in einem Atemzug: „Und wer ist der Typ? Was tut er hier völlig nackt?“
„Wahrscheinlich ist das der alte Willie von der Tankstelle. Hat vor kurzem Haus, Frau und Kinder verloren. Lebte von der Sozi, war aber eigentlich zu stolz dafür. Fand keinen Job mehr, er war halt zu alt.“
„Na, wen juckt’s, schaffen wir ihn fort.“
Der Polizist, der den Exhibitionisten kannte, streifte sich die Polizeijacke von den Schultern und bedeckte damit das beste Stück des Toten.
„Und Abmarsch“, sagte er.


© by Stefanie Kißling, 8. März 2002

[Beitrag editiert von: stephy am 07.04.2002 um 17:03]

 

Moin erstmal,

Eins-plus mit Sternchen für Deine Geschichte von mir, obschon ich mir so ab Mitte schon gedacht habe, dass der Alte vielleicht keine Reaktion mehr zeigt, weil er schlicht und einfach erfroren ist.

Ob das aber eine "Alltagssituation" ist, die Du hier beschreibst, wage ich leise zu bezweifeln. Meiner Meinung nach ist die Story unter "Gesellschaft" besser aufgehoben, denn Anklagen sehe ich hier mehrere: Unsere Bereitschaft, zu verurteilen, ohne zu fragen (hat ja verdammt lang gedauert, bis jemand gemerkt hat, dass der Protagonist gar nicht mehr lebt); auch die Angewohnheit unserer Gesellschaft, Menschen als "unnütz" auszusortieren. Die volle Härte ist das Verhalten der Polizei - ab damit und weiter zur Tagesordnung. Was ich nicht ganz verstanden habe ist, warum Willi ausgerechnet diese Form gewählt hat, um aus dem Leben zu scheiden. Wollte er damit noch etwas sagen? Aufrütteln vielleicht? Dann tut es mir leid, war wohl voll daneben, Intention nicht verwirklicht.

Lieben Gruss
P.

 

Vielen Dank für Eure Kritik!

Also mir ist das neulich selber passiert (ich bin nicht nackt herumgesessen, nein, nein :D ); ich bin an einem Bushäuschen mitten in der Nacht vorbeigelaufen, in dem ein nackter Mann saß. Das war ein komisches Gefühl; einerseits ekelt man sich, andererseits fragt man sich, warum der Mann das tut... Und wie er das aushält, denn es war sehr kalt.

Na ja, nevermind.

Danke für Eure Kritiken!

Gruß
stephy

[Beitrag editiert von: stephy am 14.03.2002 um 12:52]

 

Hi Stephy!

Riesenkompliment, ich finde die Geschichte genial. Bin aber auch derselben Meinung wie P. und glaube, dass es eher eine Kritik an der Gesellschaft ist, die immer wieder Vorurteile aufbaut, ohne sich vorher überhaupt zu erkundigen. Diese saloppen Worte, die dua laut P. benutzt hast, find ich nicht schlimm, schließlich willst auch du ein bisschen aus der Sicht der gesellschaft schreiben (oder?) und da braucht man eben manchmal auch nicht ganz so positive Worte! Weiter so!

 

Stephy, wirklich gut gelungen.

Abgesehen von den Flapsigkeiten, aber eigentlich gehören sie wirklich rein, weil sich die Leute ja innerlich eher unbeteiligt verhalten.

Von mir deshalb :thumsup: :thumbsup: :thumbsup:

Lord

 

Hallo stephy,

Deine Geschichte hat mir leider gar nicht gefallen. Die Sprache ist, wie bereits angemerkt wurde, an einigen Stellen zu flapsig gewählt, ich halte das für nicht immer gerechtfertigt.

Was der Geschichte meiner Meinung nach fehlt, zumindest in der Sparte Alltag, ist ein Protagonist. Dort wären meiner Ansicht nach auch die interessanten Aspekte der Situation unterzubringen, in dessen Gedanken und Beobachtungen.

Claus.

 

jaja, das flapsige an einigen stellen. am anfang dachte ich erst noch so "was soll das, kann sich doch jeder denken wie die leute reagieren oder?!". als ich dann aber mitbekommen habe´, dass unser freund ja eigentlich tot ist, fand ich das schon interessant. allerdings tut sich hier die frage auf: fällt es nicht auf, das er tot ist? du hast ihn nicht näher beschrieben, aber ich denke nicht das er , in seinem toten zustand, da sitzt, augen offen und gut ist. denke wenn isser eingeschlafen oder so, dann wäre er vielleicht blau vor kälte oder so. auf jeden wären doch sicher seine augen geschlossen oder?
sonst find ich die idee ziiemlich gut, aber bitte überartbeite das flapsige nochmal, ich finde es auch unpassend.

[Beitrag editiert von: ['instin(c)t] am 26.03.2002 um 11:33]

 

Hallo Stephy,

deine Geschichte ist gut geschrieben, und die von den anderen teilweise bemängelten Flapsigkeiten sind aus meiner Sicht der Dinge eher Stilmittel, die durchaus eine Unterstreichung darstellen. Du hältst durch das schlichte Erzählen, des einfachen Sachverhaltes zum Schluss jedem den Spiegel vor die Augen.
Man schaut hin, findet etwas merkwürdig, ja unmoralisch und lässt es damit schlicht bewenden. Die Gesellschaft ist mehr an den Äußerlichkeiten interessiert, als daran, dem Menschen nahe zu kommen, ihn nach seinen Motiven und Gründen zu fragen. Das hast du in dieser Geschichte gut dargestellt und deswegen gefällt sie mir gut.

 

Und überhaupt kann ich mit dem Wort "flapsig" wenig anfangen.

"Flapsig" ist - für meine Begriffe - eine gewollt-bewusste Frechheit. Eine Art Schnoddrigkeit, die beweisen soll, wie "cool" man ist. Und das sehe ich hier überhaupt nicht.

Ich würde die Wortwahl eher als trocken oder zynisch beschreiben und halte sie angesichts der Thematik für angebracht.

Wollte ich nur nochmal loswerden ;)

Gruss
P.

 

Hallo stephy,

hat mir wirklich sehr gut gefallen deine Geschichte. In meinem Geist rauschten die Bilder nur so vorbei und ich war positiv überrascht von der Fülle dieser auf den ersten Blick recht kurzen Geschichte. An einer Stelle ist mir etwas aufgefallen:

Der Busfahrer des Busses, der den halben Tag lang immer wieder an der Haltestellen, an der der nackte Mann saß, halten mußte und deshalb kaum noch Kunden zum Herumkutschieren hatte, rief sie schließlich an.

Normalerweise spricht man bei den Kunden eines Busfahrers von Fahrgästen. Es ist natürlich nicht falsch, wenn du Kunden schreibst, nur klingt das eher als ob der Busfahrer nebenher einen Supermarkt betreibt anstatt seiner üblichen Arbeit nachzugehen. ;)

Fazit: Eine sprachlich und inhaltlich einwandfreie Story, hat mir sehr gefallen!

Grüße,

meine Wenigkeit :)

 

Hallo mea,

vielen lieben Dank für Deine Kritik! Was die "Kunden" betrifft, hast Du selbstverständlich recht (ist mir gar nicht aufgefallen :rolleyes: ); das sind Fahrgäste!

Ich werds gleich ändern!

Danke nochmal!

Gruß
stephy

 

@stephy
Habe die Geschichte vor ein paar Tagen schon gelesen, aber irgendwie vergessn, etwas dazu zu schreiben. :rolleyes:
Mir hat sie sehr gut gefallen.. Unvorstellbar, dass du Leute da nicht richtig aufmerksam werden, bis dann endlich die Polizei kommt. :eek:

Viele Grüße

Fallen Angel

 

Hallo Stephy! :D

Also ich finde es eher unwichtig wie die Gesellschaft auf den Mann reagiert, ihm ist sie doch egal und genauso andersrum...

Eins fand ich nur unlogisch:
„Freundchen, na hören se mal, se kennen hier ned so durch die Gegend loofen, ne, des gehört sich eufach ned!“ schimpfte ein altes, stolzes Weib [...]

Ich dachte er sitzt in seinem Häuschen, zusammen mit seinem Ding eingeklemmt und tot ist er obendrein auch noch, wie kann er denn dann rumlaufen?

Griasle! Korina

 

Moin stephy!

Hat mir sehr gut gefallen, deine kleine Exhibizionisten-Geschchten!
Allerdings fand ich den Einschub ein bisschen unnötig, nur um Exhibizionismus mal zu erwähnen:

und der Typ saß einfach so nackt da und betrieb freiwillig oder unfreiwillig Exhibitionismus.
Ich finde (da ich selbst auch immer mit Kürzungsvorschlägen überhäuft werde) "und betrieb freiwillig oder unfreiwillig Exhibitionismus" kann man streichen und nur "und der Typ saß einfach so nackt da" stehen lassen.

„Na, wen juckt’s, schaffen wir ihn fort.“
Die Stelle fand ich dann schon derb, zumal die Story in Alltag steht und der andere Cop das Opfer ja kennt, ich glaube nicht, dass jemand(außer Verrückte) so schroff über eine Leiche reden, wenn diese noch anwesend ist. Die Stelle finde ich ein bisschen überzogen. Außerdem stehen ja noch die Leute drumherum. Was würden die wohl sagen, wenn er sowas von sich geben würde?

Du hättest "Der Exhibitionist" (ich muss dabei immer an den Exorzisten denken)meiner Meinung nach in Satire posten können.
Mehr habe ich nicht zum bemängeln von meiner Seite gefunden, fand die Story gut zu lesen, stellenweise unrealistisch, aber hauptsächlich realistisch und gut geschrieben.

Von mir bekommst du :thumbsup: :thumbsup: :thumbsup: von 5

MFG
T2;)

 

Übrigens: Ein Exhibitionist ist einer mit Mantel, der darunter nackt ist, den Mantel öffnet wenn ne Frau vorbeigeht und sich an ihrem Schock aufgeilt. Der Titel deiner Geschichte ist also
nicht so passend.
Grüsschen m.

 

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