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Der Faulpelz
Das Telefon klingelte, doch Neumann hob nicht ab, er saß seelenruhig auf seinem Sessel und blickte aus dem Fenster. Birgit, die öfter bei Neumann zu Besuch war, fragte: „Willst du nicht abheben?“
„Das ist mir zu anstrengend.“, antwortete Neumann, der wie ein nasser Sack in seinem Fernsehsessel hing. Das Telefon befand sich wenige Schritte vor ihm auf einem kleinen Tischchen, eigentlich befand sich in seinem Apartment alles wenige Schritte von ihm entfernt, es war zwar nicht allzu klein, achtzig Quadratmeter, doch er benutzte nur einen Raum. Es gab nur seinen Fernsehsessel, den Fernseher, einen kleinen Tisch, welcher genau neben dem Sessel stand, ein Sofa und ein Bett, alles in einem Zimmer, so dass man es mit wenig Aufwand erreichen konnte.
„Willst du nicht ein bisschen reden?“, fragte die Besucherin.
„Das ist mir auch zu anstrengend, aber ich hör dir gern zu.“, gab der Faulpelz zurück, welcher immer weiter vom Sessel rutschte, doch keine Anstalten machte etwas daran zu ändern.
„Naja, hab jetzt nicht wirklich Lust dazu.“, führte Birgit fort und so saßen beide, Neumann lungerte mehr als er saß, im Zimmer, man konnte nur das leise Ticken der Wanduhr wahrnehmen. Birgit starrte den Mann, vor sich, mitleidig an. Es nahm sie ganz schön mit, diesen Menschen zu beobachten, wahrscheinlich würde er verhungern, wenn sie sich nicht um ihn kümmern würde. Sie verstand es als ihre Pflicht, als brave Christin, diesem armen Geschöpf zu helfen, außerdem war diese verwahrloste Gestallt ein guter Zuhörer, er war zu faul um zu widersprechen und man konnte stundenlang auf ihn einreden, ohne auch nur den Versuch einer Gegenwehr zu provozieren.
Was Birgit ab und an doch sehr beunruhigte, waren Geschichten, die sie manchmal zu hören bekam:
Einmal, so Brigitte von Gegenüber, hätte Neumann eine Herzattacke gehabt, eine leichte, aber sie wäre doch ernst zu nehmen gewesen, doch er, so Brigitte, wäre zu faul gewesen um die Rettung zu verständigen, es wäre ein Wunder gewesen, dass Neumanns Sohn an diesem Tag zu Besuch gekommen wäre und so wäre die Geschichte noch einmal gut ausgegangen.
Ja, Neumann hatte einen Sohn, unglaublich angesichts seiner Trägheit, doch wo war seine Frau? Nicht mehr da, wer konnte es ihr schon verübeln, es würde wohl Jedem auf die Nerven gehen, so einen Pflegefall vor sich zu haben.
Birgit fühlte sich aber irgendwie zu ihm hingezogen, sie mochte es von jemanden gebraucht zu werden, außerdem vermittelte er ihr ein Gefühl der Gelassenheit, in dieser hektischen Welt von Heute.
Über das dachte Birgit nach, als sie mit Neumann im Zimmer saß, er lag schon mehr als er saß, doch man konnte es durchaus noch als sitzen durchgehen lassen.
„Ich muss dann wieder.“, verlautbarte sie und er raffte sich auf, die Hand zu heben, danach ließ er sie wieder, wie ein nasses Handtuch, auf ihren gewohnten Platz fallen.
„Tschüss.“, hauchte er in den Raum hinein, was das Beste war, dass Neumann in diesem Moment von sich geben konnte.
Die Besucherin macht sich auf den Nachhauseweg, dabei dachte sie noch immer an Neumann, sie machte sich Sorgen um ihn, also beschloss sie bei ihm einzuziehen.
Am nächsten Tag engagierte sie auch schon Möbelpacker, welche die Wohnung von Birgit ausräumten und alles in einen Möbelwagen packten, um diese dann zum Haus von Neumann zu karren. Alles war gut organisiert, die Möbelpacker brachten die Möbel binnen einer Stunde in die Wohnung des Faulpelzes und stellten die Dinge darin ab. Neumann lag inzwischen in derselben Kleidung wie Tags zuvor im Bett, nichts ahnend was in seiner Wohnung passierte, wahrscheinlich war es ihm auch egal. Wenn Einbrecher um ihn herum sein Zimmer ausgeräumt hätten, könnte man sicher sein, dass er sich keinen Zentimeter bewegt hätte.
Nach acht Stunden öffnete er seine Augen und sah die vielen neuen Möbel. Er versuchte die Herkunft der Gegenstände zu erörtern, indem er sich aus seinem Bett erhob und die Wohnung begutachtete. Doch nach fünfzehn Minuten intensiven Suchens, was in Neumanns Fall verwirrtes durch den Raum irren war, machten sich die ersten Erschöpfungserscheinungen bemerkbar. Schweißflecken breiteten sich unter seinen Ärmeln aus, der verwahrloste Mann drohte umzukippen, also rettete er sich auf das nahe gelegene Sofa um auszuruhen. Er schlief augenblicklich ein und dieser Zustand hielt, nach solch einer Anstrengung, mehrere Stunden an, also musste Birgit, die gerade vom Einkauf kam, alleine zu Abend essen.
„Ich hoffe Neumann wacht bald auf, ich will ihn einmal nach seinem Namen fragen.“, dachte sich Birgit, während sie ihr Essen genoss.
Sie kannte ihn nun schon fast neun Jahre, brachte diesem ausgewachsenem Riesenbaby immer zu Essen und kümmerte sich auch sonst um ihn, doch Neumann war in all den Jahren zu faul gewesen seinen Vornamen auszusprechen. Als sie fertig mit ihrem Mahl war, räumte sie den Tisch ab und legte sich in ihr Bett, welches sich in einem der ungenützten Zimmer befand, sie fühlte sich ganz wie Zuhause, nur nicht so alleine. Ein Lächeln zauberte sich in ihr Gesicht, sie fühlte sich richtig wohl.
Neumann sprach sehr wenig, nach wie vor, doch das störte Birgit nicht sonderlich, er war pflegeleicht, belastete sie nicht mit seinen Problemen und konnte unwahrscheinlich gut zuhören. Antworten brauchte die Frau keine, wenn sie sich nur lang genug selbst zuhörte wurde alles klar.
So wohnten die Beiden in dem Apartment und Birgit ging es auf der ganzen Linie besser, Neumann ging es wie immer, er war müde. Doch ein bohrendes Problem gab es in der Beziehung doch, er schlief immer dann, wenn sie zu Abend essen wollte. Ihr war das gemeinsame Mahl sehr wichtig, da sie es als Teil einer funktionierenden Wechselspiels sah. Es war nicht so, dass sie nicht versucht hatte Neumann zur rechten Zeit an den Tisch zu bringen, sie hatte schon unzählige Appelle hervorgebracht und Belohnungen ausgesetzt, doch es half alles nichts und so entstand ein handfester Konflikt daraus. Die Frage ist jedoch ob man es Konflikt nennen konnte, denn zu einem gehören immer zwei, bei Birgit und Neumann sah ein Streit folgender Maßen aus:
Sie kam ins Zimmer, dann fing sie unheimlich zu zetern an, anschließend fing sie furchterregend zu schreien an und zu guter letzt rannte sie weinend aus dem Zimmer. Neumann lag inzwischen da und träumte von Ziegen, dabei verzog er eine Grimasse.
Diese Art von Konflikt wurde zur Routine, bis zum Tag X.
Birgit kam wieder einmal nach Hause, Neumann lag im Bett, sie machte das Abendessen, Neumann lag im Bett, sie deckte den Tisch, Neumann lag im Bett, sie packte ihre Koffer, Neumann lag im Bett.
Bis Birgit ins Zimmer kam und verkündete: „Ich verlasse dich, so kann ich nicht mehr weiterleben.“
Der, der Leichenstarre nahe Mann, versuchte sich so schnell wie möglich aufzurappeln, denn er liebte Birgit, er liebte es ihr zuzuhören, nur sprechen wollte er nicht. Sie verschwand durch die Türe, er befand sich noch immer im Zimmer, als er endlich stand wurde Neumann erst einmal schwindlig, doch dann rannte er so schnell er konnte, jeder andere hätte es gehen genannt. Seine Geliebte ging die Treppen zum Erdgeschoss hinab, Neumann, der sämtliche Ermüdungserscheinungen erfuhr, von Krampf bis Herz- Kreislaufproblemen, schleppte sich ihr so schnell wie möglich hinterher. An der Stiege angekommen, war er körperlich endgültig fertig und als er zum Schritt ansetzen wollte knickte er und purzelte die Stiegen hinab. Man konnte allerlei Geräusche von brechenden Knochen und anderen Dingen in seinem Körper vernehmen, Birgit stürmte sofort wieder zurück, das letzte Wort, welches sie von ihm vernahm war: „Ich liebe dich.“
Dann konnte Neumann nur noch Schemenhafte Umrisse von rufenden Menschen sehen, er war ein geknickter Mann äußerlich wie innerlich.
Als er wieder zu Sinnen kam, war Neumann vollkommen eingegipst, er konnte sich nicht bewegen, so wie er es gerne hatte. Doch eine Sorge quälte ihn, wo war seine geliebte Birgit. Er fragte die erste Schwester, die sein Zimmer betrat.
Diese antwortete: „Ach, sie meinen wohl die Frau, welche vorher bei ihnen gesessen ist?“, Neumann nickte, soweit er noch konnte, dann führte die Schwester fort: „Sie hat gesagt, dass sie wissen sollen, sie liebt sie, doch das würde nichts an ihrer Entscheidung ändern.“
Nach diesem Schock musste Neumann erst einmal eine Runde schlafen.