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Der Fluch
Die Druidin Anea aus dem Hause des Don spie Lir ins Gesicht. Sie war gefesselt, doch es hinderte sie nicht, Lir ihre Abscheu zu zeigen.
„Ich werde dir niemals zu Willen sein!“
„Lir lachte. Es war ein gemeines Lachen, das er hervorstieß, als er seine Zähne bleckte.
„Du wirst, ob du willst oder nicht “, zischte er. „ Du wirst mir Kinder gebären. Starke Söhne austragen.“
„Ach ja“, höhnte Anea, „auch wenn mein Blut sich mit deinem vermischt, werden deine Söhne nur blinde Narren wie du einer bist sein.“
Lir holte aus und schlug Anea ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite. Hellrotes Blut floss aus der Platzwunde, die Lirs Siegelring ihr beschert hatte.
„Still Weib!“, schrie er. Außer sich vor Wut riss er ihr die Tunika vom Körper. Aneas weiße Haut wirkte im Mondlicht filigran und verletzlich. Ihre Brust hob und senkte sich schnell. Obwohl sie nur Verachtung für Lir empfand, spürte sie nach seinem Schlag eine tiefe Hitze in sich aufsteigen.
Inspektor Peres runzelte seine Stirn, als er die Akte noch ein Mal durchsah.
Joanne sah kurz über den Rand ihres PCs. Ihr Chef hatte schlechte Laune, wie seine herabgezogenen Mundwinkel deutlich verrieten.
„Soll ich Ihnen einen Milchkaffee machen?“
„Nein!“ Peres klappte die Akte mit einem Knall zu.
„Eine Spur sollen sie mir nennen!“
Joanne zuckte zusammen. Wenn der Inspektor statt eines Kaffees einen Rat wollte, dann stand er unter Erfolgsdruck.
„Ich weiß nicht“, flötete sie, „aber ich könnte mir vorstellen, dass die Aussage der Rosch eine Hilfe wäre.“
„Auch das noch!“ Peres stampfte wie ein wütender Stier durch das Büro. Die Holzdielen ächzten unter seinem Gewicht.
„Die Presse nennt mich schon unfähig. Was wird sie wohl schreiben, wenn meine heißeste Spur die merkwürdige Aussage eines Mediums ist. Der Präfekt wird mich ebenso in der Luft zerreißen.“
„Es ist ihre Pflicht, jedem Hinweis nachzugehen. Also was haben Sie zu verlieren?“ Joanne verschränkte die Arme vor der Brust, als sie fortfuhr.
„Alle vierzehn Mädchen verschwanden aus ihren Heimen in der Nacht vom 31.Oktober zum 01. November. Sie waren alle unterschiedlich alt. Das Jüngste nur ein paar Monate.“
„Ja, es war Halloween, Allerheiligen! Haben Sie sonst noch etwas?“, unterbrach Peres. Er warf seinen Kopf in den Nacken und lachte bitter, als er fortfuhr. „Natürlich, es ist die Nacht in der die Geister der Anderswelt sichtbar werden.“
„Genau!“, antwortete Joanne und nickte zur Bestätigung. Peres schüttelte seinen Kopf, als er begriff, dass Joanne es ernst meinte.
„Was meinen Sie damit?“, fragte er.
„Auffällig ist doch, dass alle verschwundenen Mädchen rothaarig sind“, sagte Joanne. „Ebenso auffällig ist, dass es keine Hinweise über ihre Herkunft gibt.“
„Sie waren doch Vollwaisen, oder nicht?“, nahm der Inspektor den Faden auf. „Woher stammten sie denn?“
„Sie wurden ausgesetzt oder man fand sie in einer Babyklappe. Meist in und um Inverness.“
„Vielleicht ein und dieselbe Mutter?“ Peres kratzte sich am Kopf. „Eher unwahrscheinlich.“
„Außerdem ist ebenso merkwürdig, dass man in Schottland menschliche Skelette gefunden hat.“ Sie überreichte ihm ein Fax aus Glasgow. Peres überflog es kurz. „Vierzehn Torsi ohne Schädel?“
Lir sah, wie Anea plötzlich bebte vor Erregung. Ihre Brustwarzen traten dunkel wie zugespitzte Pfeile hervor. Sie war an den Handgelenken gefesselt und hing wie angeschlagen an den Eisenringen der Felswand fest. Ihre Füße berührten nur mit den Zehenspitzen den Boden. Sie schob ihre Hüfte vor, leckte sich die Lippen.
„Du kannst mich nehmen“, sagte sie.
„Furchtbares Land“, schimpfte Peres und zupfte an seinem Mantelkragen.
Graue Wolken senkten sich bleiern, als die Polizisten in einem Landrover über die Piste des Hochmoores holperten. Sekundenschnell hüllte der Nebel alles in ein schemenhaftes Grau und verhinderte so den Blick auf das felsige Bergpanorama.
„Sie hätten den Tweedmantel in Glasgow kaufen sollen“. Joanne steuerte gerade auf eine Ausweichbucht zu.
„Warum halten wir?“, schnaufte Peres, der nicht zugeben wollte wie erbärmlich er in seinem Trenchcoat fror.
Joanne antwortete nicht gleich. Stattdessen drehte sie sich zum Fond und zog eine karierte Wolldecke aus einer Einkaufstüte.
„Hier, nehmen Sie und hören Sie endlich auf zu brummen!“
Peres hatte die Angewohnheit kehlig zu schnauben, wenn ihm etwas nicht passte.
„Gehen wir lieber noch ein Mal die Fakten durch.“
In dem Fax, das sie letztendlich aus London hierher verbracht hatte, hieß es:
Bei einem kleinen unscheinbaren Örtchen im Norden Schottlands sind vierzehn mumifizierte Kinderleichen ohne Köpfe aufgefunden worden. Ihre forensische Untersuchung hatte ergeben, dass sie zirka 2000 Jahre alt seien. Es gab keine eindeutige Erklärung, warum sie noch so gut erhalten waren, außer, dass das Hochmoor sie konserviert haben musste. Sie wurden nicht, wie sonst, beim Torfstechen gefunden. Die Leichname wurden aufgebahrt in einem Steinkreis von Touristen entdeckt.
„Sie wurden enthauptet und geopfert“, sagte Joanne. „ Ein uraltes keltisches Ritual!“
„So einen Stuss kann ich einfach nicht glauben“, presste Peres durch seine Lippen. „Warum sollten die verschwundenen Mädchen etwas damit zu tun haben? Nur, weil es vierzehn sind?“
„Nicht nur.“ Joannes Augen leuchteten.
„Sie verheimlichen mir doch etwas, Joanne!“ Peres schob die Wolldecke beiseite.
„Los, sagen Sie es endlich!“
„Sir, ich weiß, dass sie nach Schottland gefahren sind, um eine heiße Spur zu suchen. Ich hingegen habe sie gefunden und verfolge...
„Verfolgen Hirngespinste“, bremste Peres sie schroff aus. Seine Kiefer mahlten vor Anspannung.
„Erinnern Sie sich an den Fall von Brest?“, fragte sie ohne auf seine Laune einzugehen. Sie musste sich aufs Fahren konzentrieren, denn inzwischen war die Sicht so schlecht, dass man praktisch gegen eine Wand fuhr.
„Brest? Sie meinen die angebliche Entführung der Frau in der Bretagne?“
„Ja, sie wurde inmitten der Megalithen wieder aufgefunden.“, bestätigte Joanne.
„Ja, sie hatte für kurze Zeit einen Blackout“, stöhnte Peres. „Nach einem Autounfall! Was hat das mit unserem Fall zu tun?“
„Sie hatte keinen.“
„Was? Joanne, kommen Sie zum Punkt.“
„Unfall! Ich habe Sie angerufen und sie hat mir erzählt, dass sie doch aus ihrem Auto entführt wurde. Seitdem träumt sie immer wieder dieselben Bilder: Sie befindet sich in einem Steinkreis. Um sie herum wirbelt ein Orkan. Sie befindet sich in dessen Auge. Es tost und heult, sie verliert die Orientierung, weil sie in einen Strudel gerät. Plötzlich wird es still.“
„Und dann?“, fragte Peres, der trotz seiner Skepsis die Geschichte unterhaltsam fand.
„Es waren Hexen um sie herum“, antwortete seine Mitarbeiterin. „Sie sollte geköpft werden! Nur dass ihr Mann sie rechtzeitig gefunden hat!“
„Sie sollten Märchen schreiben, Joanne“, sagte Peres. „Wirklich.“, beteuerte er, als er ihren Blick sah.
„Um Himmels Willen, achten Sie auf die Straße!“
Anea war die Erstgeborene und Erbin des großen Cumhail Don. Als Druidin war ihr die körperliche Liebe zu einem Mann verwehrt. Daher würde ihr Erbe an den König zurückfallen. Lir wollte das verhindern, denn er hatte ihren Zwilling Braswen nur geheiratet, um die mächtigen Häuser Don und Curoi zu vereinen.
Lir drückte Anea mit seiner massigen Gestalt gegen die kalte Felswand. Sie stöhnte auf.
„Du Meuchelmörder“, zischte sie, „hast Vater getötet.“ Sein Gewicht presste ihr die Luft aus den Lungen. Der Hass gurgelte in Anea.
Trotzdem durchzogen Funken ihren Schoß, als sie den Druck seines Gliedes spürte. Lirs Atem flog. Er quetschte Aneas Brüste. Anea biss ihm die Lippen blutig, als er sie küsste. Grob riss Lir die restliche Kleidung von Anea. Seine Finger gruben sich in ihr Fleisch, als er ihr Gesäß anhob und ihre Beine spreizte, sie entjungferte.
Es war, als ob Funken in Anea sirrten. Deren heller Klang erfüllte ihren Geist. Ein Licht in ihrem Kopf nahm Gestalt an. Aneas Nerven vibrierten. Mit Schrecken nahm sie wahr, wie ihr Körper sich an Lirs schwarzer Seele entzückte und jede Faser ihres Körpers die Verschmelzung ersehnte. Doch sie wollte auch ihren Glauben nicht verraten. Sie bäumte sich auf. Lust und Zorn trugen sie, wie zu einem Abgrund. Ihre Beine umschlangen ihn oberhalb der Hüfte. Sie spannte die Muskeln ihrer Schenkel an. Es knackte, als seine Rippen brachen. Erst als sie ihn seufzen hörte, entspannte sie ihren Würgegriff ein wenig.
Peres griff ins Lenkrad. Der Landy schleuderte. Joanne trat fatalerweise auf die Bremse. Der Wagen schoss über den Randstreifen hinaus, als die Bremsen blockierten. Wie in Zeitlupe kippte der schwere Wagen um. Das Hochmoor durch das die Straße führte, empfing die Verunglückten mit einem Schmatzen, als der Untergrund nachgab.
„Wir müssen hier raus!“, rief Peres.
Joanne hörte ihn nicht. An ihrer Stirn hatte sie eine Platzwunde, aus der das Blut über ein fahles Gesicht herunter lief.
„Joanne!“ Peres schüttelte sie. Auf seiner Seite versanken sie bereits. Er schob seinen massigen Körper über die Bewusstlose und versuchte die Tür zu öffnen. Sie klemmte. Offenbar hatte sich der Rahmen verzogen. Sein Versuch das Fenster zu öffnen, scheiterte. Der elektrische Fensterheber funktionierte nicht. Er drehte den Schlüssel zurück auf Zündung. Endlich surrte die Scheibe nach unten. Er bugsierte Joanne hinaus. In diesem Moment schlug sie die Augen auf.
„Was ist los?“, fragte sie
„Wir versinken. Los klettern Sie!“
Joanne sah vom Fenster zu ihrem Chef.
„Da passen Sie nie durch!“
„Versuchen Sie die Tür von außen zu öffnen!“ Joanne wand sich nach draußen. Sie zerrte an der Tür, doch sie gab nicht nach.
„Es geht nicht!“
Lir sackte zusammen wie ein schlaffer Ballon. Seine Augäpfel quollen hervor. Die blassbewimperten Augen brachen. Anea fühlte Lirs Samen in sich aufsteigen.
Sie hatte ihn besiegt und doch verloren. Der hohe Ton in ihrem Kopf schwoll an und zerbarst.
Braswen spürte, dass ihre Zwillingsschwester Anea sie rief. Lichtpunkte explodierten hinter ihren Lidern. Wie ein Messer durchfuhr sie ein brennender Schmerz. Unsichtbare Fäden lenkten sie zur alten Felsenhöhle. Trotz der Dämmerung erkannte Braswen sofort, dass ihr Gatte Lir tot und Anea am Leben war. Sie wusste auch, sie war zu spät gekommen.
Anea war geschändet. Die Frucht wuchs bereits.
„Braswen?“
Anea konnte sich nicht mehr rühren. Kraftlos hing sie in den Seilen.
„Schneide bitte die Fesseln durch“, sagte sie heiser. Die Wände der Höhle waren feucht vom Torfwasser, das über ihr durch die Grasnarbe versickerte. Inzwischen war Anea steif vor Kälte. Braswens Blick schweifte zu Lirs Leichnam. Sie litt, konnte nicht fassen, was er getan hatte.
Sie zückte ihr kleines Messer. Der Perlmutgriff leuchtete in der Dunkelheit.
Das Kind nahm ohne zu geben.
„Er soll Oisin heißen“, flüsterte Anea. Sie hatte sich in ihren Steinkreis zurückgezogen, um zu gebären. Braswen bettete ihre Schwester auf dem steinigen Boden.
„Du wirst das Kind nicht gebären können“, flüsterte sie. Ihre Stimme versagte. Aneas Bauch war übermäßig geschwollen.
„Er muss leben!“, keuchte Anea. Die Wehen hatten bereits eingesetzt.
Eindringlich funkelte Anea ihren Zwilling an.
„Mein Gott noch Mal, ich will nicht als Moorleiche enden.“
Peres Hilflosigkeit angesichts der Situation zeigte sich, als er versuchte, sich durch das Fenster zu zwängen.
„Erinnern Sie mich, dass ich abspecken will, wenn wir zurück in London sind“, ächzte er. „Ich komme mir vor, wie ein Idiot.“
„Nur, wenn Sie stecken bleiben“, kicherte Joanne. „Außerdem sinkt der Wagen nicht weiter ein.“
Peres gab es auf, sich durch das Fenster zu quetschten.
„Chef?“ Joanne trat auf der Stelle. Der Wind pfiff ihr um die Ohren.
„Ja“, brummte dieser unglücklich, nicht nur wegen seiner unbequemen Seitenlage.
„Wenn irgendwelche Sekten uralte keltische Bräuche wiederaufleben lassen, welchen Sinn sollte das haben?“, brummte er.
„Ich weiß es nicht, aber ich könnte jetzt einen heißen Tee gebrauchen. Vielleicht rufen Sie mal den örtlichen Pannendienst an. Das Handy liegt im Handschuhfach.“, sagte Joanne.
„Bed and Breakfast“, leuchtete ein Schild in der Dunkelheit auf. Als Peres und Joanne die Tür zum Pub öffneten, traf sie ein Schwall dumpfer Wärme, die ihnen den Atem nahm. Die Gespräche verstummten. Es war finster im Schankraum. Die Luft schmeckte nach abgestandenem Bier. Der Wirt trat hervor und wischte sich umständlich seine Hände an der Schürze trocken.
„Alles belegt!“, grunzte er.
„Entschuldigen Sie, wir haben reserviert“, sagte Peres unbeeindruckt von der zur Schau gezeigten Ungastlichkeit.
„Wir haben nicht geöffnet“, knurrte der Mann.
Das war zuviel für Peres.
„In welchem Zeitalter leben Sie eigentlich? Ist das ihr Weg zu Höherentwicklung der Menschheit. Indem sie der Zivilisation den Zutritt verwehren?“, brüllte er.
„Entschuldigen Sie bitte.“ Eine junge schwangere Frau löste sich aus der Menge, die wie eine abweisende Mauer im Raum stand.
„Wir heißen alle Menschen willkommen, die sich gereinigt und zu ihrem Glauben bekannt haben.“
Fahl schien das Mondlicht in den Steinkreis hinein und erhellte die Nacht. Aneas rotes Haar loderte. Das bleiche Gesicht war hohlwangig. Sie krümmte sich. Belenus war ihr erschienen. Der Tod war nah.
„Du wirst dich von dem Knaben schwängern lassen!“, befahl sie ihrer Schwester.
Braswen sah die vom Hass zerfressene Schwesterund zuckte zurück.
„Ich habe Lir geliebt“, weinte sie. Das kannst du nicht tun.“
„Immer und immer wieder, wirst du gebären!“
Aneas Hand krallte sich unerbittlich um Braswens Arm, zog sie zu sich herunter. Braswen spürte die Fingernägel, wie sie sich in ihr Fleisch gruben. „Aber nie seinen Sohn!“, fluchte Anea. Sie wand sich vor Schmerzen. „Verdammt bis in die Ewigkeit sollt ihr sein. Du und seine Saat!“
Ihr Becken brach, als das Kind sich drehte. Viel zu schmal war der Weg, den es gehen musste. Es kämpfte um sein Leben. Das Blut der Mutter rauschte in seinen Ohren.
„Ich verlange nur Genugtuung, Schwester“, flüsterte Anea.
Braswen hatte keine Wahl. Sie zog das kleine Messer aus der Scheide.
Ihre Stimme klang nicht böse, aber auch nicht freundlich.
Der Inspektor grinste breit, als er seine Dienstmarke zückte: „Ich glaube an das Gesetz und jede Frau, jeder Mann, der mich behindert übernachtet im Yard.“
„Das wird nicht nötig sein“. Ein dunkelhäutiger Mann mit auffallend roten Haaren trat hervor.
„Meine Frau Brad hat Sie für einen aufdringlichen Touristen gehalten.“
„Gibt es davon so viele?“, platzte Joanne dazwischen.
Die blassen Augen des Mannes musterten sie.
„Es sind genug“, antwortete er. Seine Stimme machte deutlich, dass er keinen Widerspruch duldete.
Joanne war durch und durch Polizistin. Sie besaß genügend Feingefühl, um zu spüren, dass hier etwas in der Luft lag. Die Arroganz des Mannes passte ihr nicht.
„Ich sehe keine Touristen“, sagte sie. Die Falte auf der Stirn des Mannes wurde noch steiler.
Braswen musste die Klinge mehrfach führen, um den Schnitt zu vollenden. Bis er tief genug war, um Oisin an das Licht der Welt zu holen. Seine Mutter war schon tot, als sein Kopf durch die blutigen Fetzen der Gebärmutter trat. Er war groß und schwer. Seine Haut war dunkel wie die seines Vaters Lir. Nur sein Haar loderte wie Feuer. Oisin weinte nicht. Er öffnete seine Augen. Sie waren milchig verhangen.
Oisin war blind.
Braswen hüllte ihn in die Tunika seiner Mutter. Dicht an sich gepresst trug sie das Bündel in ihr Dorf.
Obwohl Oisin blind war, lebte er wie die anderen Kinder. Sein Lachen erfüllte die Sommerluft. Er bewegte sich sicher zwischen den Hindernissen, die er nur vom Tasten her kannte. Ihm schmeckte die Sonne und er roch den Winter. Nur er wusste, wie die Luft strömte und abgelenkt wurden. Er erkannte seinen Weg anhand der Luftbewegungen. Den Menschen war er unheimlich. Seine blassen Augen durchdrangen sie. Sein Blick war leer und doch tief. Gebannt starrten die Menschen in seinen Abgrund, hörten die Geister der Anderswelt rufen.
An seinem vierzehnten Geburtstag, gebar Braswen eineTochter. Jedes Jahr darauf schenkte sie ihm ein weiteres Mädchen.
„Oisin, deine Mutter wollte, dass ich dir keine Söhne gebäre“, schluchzte Braswen.
Der Blinde streichelte ihre Hand.
„Du musst dich nicht grämen“, sagte er, „deine Töchter werden mir vielleicht Söhne gebären, wenn sie zu Frauen herangewachsen sind.“
Braswens Augen füllten sich mit Tränen. Aneas Fluch würde auch ihre Kinder treffen. Was konnte sie tun, um deren Schicksal abzuwenden?
„Es ist spät“, lenkte Mr. Olsin ein. „Morgen ist auch noch ein Tag“.
Peres brummte versöhnlich. „Schon Recht.“, schnaufte er. Er brauchte einen Whiskey und ein Bett.
Am nächsten Morgen begrüßte heller Sonnenschein Peres und Joanne. Nach einem ausgiebigen Frühstück begannen sie mit der Vernehmung.
„Mr. Olsin, es wurden menschliche Überreste gefunden“, begann Peres, als der junge Mann mit den blassen Augen vor ihm auf einem Stuhl Platz genommen hatte.
„Ja, es passiert hier öfters. Ich weiß aber nicht warum dieser Knochenfund so besonders sein soll.“ Olsin räkelte sich auf seinem Stuhl.
„Besonders ist, dass im letzten Jahr an Allerheiligen vierzehn Mädchen verschwunden sind. Alles deutet darauf hin, dass sie ermordet wurden.“
„Ach ja, dann müssen sie ja eine Zeitreise gemacht haben“, spottete Olsin.
„Das Alter der Überreste, spielt erstmal keine Rolle“, sagte Peres wütend. „Vierzehn Kinder! Verschwunden! Vierzehn Moorleichen wurden hier gefunden!“ Peres kniff die Augen zusammen. „Wir vermuten eine Art Kult dahinter.“
Olsin lachte.
„Hier?“
„Ja hier! Oder wie erklären Sie sich, wie die Toten aufgefunden wurden?“
Die zur Schau gestellte Überheblichkeit des Mannes wurmte Peres. Natürlich hatte er nichts in der Hand. Aber dieser Widerling war so zugeknöpft, dass Peres wusste, der Kerl bewahrte ein Geheimnis.
Olsin antwortete nicht. Seine leeren Augen starrten den Fußboden an.
„Was machen Sie eigentlich beruflich?“, wechselte Peres das Thema.
„Ich bin Hausmann und versorge meine Töchter“, antwortete Olsin. Ein Lächeln, das die hellen Augen nicht mit einbezog, umspielte seine Lippen
„Sie müssen wissen, ich bin...blind.“
„Irgendwas ist faul hier“, stampfte Peres wütend in die Holzdielen.“ Und ich bin mir nicht mal sicher, ob es mit unseren Mädchen etwas zu tun hat.“
Joanne nickte. Auch sie war mutlos. Fantasie hin oder her. Irgendwelche Zeitreisen durch Steinkreise sah man im Kino. Aber in der Wirklichkeit? Sie spürte die verbissene Angst der Dorfbewohner. Ihre Resignation. Was steckte dahinter?
„Der Olsin ist blind wie ein Maulwurf? Wussten sie das?“, unterbrach Peres ihre Gedanken.
Joanne schüttelte den Kopf.
„Seine Frau erwartet ein Kind. Ausgerechnet an Allerheiligen!“ Peres raufte sich die Haare.
„Er wünscht sich einen Sohn und ich suche einen Kindermörder, der vor 2000 Jahren sein Unwesen trieb. Das ist doch lächerlich!“
„Verdammt!“, rief Joanne aus. Sie war nach Peres Ausbruch in den Schankraum gegangen. Auch sie konnte ihren Unmut einfach nicht verbergen.
Die Frau ihr gegenüber zuckte zusammen.
„Es ist wie eine Wand. Nur Schweigen. Keinen Dorfbewohner scheint es zu interessieren, wie die toten Kinder in den Steinkreis gekommen sind. Was verbergen sie. Diese Angst. Wovor?“
Die Frau antwortete nicht. Sie faltete ihre Hände. Sie betete kurz einen Rosenkranz.
„Wollen Sie noch einen Tee?“, fragte sie, nachdem sie die Schnur wieder in der Rocktasche verstaut hatte.
„Joanne drehte ihren leeren Becher in den Händen.
„Wunderschön“, sagte sie. „Handgearbeitet?“
Brad nickte. „Mein Mann liebt es, daraus Tee zu trinken. Sie liegen so schön in der Hand.“
Joannes Augen wanderten zur Vitrine, in der die Becher aufgereiht standen. Für einen kurzen Moment glaubte sie, Totenschädel zu sehen.
Als Braswen ihre erneute Schwangerschaft bemerkte, war ihr jüngstes Mädchen gerade knapp drei Monate alt. Sie ging zu Olween, der Kräuterhexe.
„Gib mir einen Trank, um Aneas Bann zu brechen“, schluchzte sie.
Die Alte schüttelte ihr weises Haupt.
„Anea war eine mächtige Druidin. Um die Seelen deiner Töchter zu retten, musst du sie enthaupten.“ Olween reichte ihr ein kleines Gefäß.
„Bereite aus den Kräutern einen heißen Sud. Wenn du mit Oisin den Trank aus den Schädeln der Kinder einnimmst, werden sie gesegnet sein und in die Anderswelt übertreten.“
Braswen ging in der Nacht in das Zimmer der Mädchen und tötete sie während sie schliefen. Mit einem Schlachtbeil für die Lämmer enthauptete sie ihre Leichen und versenkte sie im Hochmoor. Die Köpfe verwahrte sie. Später würde sie die Schädel bearbeiten, bis sie schön in der Hand lagen. Oisin würde die blankpolierten Flächen zu schätzen wissen, wenn er den Sud trank.
Joanne kniff die Augen zusammen. Ihre Nerven spielten ihr einen Streich. Die Glasscheiben der Vitrinen waren blind vor Schmutz.
„Sie haben sehr viele“, sagte sie.
„Insgesamt sind es einhundertzweiundvierzig“, bestätigte Brad. Sie drehte wieder ihre Perlenschnur zwischen den Fingern. Joanne fühlte deutlich, dass Brad irgendetwas belastete.
„Was haben Sie“, fragte sie daher.
Brad strich ihr Haar aus dem Gesicht. Sie war nervös. Unruhig wanderten ihre Augen durch den Raum.
„Es ist nichts“, antwortete sie eine Spur zu hastig für die erfahrene Polizistin.
Joanne sah, wie sich feine Schweißperlen auf Brads Stirn bildeten.
Plötzlich tat ihr die schwangere Frau leid.
„Wovon leben sie eigentlich?“, fragte sie. Das Leben in den Highlands war karg. Die meisten jungen Menschen verließen die Gegend. Jedes dritte Haus war bereits verfallen. Nur die Alten verharrten am Ort, starrten mit stumpfen Blicken auf die raue See, die unter den Klippen auf weißen Sand anlandete.
Brad holte scharf Luft. „Warum fragen sie mich das. Sie sehen doch wie wir leben!“, stieß sie hervor. Sie sah Joanne zum ersten Mal fest in die Augen. Joanne sah wie Brad versteinerte. „Ich möchte ein Geständnis ablegen.“
Grüne Augen blitzten die Polizistin an.
Joanne fühlte sich unbehaglich. Ihr Polizisteninstinkt hatte sie zwar nach Schottland geführt, doch sie war nicht darauf vorbereitet, was Brad ihr nun erzählte.
„Hier zu leben ist furchtbar. Es gibt keine Arbeit. Nur verarmten Stolz. Mein Mann gehört zum alten Adel der Curoi, wünscht sich einen Sohn. Jedes Mal ist er enttäuscht, weil es nur ein Mädchen ist. Als ob es etwas ändern würde!“
Brad schlug die Hände vors Gesicht.
„Ich habe sie ausgesetzt.“
Joanne starrte fassungslos auf die Frau.
„Aber ihre Töchter sind doch hier!“
Die Mädchen tobten durch den Schankraum. Das Baby krähte vor Vergnügen in seiner Wiege.
„Ich wollte ihnen ihr Schicksal ersparen.“ Brad schluckte. Für einen Moment herrschte Schweigen. Was meinte die Frau?
„Brad weinte. „ Hier gibt es keine Zukunft für uns. Ich musste es tun.“
Joanne sah wie verstört Brad war: „Was mussten Sie tun?“, fragte sie, weil Brad ins Stocken geraten war.
Brawsen hatte geglaubt, einen Schlussstrich gezogen zu haben, als sie ihre Mädchen geopfert hatte. Ihr fünfzehntes Kind war wieder ein Mädchen. Sie konnte es nicht übers Herz bringen, auch dieses zu töten. So rief sie die Götter an.
Brigit, die Fruchtbarkeitsgöttin konnte Braswen ebenso nicht helfen. Selbst Belenus, Gott über Leben und Tod, waren die Hände gebunden. Lug, der Sonnengott hatte Erbarmen mit Braswen und sandte ihr die Amme Tailtiu. An Samain gebar Braswen Oisins Töchter. Jedes Jahr nahmen die Geister der Anderswelt das älteste Mädchen mit in ihr Reich. Zur Erinnerung an das Kind setzten die Geister seinen Kopf auf einen Pfosten.
Doch die Schultern, die eben noch vor Kummer bebten, strafften sich.
„Ich habe meine Kinder nur zurückgeholt“, antwortete Brad.
„Furchtbare Menschen“, schimpfte Peres und zupfte an seinem Mantelkragen.
Graue Wolken senkten sich bleiern, als Peres und Joanne mit dem ramponierten aber wieder fahrbereiten Landrover über die Piste des Hochmoores holperten. Sekundenschnell hüllte der Nebel alles in ein schemenhaftes Grau und verhinderte so einen Rückblick im Spiegel.
„Es ist, als ob alles hier in eine Agonie gefallen ist. Hat die Gesellschaft schuld?“
„Die Mädchen leben. Das ist die Hauptsache“, antwortete Joanne. „Ob die Mädchen hier oder die Menschen allgemein in ihrer Heimat eine Zukunft haben oder nicht, ist ein anderes Blatt der Geschichte.“
„Das ist wohl wahr“, sagte Peres. „Und nun ein Fall fürs Vormundschaftsgericht.“
„Ob das Schicksal der Moorleichen aufgeklärt wird?“, fragte Joanne
„Das ist Aufgabe der Archäologen “, brummte Peres. Er freute sich auf London. Für seine Frau hatte er als Souvenir handgefertigte Teebecher im Gepäck.