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Der freie Würfel
Mitten im Wald erhob sich ein niedriger Gebirgszug. Um ihn zu passieren, musste ein Wanderer das Gebirge umrunden, was eine Reise von vielen Tagen bedeutete, oder er konnte durch eine tiefe Klamm zwischen den Bergen gehen.
Durch diese Klamm ritt ein Trupp Soldaten, schwer gepanzert und mit großen, kräftigen Pferden. Sie führten ein schwarzes Wappen mit einem silbernen Adler darauf. Drei Tage brauchte man, um die Klamm zu durchqueren, und am zweiten Tag trafen sie auf den Langen Mann, der ihnen allein entgegenwanderte, und nahmen ihn fest.
"Was haltet Ihr mich fest, edle Herren von Cad Arras?", fragte da der Lange Mann.
"Du hast uns wohl am Wappen erkannt", antwortete der Anführer des Trupps, ein kleiner, jedoch breitschultriger Mann mit scharfen Gesichtszügen, tiefschwarzem Haar und einem ebensolchen Bart. "Und genau dies ist der Grund, aus dem wir Euch nicht gehen lassen können."
Da schüttelte der Lange Mann unwillig den Kopf und antwortete: "Ich habe gewiss schon vieles verstanden und manches akzeptiert, was ich nicht verstand. Doch was veranlasst einen Paladin von Cad Arras zu solch unedlem Tun?"
Bitter lachte der Truppführer daraufhin. "Paladine waren wir vielleicht, jetzt sind wir nur noch Rebellen, seit der Tyrann Oleard die Stadt für sich nahm! Wir können nicht zulassen, dass Ihr wisst, wohin wir ziehen, denn das würde unsere Freiheit gefährden. Und die Freiheit ist unser höchstes Gut. Noch sind wir die freiesten Menschen der Welt", sagte er stolz.
"So schätzt Ihr denn Eure Freiheit höher als die meine, und das Recht dazu sei Euch unbenommen. Indes, die Freiesten seid Ihr nicht, denn mich begleitet jemand, der freier ist als Ihr je sein könnt."
Sofort merkten die Soldaten auf. Ein Handzeichen ihres Anführers bedeutete ihnen, die Umgebung abzusuchen, doch die steilen Klippen der Klamm ließen kein Versteck zu. Daher fanden sie nichts.
"So sprich", verlangte der Rebellenhauptmann, "wo versteckt sich Euer rätselhafter Freund?"
"Versprecht, mich ziehen zu lassen, und gebt mir Essen und Obdach für die Nacht, und ich werde es Euch erklären", gab der Lange Mann zur Antwort.
Da schnaubte der Anführer verächtlich. "Zu fordern habt Ihr nichts. Doch rasten müssen wir in jedem Fall. Eure Geschichte wird uns nicht schaden."
So schlugen die Soldaten ein Lager in der Schlucht auf, und über dem Feuer bereiteten sie eine nahrhafte Suppe aus Trockenfleisch und Beeren zu, von der der Lange Mann einen Teller voll erhielt.
Dann forderte der Anführer ihn auf: "Jetzt erzählt, wer mehr Freiheit genießt, als wir, die wir vogelfrei sind."
Anstatt einer Erklärung zog der Lange Mann einen Würfel aus der Tasche, von der Art wie ihn die Pelzer des Waldes zum Spielen verwenden.
Er hielt ihn auf der ausgestreckten Hand und sprach: "Schaut hier, dieser Würfel hat zwanzig Seiten, die mit den Symbolen der zwanzig Tiere des Waldes beschriftet sind." Er warf den Würfel in die Luft und ließ ihn vor dem Feuer ausrollen.
"Seht!", rief er. "Wer von Euch hätte gewusst, dass der Würfel das Symbol des Marders zeigen würde? Und was", sprach er zu den Männern gewandt, "wird er als nächstes zeigen?"
"Vielleicht den Kuckuck?", ließ ein großer Soldat vernehmen. Er fuhr sich durch den Bart und sah sich beifallheischend zu seinen Kumpanen um, die daraufhin lachten.
Der Lange Mann rollte den Würfel ein zweites Mal.
"Nun", sagte er, "es ist das Eichhorn. Erneut: Wer hätte es sagen können?"
Die Krieger sahen sich ratlos an, doch niemand antwortete.
"Keiner kann es vorhersagen. Der Würfel", rief der Lange Mann eindringlich, "ist vollkommen frei. Niemand kann ihn beeinflussen, es sei denn er verstümmelt ihn, und dann ist er kein Würfel mehr. So ist es auch mit dem Menschen, jede Beraubung seiner Freiheit nimmt ihm ein Stück seines Menschseins. Doch ist kein lebender Mensch so frei wie der Würfel, und die Toten sind es erst recht nicht. Ein jeder unterliegt mannigfachen Zwängen und Pflichten, und bestehen sie auch nur darin, das eigene Leben zu erhalten." Schweigend und betroffen sahen ihn die Soldaten nun an. Gebannt lauschten sie seiner Rede. "Sollte nur einer je versuchen, die Freiheit des Würfels zu erlangen, so wäre es sein sofortiges Ende, denn er müsste jede Bande, die ihn an sein Leben und an seine Mitmenschen schmiedet durchtrennen und sich der völligen Beliebigkeit anheimgeben. Und das ist der Tod, die endgültige Bestimmung!"
Aufruhr brach los und der bärtige Soldat rief: "Töten wir ihn sofort, denn der Wahnsinn spricht aus ihm! Erlösen wir ihn von seinem Toben, sonst wird er uns gewiss verraten!"
Einige Männer sprangen auf und zogen ihre Schwerter.
"Es ist gut!", befahl plötzlich der Anführer. Das Geschrei erstarb. "Dieser Mann ist zweifellos wahnsinnig. Doch wird niemand seinem Gefasel Glauben schenken, ob er uns nun verrät oder nicht. Lassen wir ihn ziehen, dann kann er im Wald ein Würfel sein!"
Darauf lachten die Soldaten grölend und trieben den Langen Mann vor sich her, bis sie ihn im Gestrüpp des Waldes verloren. Seinen Würfel jedoch behielt der Anführer der Paladine von Cad Arras heimlich für sich.