Der fremde Mann
Das kleine Mädchen spürt es ganz genau, heute würde der fremde Mann sie wieder holen. Wenn er kam, war dem Kind jedes Mal ein bisschen bange und jedes Mal ein bisschen mehr. Aber heute hielt es die Angst nicht mehr aus.
Das Kind rennt aus der großen Wohnküche, die beiden Stufen hinunter über den kleinen Flur, schiebt die Glastür auf, läuft weiter durch den hellen kühlen Wintergarten, vorbei an der riesigen Zimmerlinde. Sie gibt der Tür einen Stoß und flüchtet in das dunkle Wohnzimmer. Gleich links hinter dem großen Tisch duckt es sich in der Ecke neben das alte schwarze Buffet. Mit dem Gesicht zur Wand und die Hände vor die Augen gepresst, schreit und weint es aus Leibeskräften bis die Wangen vor Aufregung rot und heiß sind. Hier im Versteck wird es bleiben und nie mehr herauskommen.
Mit Opa spielt die Kleine oft Verstecken in der großen Scheune oder Schreinerwerkstatt. Opa stellt sich manchmal dumm an. Dann muss es ihn dauernd rufen: „Kuckuck-such-mich-doch“. Was macht er nur? Opa klopft und scharrt herum, als habe er mit dem Suchen noch nicht angefangen. Es dauert so lange, bis dem Mädchen mulmig wird. Aber manchmal findet Opa es schneller als gedacht. Dann erschrickt es fürchterlich, stößt kleine spitze Schreie aus und wird dazu noch von Opa durchgekitzelt. Mit ihrem Gekreisch und Gelächter machen sie so viel Radau, dass die dicke Oma das Küchenfenster aufreißt, sich herausbeugte und über den Hof ruft, was denn passiert sei. Opa brüllt „Nichts!“ zurück: Und Oma wettert: „Was macht ihr wieder für Dummheiten? Man denkt ja, es wird Jemand umgebracht! Die Kleine bekommt davon Angst, schlechte Träume oder sonst noch was.“ Opa zieht eine Schnute, winkt im Gehen mit der Hand ab, murmelt ein „Ach“ vor sich hin und widmet sich wieder seiner Arbeit auf dem Bauernhof. Da lacht und gluckst die Kleine erst recht, weil die Kabbeleien zwischen Oma und Opa so lustig sind. Oft sagt Opa am Ende ihrer Debatten: „Deine Oma ist eine gescheite Frau und deshalb hat sie meistens Recht.“ Dabei guckt er so ernst, dass das kleine Mädchen ihm glaubt. Und Oma erwidert in breitem Wetterauer Dialekt: „Aaler Schlächtschwätzer“. Sie guckt auch ernst, aber ihr glaubt sie nicht, weil die Oma den Opa genau so lieb hat wie sie.
Nur an den seltenen Sonntagen, wenn der fremde Mann das kleine Mädchen abholt, werden die Streitigkeiten zwischen Oma und Opa wirklich ernst. Schon morgens beim Aufstehen herrscht eine eigenartige Stimmung. Oma wäscht das Kind eilig und ruppig, ihre Haarzöpfe werden stramm geflochten und das beste Kleidchen angezogen. Sie essen früh zu Mittag und die Küche wird schnell aufgeräumt. Die Großeltern setzen sich anschließend nicht wie üblich in das Wohnzimmer, um aus dem Fenster schauend die vorübergehenden Leute zu beobachten und später über ihrer Zeitungslektüre einzuschlafen. Nein, es ist alles anders und nicht so langweilig wie an normalen Sonntagen. Alle warten, nervös und angespannt.
Das Kind nimmt die aufgeregten Diskussionen wahr und hört die immer wieder kehrenden Fragen: Was er wohl mit der Kleinen macht? Bekommt es genug zum Trinken und Essen? Es wird sich den Magen verderben. Er wird es zu spät nach Hause bringen, nass gepinkelt und ausgekühlt. Es wird aufgedreht und übermüdet heim kommen. Eine Erkältung oder Ohrenentzündung wird von dem Ausflug übrig bleiben. Schlimm genug, dass es die Ohrenprobleme seiner Familie geerbt hat. Er ist verantwortungslos. Er ändert sich nicht. Es wäre das Beste, wenn er das Kind nicht mehr abholt. Das muss ein Ende haben. „Mein armer Schatz“, sagte die Oma „du willst bestimmt nicht mitgehen. Du brauchst nicht, wenn du nicht willst, hörst du? Aber sei schön brav, wenn du mitgehst. Sag, wenn du nach Hause willst. Du Armes, verstehst das alles noch nicht, kannst ja nichts dafür.“ Das Mädchen wird getätschelt und geschmust. Es wird viel geredet, aber nichts erklärt.
Das große hölzerne Hoftor schlägt zu. Nein, heute nicht. Sie wird nicht mitgehen, nie mehr, damit es diese Sonntage nie mehr gibt. Hier hinten im letzten Zimmer, in der dunklen Ecke auf dem Boden wird sie kauern bleiben und sich verstecken, das erste Mal richtig und ernsthaft, damit sie nicht gefunden wird. Niemals mehr.
Eine kleine Ewigkeit hockt es traurig und angstvoll in der Ecke. Das Verlassensein dauert endlos lange, bis er es, begleitet von einem gestöhnten „Aachch“ hoch hebt und fest an seine Brust drückt. Er schimpft und ist zornig. „Du darfst nicht weglaufen, nicht vor dem Gockelhahn, nicht vor dem Eber, vor Niemandem, du kleiner Dummkopf. Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Du brauchst keine Angst zu haben, wenn ich da bin. Ich beschütze dich doch!“ Sie lässt sich schlaff in seine Arme fallen, gräbt den Kopf in das dunkelgrüne Flanellhemd, spürt seine Körperwärme und riecht den Schweiß. Sie fühlt sein klopfendes Herz ganz nah am eigenen. Aus der Ferne hört es Oma mit Jemandem streiten. Dann fällt das Hoftor laut ins Schloss.
Die Kleine schluchzt noch leise vor sich hin, zittert ein wenig, jappst nach Luft und lauscht müde dem Gebrummel des alten Mannes. „Nein“, schüttelt er den Kopf, „ich bin nicht wirklich böse, aber ich habe die Verantwortung für dich, muss mich kümmern. So weit hätte es gar nicht erst kommen müssen.“ Opa wiederholt ständig die Worte. Er klingt verzweifelt, er hat wässrige Augen. Es weiß, der zornige Opa hat nur Angst um sein Mädchen und gerade jetzt hat er es besonders lieb.
Seit diesem schlimmen Tag kommt der fremde Mann nicht mehr. Und des folgen nur noch die gewohnten, ereignislosen Sonntage.
*
Lange Zeit später, das Kind geht noch nicht zur Schule, sagt Oma: „Du bist mein großes Mädchen und darfst alleine Brot kaufen.“ Der Bäcker ist nicht weit entfernt, sie braucht keine Straße überqueren. Es ist ganz einfach. Sie läuft zum hohen, grüne Holztor hinaus, am monströsen Kriegerdenkmal vorbei, über den ausgedehnten Tanzhof, wo jedes Jahr die Dorfkirmes stattfindet, und dann die wenigen Stufen zum Bäckerladen hoch. Und schon steht sie stolz vor der Theke.
Die Bäckerin lobt, wie groß sie schon sei, was für lange Haarzöpfe sie habe und dass Oma bestimmt froh über ihre Hilfe ist. Die Kleine lächelt verschämt und hofft auf ein geschenktes Bonbon. Dann würde sie auf dem Heimweg die Brotkruste nicht anknabbern.
„Schau mal an“, sagt der Mann neben ihr, beugt sich herunter und streicht ihr über den Kopf, „was habe ich doch für eine hübsche Tochter“. Seine Stimme klingt angenehm fröhlich. Die Bäckerin spricht mit dem Mann, er antwortet. Das Kind wird etwas gefragt. Aber sie hört nicht zu, sondern starrt auf diesen jungen Mann mit dem vollen Haar und dem strahlenden Lachen. In ihren Ohren klingen seine Worte „hübsche Tochter“ noch nach. Sie lächelt ihn gedankenverloren an und reagiert erst wieder, als er etwas sagt, was sich anhört wie „dich gerne einmal sonntags abholen...“.
Sie greift nach dem Brot und stürzt aus dem Laden. Die Bäckerin ruft ihr etwas nach. Sie rennt so schnell wie noch nie in ihrem Leben, direkt nach Hause. Im Hof rast sie stolpernd über das Kopfsteinpflaster, an den Ställen vorbei, die schmale Steintreppe hinauf, in die Küche hinein. Sie wirft mit Schwung den Brotlaib auf den Tisch, klettert auf die lange Holzbank vor dem Fenster und schaut hinaus. Das Herz pocht bis zum Hals und schnürt ihr die Kehle zu. Aber es steigen keine Tränen auf. In ihrem Kopf dreht sich alles vor Freude, Stolz, Neugierde und Angst. Mit offenem Mund kniet sie angespannt und stumm auf der Küchenbank und stiert hinaus zum Hoftor. Oma steht neben ihr, die Arme in die Hüften gestemmt und redet aufgeregt auf sie ein. Soll Oma sie doch mit Fragen löchern, schimpfen oder drohen. Sie schweigt, sie wird ihr nichts erzählen und das Geheimnis für sich bewahren, dass sie den fremden Mann, der ihr Papa ist, endlich wieder gesehen hat.