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Der Fremde

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24.06.2001
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Der Fremde

Wenn er in die S-Bahn einstieg, die ihn von seiner kleinen schäbigen Wohnung in die Innenstadt brachte, fingen für ihn die Probleme an. Er unterschied sich fast nicht von den Menschen, denen er auf der Straße begegnete, war seit zwei Jahren glücklich verheiratet, hatte zwei Kinder und war stolz auf seinen Beruf. Vor einem halben Jahr hatte er die Stelle als Verkäufer in einem Supermarkt in der Einkaufszeile der Stadt bekommen und obwohl er nur ein klägliches Gehalt bekam, machte ihm sein Beruf Freude. Die Familie wurde auch von seiner Frau finanziell unterstützt, so dass sie sich einigermaßen über Wasser halten und sich von Zeit zu Zeit die eine oder andere Annehmlichkeit leisten konnten. Seine Frau ging putzen. Ein großes Bankhaus hatte sie nach zähen Verhandlungen und sich scheinbar in die Ewigkeit erstreckenden Bedenkpausen dazu entschlossen, die hübsche Person einzustellen. Früher hatte sie an einer Universität im Kongo gearbeitet und war mit zukunftsweisenden Forschungsprojekten betraut worden. Wie für ihren Mann hatte sich auch für sie einiges geändert. Ihre Familie war im Kongo von Rebellen bedroht und dazu gedrängt worden, ihr Heimatland zu verlassen. Als eines Nachts ihr kleines Eigenheim, das ihr Mann und einige Freunde aus dem Dorf gemeinsam aufgebaut hatten, in Flammen stand, war es Zeit für sie zu gehen. Heute noch stiegen ihr Tränen in die Augen, wenn sie an alte Zeiten und die Beschaulichkeit ihrer Heimat dachte. Doch das war nun alles vorbei. Denn in dem Land, in dem sie jetzt wohnten, waren sie Ausländer. Sie waren Schwarze. Und sie waren bedroht. Nur diesmal waren es nicht die Rebellen. Des öfteren waren sie eingeschüchtert und beleidigt worden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigten. Was aber noch viel mehr weh tat, war, wie sie die Leute mieden und ihnen auswichen, während sie auf sie zugehen wollten. Frau Mbuku erinnerte sich an eine besonders demütigende Situation im Zug. Als sich ein kleines Kind auf einen freien Platz neben sie setzte, erschien bald darauf dessen Mutter und zerrte es vom Sitz. Sie belehrte es: "Das ist ein Neger. Komm, geh weg da! Sofort!" Es war auch schon vorgekommen, dass sie von Deutschen angegriffen wurden, nur weil sie nicht so aussahen wie viele andere Menschen in ihrem neuen Heimatland. Einmal waren sie auf dem Weg nach Hause von vermummten Jugendlichen umstellt worden, die sie beleidigten und auf die beiden einschlugen: als sich Herr Mbuku gegen die Faustschläge zur Wehr setzte, sich schützend vor seine Frau stellte und um Hilfe rief, ergriffen die Angreifer die Flucht. Im Wegrennen schrie einer: "Das zahlen wir dir heim!"
Frau Mbuku machte sich Sorgen. Ihr Mann war heute abend nicht nach Hause zurückgekehrt, obwohl er sonst immer äußerst pünktlich und verlässlich war. Sie wusste nicht, ob und wenn ja, was ihm zugestoßen war. Denn als sie am Fenster sitzend in die sternenklare Nacht hinaussah und an ihre Heimat dachte, lag ihr Mann bereits vor einer Wohnung. Er röchelte und rief ihren Namen noch bevor er starb. Er war durch die halbe Stadt gejagt worden, als er die S-Bahn verließ. Menschen, die ihm und seinen Peinigern entgegengekommen waren, hatten weggeschaut. Er hatte Schutz gesucht, indem er die Klingel eines Hauses drückte, an dem er vorbeigetrieben wurde. Doch niemand öffnete, obwohl die Hausbesitzer an den Fenstern standen und den Fremden betrachteten. Er konnte sogar Kinderlachen aus dem Innern vernehmen. Sie standen immer noch dort als die Peiniger kamen und ihm die Kehle mit einem Schnappmesser durchtrennten. Es waren Deutsche wie du und ich - und sie waren feige. Als sich die Augen des Mannes zum letzten Male schlossen, dachte er an seine kleine Familie und an die Sonne Afrikas. Er hatte große Angst um seine Kinder. Und er konnte den beißenden Rauch ein letztes Mal spüren, der von seinem brennenden Haus aufstieg, ein letztes Mal die Trommeln und Gesänge aus seinem Dorf hören, als er den wahren Frieden gefunden hatte. Die Sterne funkelten friedlich über Afrika. Denn die Sonne war lange schon untergegangen, die Trommeln und Gesänge verstummt.

 

Ich finde diese Geschichte lobenswert. Sie animiert zum Nachdenken. Ebenfalls kann man behaupten dass du einen hervorragenden Schreibstil hast was mir übrigens auch schon bei deinen anderen Kurzgeschichten aufgefallen ist. Die Geschichte "der Fremde" nehme ich an soll wie die Geschichte "Gänseblümchen" nicht nur Stoff zum Schmökern bieten sondern auf eine neue Situation aufmerksam machen. Dies ist dir gut gelungen

 

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