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Der Frosch und der Storch

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16.11.2008
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Der Frosch und der Storch

Es dämmerte, die Wiese glitzerte vom Morgentau. Der Storch schritt durch das hohe Gras und suchte nach Nahrung. Mit seinem spitzen Schnabel schob er zwei Grasbüschel auseinander. Auf der dahinter liegenden Straße bot sich ihm ein verlockender Anblick.

Der Frosch lag auf der Straße und schien zu schlafen oder zumindest zu dösen. Anders war nicht zu erklären, dass er keinerlei Fluchtversuche unternahm, gleichwohl sein Gesicht exakt dem Standpunkt des Storches zugewandt war. Vorsichtig ging der Storch in die Hocke und schlich sich, die Deckung eines jungen Baumes ausnutzend, weiter vor bis zum Straßengraben. Gerade wollte er sich auf sein Opfer stürzen, da ertönte ein gequältes Quaken.

"Na du großer Vogel, willst mich wohl fressen? Brauchst dich gar nicht so anzuschleichen, weghüpfen werd' ich dir ohnehin nicht mehr."

Der Storch legte den Kopf schräg. Irritiert richtete er sich in seinem Versteck auf und besah sich den Frosch genauer. Tatsächlich: Sein linkes Bein war ganz platt und klebte geradezu an der Straße.

"Scheint dich schwer erwischt zu haben", stellte der Storch unberührt fest und stakste neugierig auf die Straße.

"Das wird schon. Wenn du mich fressen willst, kann ich dich wohl kaum davon abhalten. Nett wäre es allerdings, wenn du damit noch ein Weilchen warten würdest. Vielleicht setzt du dich solange zu mir und versüßt mir meine letzten Minuten mit ein wenig Unterhaltung?"

Der Storch hatte es durchaus nicht eilig. Er setzte sich dem Frosch gegenüber und eine ganze Weile hockten sie beide dort, ohne dass einer dem anderen etwas mitzuteilen gehabt hätte.

"Wie isn das passiert?", fragte der Storch irgendwann unvermittelt, während er gelangweilt die Umgebung betrachtete.

"Weißt du, ich bin einfach nicht mehr der Jüngste", antwortete der Frosch. "Gerade war ich auf dem Weg zu meinem Lieblingstümpel. Natürlich bin ich diesen Weg schon oft zuvor gegangen und kannte die Gefahr dieser Straße. Bisher ist es mir jedes Mal gelungen, im richtigen Zeitpunkt schnell genug hinüber zu hüpfen. Doch meine Beine sind mittlerweile auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Und so liege ich nun hier."

"Muss ganz schön weh tun", entgegnete der Storch. Der Frosch blickte ihn nur an und lächelte hintergründig. "Aber viel auszumachen scheint es dir wohl nicht?", fügte der Storch hinzu. Es war nicht so, dass er wirklich Mitleid empfand. Schließlich sprach er hier mit seinem potentiellen Frühstück. Die Situation faszinierte ihn lediglich.

Doch dem Frosch war das Thema durchaus ernst. "Weißt du... einst habe ich gesehen, wie meine Großmutter auf dieser Straße starb. Wenig später ging auch mein Großvater dahin. Und erst vor zwei Jahren sind Vater und Mutter ein paar Meilen südlich von hier überrollt worden. Es ist eben das Schicksal von uns Fröschen, und wir tragen es mit Würde und Ehrfurcht."

Der Storch sah den Frosch nur fragend an. Bislang war ihm nie in den Sinn gekommen, dass ein Frühstück zu solch verqueren Gedanken imstande sein könnte.

"Ich sehe schon, alter Vogel, du verstehst nicht ganz, was ich meine. Weißt du: Ein paar hundert Meter entfernt von hier tummeln sich in meinem Tümpel viele hundert Kaulquappen, meine Kinder. Schon bald werden auch die Jüngsten zu stattlichen Kröten heran gewachsen sein und Nacht für Nacht ein herrliches Gequake veranstalten. Sie werden meine Erben sein und mein Vermächtnis. Ich selbst habe mein Leben gehabt und bin nun bereit, mich vom großen Wagen holen zu lassen."

Aha, ein ganzer Teich voller junger, zarter Frösche, schoss es dem Storch durch den Kopf. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen. Laut sagte er: "Vom großen Wagen holen lassen? Platt wälzen wird er dich, hältst du das für ein Vergnügen?"

Der Frosch schüttelte müde mit dem Kopf. "Ihr Vögel meint, ihr wäret etwas Besseres, nur weil ihr groß seid und fliegen könnt. Ihr fliegt vor dem großen Wagen davon und spielt mit seinen Aufwinden. Glaube mir: Eure Unbekümmertheit ist kein Segen, sie ist euer Fluch. Wir Frösche, die wir voller Stolz unser Schicksal zu empfangen bereit sind, werden durch den großen Wagen zwar von unserer weltlichen Hülle getrennt. Doch unsere Seele trägt der große Wagen mit sich, und während das Sterbliche auf der Straße verbleibt und verkommt, geht unser Innerstes ein in das Gelobte Land und vereint sich mit dem Kollektiv unserer Ahnen, geboten durch die unendliche Güte des großen Wagens!"

Der Storch legte den Kopf schräg und schaute sich genau die verklärten Gesichtszüge des Frosches an. Handelte es sich um einen obskuren Trick, dem Versuch seines Frühstückes, dem Unausweichlichen doch noch zu entkommen?

"Sag mal Frosch... was macht den dich so sicher, dass es sich bei alledem nicht um einen großen Mumpitz handelt?"

Spöttisch grinste der Frosch dem Storch entgegen, und wenn er nicht gerade mit aller Mühe eine erneute Welle des Schmerzes zu unterdrücken versucht hätte, so hätte er wohl lauthals losgelacht. "Du machst mir Spaß, alter Vogel!", quakte der Frosch, "es weiß doch wohl jeder, dass..."

In diesem Moment weiteten sich die Augen des Frosches und er blickte an dem Storch vorbei. Ein ehrfürchtiges Lächeln glättete Seine Züge, und mehr zu sich selbst sprach er: "Ja, großer Wagen, nimm mich mit..."

Irritiert drehte der Storch den Kopf. Hinter ihm tauchten schlagartig zwei gleißende Lichter auf. Mit irrsinniger Geschwindigkeit kamen sie näher. Heiser krächzend schlug der Storch mit den Flügeln und konnte gerade noch im Aufwind des vorbei rasenden Autos genügend Höhe gewinnen, um nicht von dem Fahrzeug erfasst zu werden.

Der Storch sog hastig die frische Morgenluft ein und kreiste einige Male über der Straße, bis er sich von dem Schrecken erholt hatte. Langsam ließ er sich wieder hinab gleiten, nicht ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass kein weiteres dieser Fahrzeuge in unmittelbarer Nähe verkehrte.

Wenige Meter vom Ort des merkwürdigen Gespräches entfernt landete der Storch. Dort, wo zuvor der sterbende Frosch gesessen hatte, erinnerte nun lediglich ein schmutziger, blutiger Matschklumpen an den kleinen Leckerbissen. Das Auto hatte ihn voll erwischt und regelrecht zermalmt.

Ob es das wohl war, was der Frosch mit "Seele" und seinem "Innersten" gemeint hatte? Der Storch legte den Kopf schräg. Falls dem so war, so wäre der Frosch sicherlich enttäuscht gewesen von dem Ergebnis seines Unternehmens. Denn anstatt diese Seele mitzunehmen, hatte der große Wagen sie lediglich über zwei bis drei Schnabellängen die Straße entlang verteilt.

Freilich war aber anzunehmen, dass der Frosch zu keinem Gefühl der Enttäuschung mehr imstande war. Denn viel war von ihm nicht übrig geblieben. Tatsächlich war das Bild ein sehr Unappetitliches, so dass der Storch beschloss, den Frosch nicht zu verspeisen. Stattdessen ergriff er mit dem Schnabel das größte noch zusammenhängende Stück des kleinen Körpers und zog es an den Straßenrand, bis auf die andere Seite des Grabens. Dort stand ein kleines Holzkreuz, geschmückt mit frischen Blumen und einer erloschenen Kerze. "Seltsam", dachte der Storch, "das war mir zuvor noch gar nicht aufgefallen... wer weiß, vielleicht hatten einige dieser verblendeten Frösche es ja eigens für ihren lebensmüden Freund aufgebaut."

Der Storch legte den Frosch direkt vor das Kreuz und blickte noch einmal auf ihn hinab. Irgendwie hatte er ihn lieb gewonnen, den merkwürdigen Kauz. Dann erhob er sich in die Lüfte und begab sich auf die Suche nach dem Teich, um die kleinen Froschkinder zu fressen.

 

Hi Carne,

ich mag Fabeln und deine gefällt mir auch. Einige Wendungen finde ich überraschend, hatte ich doch damit gerechnet, der Storch würde am Ende überfahren, der Frosch aber weiterleben. Insofern finde ich es gelungen, dass der Frosch den Storch sogar vor dem Auto warnt.
Okay, dann wäre es ja auch der Effekt in eine andere Richtung gegangen.
Einige Details:

Seltsam, dachte der Storch, das was mir zuvor noch gar nicht aufgefallen?
das war mir ... (Warum am Ende ein Fragezeichen?)
Der Storch legte den Frosch direkt vor das Kreuz und blickte noch einmal auf ihn herab
hinab
Dann erhob er sich in die Lüfte und begab sich auf die Suche nach dem Teich des Frosches, um seine Kinder zu fressen
dessen Kinder (sonst frisst er kleine Störche)

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Carne,

auch mir gefiel Dein kleines Geschichtchen ausnehmend. Einziger Wermutstropfen: ein Storch der sich setzt und mit den Knien wippt? Naja, ein störchischeres Verhalten hätte mir an der Stelle mehr zugesagt. Aber seis drum.

Das pathetische Gesabbel des überheblichen kleinen Hüpfers ging mir mit der Zeit so auf den Zeiger, dass mich das ende richtiggehend befriedigt hat.

Der Storch legte den Frosch direkt vor das Kreuz und blickte noch einmal auf ihn herab. Irgendwie hatte er ihn lieb gewonnen, den merkwürdigen Kauz. Dann erhob er sich in die Lüfte und begab sich auf die Suche nach dem Teich des Frosches, um seine Kinder zu fressen.
Jawoll, das ist die wahre Lebensphilosophie :naughty:.

Gruß, Pardus

 

Hallo Carne

Fabeln machen immer Spass, wenn sie nicht so furchtbar mit erhobenem Zeigefinger(, oder eben Schenkel oder Flügel,) daher kommen.
Und das hast du mit deiner Geschichte prima hingekriegt. Klar hältst du der Gesellschaft den Spiegel vor, Manager Storch und Gläubiger Frosch spielen ihre Rolle überzeugend und sind irgendwie knuffig.

Einzig das Kniewippen passte nicht und das Holzkreuz war mir zu menschlich eingebaut. Aber sonst war's wirklich ein hübsches Bettmümpfeli.

Gruss.dot

 

Verehrte Kolleginnen und Kollegen,

ich danke für die Korrekturvorschläge. Die meisten davon habe ich soeben umgesetzt. Sehr erfreulich, dass euch die Geschichte gefallen hat.

Ursprünglich sollte es in dem Text um etwas ganz anderes gehen, im allgemeinen Verselbstständigungsprozess ist von meiner ursprünglichen Idee allerdings nur noch ein geschmücktes Holzkreuz am Straßenrand geblieben. Welches demnach tatsächlich menschlichen Ursprungs ist, aber woher sollte ein ignoranter Storch das wissen?

Aloha,

Carne

 

feine geschichte... nur ein hinweis: aus den kaulquappen des frosches werden niemals kröten... da besteht ein kleiner unterschied :)

 

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