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Der Gersinger-Gott-Effekt

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15.04.2002
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Der Gersinger-Gott-Effekt

Suudborough University
1. Dezember 2004

Am frühen Morgen endete die Stille im Labor, als eine Raumpflegerin eintrat und vorsichtig zwischen den Kabeln, Computern und Pizzaschachteln sauber machte. Sie besann sich und räumte letztere weg. In diesem Moment erschien ihr der Heilige Geist. Er entschwebte den Resten einer Thunfischpizza und roch nach Zwiebeln.
»Gott liebt dich, Schwester«, sprach er mit einer Stimme aus destillierter Erotik.
Annie Poland, gerade mal Sechzehn, Jungfrau, ließ den Abfall los, klammerte sich an ihren Besen. Eilig bekreuzigte sie sich.
Der Heilige Geist streckte einen Arm aus, und die gläubige Katholikin spürte den intensivsten Orgasmus ihres Lebens. Sie keuchte, rang nach Luft und hörte ihr Herz hämmern. Stieß den Besen von sich und fiel in die Pizzareste.
»Du bist jetzt eine heilige Kriegerin«, sagte der Heilige Geist, dann verschwand er.
Annie tat dieses spirituelle Erlebnis zuerst als Folge von Übermüdung ab. Einige Jahre und Männer später wusste sie, dass ein solcher Orgasmus nicht von menschlicher Natur sein konnte und schloss sich der Kreuzfahrer-Armee an.


Nahe Ech Cheliff, Algerien
18. August 2009

Die vierte Division von Kardinaloberst Navarro blockierte die Straße nach Algier. Der Widerstand in Algerien übertraf auch nach drei Jahren Kreuzzug alle Erwartungen.
Gegen 13:00 Uhr war der Feldgottesdienst zuende. Annie Poland marschierte frisch gesegnet mit ihren Kameradinnen und Kameraden durch die Mittagshitze zum Mannschaftszelt.
Plötzlich explodierte die Luft. »Deckung!«, schrie jemand, aber da lag Annie schon im Staub, und ihre Kameradin Fi auf ihrem rechten Bein.
»Geh da runter«, zischte sie, während sie ihr Gewehr entsicherte und nach der nächsten vernünftigen Deckung sowie feindlichen Zielen Ausschau hielt. Fi antwortete nicht, weil sie kein Gesicht mehr hatte. Annie fuhr zusammen, dann schob sie die Leiche zur Seite. Es war ein beruhigendes Gefühl, dass nicht ihr eigenes Blut ihre sandfarbene Uniform besudelte.
Abgesehen von vereinzelten Schreien herrschte Stille. Nirgendwo waren Feinde zu sehen. Wahrscheinlich wieder eine Kamikaze-Drohne.
»Antreten«, brüllte jemand, und sofort kam Bewegung in die Soldaten. Annie rappelte sich hoch und lief zu ihrem Platz.
»Dritte Kompanie, stillgestanden!«, kreischte der Spieß und trat dann einen Schritt zurück, um Monsignore Hauptmann Wallow-Sundheim Platz zu machen. Der befahl: »Erster und Zweiter Zug melden Verluste. Dann Razzia im Dorf. Die üblichen Schuldigen. Dritter Zug unterstützt die Sanis. Im Namen des Heiligen Vaters, Amen. Wegtreten!«
Annie meldete den Tod von Schütze Fi Donneway an den stellvertretenden Zugführer, lief noch schnell auf die Toilette und stellte sich dann zum Abmarsch auf. Keiner sprach, aber die Männer vom Zweiten scharrten mit den Füßen. Sie hörten erst damit auf, als Wallow-Sundheim den Abmarsch befahl.
Die Sonne verdunstete unterwegs alle Gedanken. Als der Trupp in Ech Cheliff eintraf und in Fünfergruppen die Häuser stürmte, gab es nur noch den Eifer der Krieger Gottes und den Durst nach Rache. Annie hörte von irgendwoher Schüsse. Schreie. Schon stand sie mit ihrer Gruppe in einer niedrigen, kühlen Wohnung. Ein alter Mann saß auf bunten Kissen auf dem Boden. Abwehrend hob er die Hände, als Gruppenführer Ron ihn anschrie. Annie sicherte mit Jessica den Eingang. Marten und Luca marschierten ins Nachbarzimmer. Der Mann wurde nervös, als er Schreie von nebenan hörte. Jung. Weiblich. Er wusste genau wie die Soldaten, was dort gerade mit den Mädchen geschah. Als er sich hochrappeln wollte, schlug Ron ihn mit dem Gewehrkolben. »Passt auf ihn auf«, befahl er Annie und Jessica, dann ging er nach nebenan.
Das Gesicht voller Blut, kroch der Alte über den Teppich, brabbelte irgendetwas unverständliches. »Stop«, rief Jessica und hob das Gewehr. Als der Alte nicht reagierte, schoss sie ihm in den Kopf.


Amsterdam
8. März 2010

Die Arbeit beim Ersten Heiligen Niederländischen Kommandostab der Kreuzfahrer fand am Schreibtisch vor einem Computerbildschirm statt, weit entfernt von den Frontlinien. Neben Langeweile und Vorgesetzten, die man mit »Eminenz« ansprechen musste, wenn man den Job behalten wollte, nervten vor allem die Überstunden. Auch heute hatte Annie eine Sonderaufgabe zu erledigen – irgendwelche Verstümmelten-Rückführungen – bevor sie zum Gottesdienst konnte.
Endlich eilte Annie hinaus und wurde vor dem Gebäude von ihrer Freundin Karin erwartet. Die Frauen rannten die drei Straßen bis zur Kirche. Sie waren spät dran und bekamen nur noch Plätze in der letzten Reihe, weit weg von der Kanzel, dem Kreuz und dem bunten Osterschmuck. Die Worte des Priesters stürmten auf Annie ein. »Ihr wisst, geliebte Brüder und Schwestern, wie der Erlöser der Menschheit, als er uns zum Heile menschliche Gestalt angenommen hatte, das Land der Verheißung mit seiner Gegenwart verherrlichte und durch seine vielen Wunder und durch das Erlöserwerk, das er hier vollbrachte, noch besonders denkwürdig machte.«
Gebannt fixierte Annie den viele Meter entfernten Pfarrer. Während er sprach, schien Wärme von der Decke in ihren Körper zu tropfen und sich in ihrem Schoß zu sammeln. Sie klammerte sich an die harte Holzbank und verkrampfte ihren ganzen Körper. So etwas war ihr noch nie passiert.
»Das Antlitz der Welt ist besudelt von einem gottlosen Volk. Das Volk der Muslime, das einem falschen Propheten folgt, überzieht die Welt mit Tyrannei und Gewalt, hält die Gläubigen in Furcht und Knechtschaft. Das Volk, das den wahren Gott verehrt, ist erniedrigt. Bewaffnet euch mit dem Eifer Gottes, Brüder und Schwestern, gürtet eure Gewehre auf eure Rücken, rüstet euch und seid Söhne und Töchter des Gewaltigen!«
Annies Mund stand offen, und ihr Atem ging stoßweise. Sie versuchte, der Predigt zu folgen. Aber das warme Gefühl war zu intensiv. Es war ... Sie erinnerte sich. Sie spürte so etwas keineswegs zum ersten Mal. Damals hatte der Heilige Geist sie gevögelt, so etwas vergisst man nicht.
»Besser ist es, im Kampfe zu sterben, als unsere Welt leiden zu sehen. Wer einen Eifer hat für das Gesetz Gottes, der schließe sich uns an. Ziehet aus, und der Herr wird mit euch sein und eure Sünden vergeben. Amen.«
Pfeifend stieß Annie den Atem aus und versuchte, sich zu entspannen. Leise flüsterte sie »Amen«. Dann erst wagte sie es, aufzusehen. Niemand warf ihr unfreundliche Blicke zu. Über ihr waren nur die goldenen Schnörkel unter der Decke.
Als Annie Poland leicht wankend die Kirche verließ, schien ein persönliches Treffen mit Gott zu Ende zu gehen. Oder mit dem Heiligen Geist. Sie hatte seine Anwesenheit gespürt. Ganz tief drin.
Im Anschluss an den Gottesdienst begann eine Gruppe Gläubiger spontan eine Kundgebung in der Innenstadt. Gottes Name wurde gerufen, arabische Fahnen verbrannt.
Annie Poland verbrachte den Abend vor dümmlichen Fernsehshows und trank soviel Kaffee, dass sie erst gegen zwei Uhr einschlafen konnte. Am nächsten Tag versuchte sie im Netz etwas über das Labor herauszufinden, in dem sie vor Jahren ihr erstes ... Erlebnis gearbeitet hatte. Und sie stieß recht schnell auf einen Namen: Joe Gersinger.


13 Kilometer nordwestlich von Abbeville, Frankreich
15. Mai 2010

»Wie haben Sie mich gefunden?« Joe Gersingers Worte fielen zu Boden und versanken darin.
Annie Poland stellte sich an ein Fenster des Wohnwagens und sah hinaus aufs Feld. Dohlen stritten sich um Nahrungsreste in der Mülltonne. Das Wetter hatte sich nicht zwischen Trockenheit und Regen entscheiden können und ein graues Mittelding gewählt.
Annie konnte den Mann nicht ansehen, als sie sagte: »Was in Gottes Namen haben Sie nur getan?«
Gersinger sank in seinen Sessel. »Sie wissen es doch schon, oder?« Annie sah, dass ihm die Hände zitterten. Er kniff die Augen zu. »Endlich glauben die Menschen wieder.« Seine Stimme klang so frisch wie das Abendessen der Dohlen.
»Aber warum ist der Glauben plötzlich so stark? Ohne diese ... Intensität gäbe es die Kreuzzüge nicht.« Annie kannte die Antwort. Glaubte sie. Der Professor musste es bestätigen. Es würde alles erklären. Es wäre plötzlich alles ganz einfach, ganz klar.
Er fuhr hoch. »Die Kreuzzüge der Moderne sind doch ein voller Erfolg, oder? Millionen toter Muslime können nicht irren. Ha!« Ein humorloses Kichern.
Annie verschränkte ihre Arme und sah nach unten. »Haben Sie ein Gewissen?«
Gersinger stürmte in die Ecke des Wohnwagens. Griff nach einer Flasche Brennspiritus. Nahm einen Schluck. Brabbelte etwas unverständliches, strich mit der Hand über seine Stoppeln. Es klang wie zerreißendes Papier: »Ich habe Gott durch eine Maschine ersetzt. Wozu ein Gewissen?«
Annie wich zurück.
»Ja«, brüllte Gersinger, »ich habe Kardinal Ferducci mein Transkranielles Stimulationsgerät gegeben.«
»Transkranielles ...?« Annie wusste zuerst nicht, wovon der Professor redete.
»Warum? Ich denke, ich wollte ihn verletzen, ihm zeigen, dass sowas wie Glaube überhaupt nicht existiert, sondern durch ein paar simple Magnetfelder erzeugt werden kann, wenn man es richtig anstellt. Ich wollte ihn immer verletzen, damit er meine Existenz überhaupt irgendwie spürte. Ha. Ha!« Düstere Traurigkeit war in seinem Blick, als er Annie ansah und fortfuhr: »Er ist mein Vater, aber er hat mich natürlich immer verleugnet.«
»Und dann?«, fragte Annie und spürte Tränen in ihren Augen. Sie waren ein Zeichen für das Ende ihrer Reise.
Gersinger zuckte mit den Schultern und den Augenlidern. Seine Hände umklammerten die Kante des schmalen Regals an der Seite des Wohnwagens. »Mein Vater hat das Gerät perfektioniert. Vermutlich mit Hilfe der Wissenschaftler des Vatikan. Ich musste verschwinden. Verstehen Sie? Verschwinden. Hierher. In diese gottverlassene ... ha! Gott! Seine laute Stimme in den Kirchen ist der Lautsprecher des Papstes und seiner Priester. Wussten Sie, dass Pius XIII. mein Gerät den Brennenden Busch der Neuzeit getauft hat? Ha! Den Nachfolger, genaugenommen, den sie in alle Kirchen eingebaut haben.«
Annie staunte nicht. Sie versuchte vergeblich, mit dem Weinen aufzuhören.
»Oben«, fuchtelte Gersinger mit dem Zeigefinger, »in den Türmen, versteckt, direkt neben den Mobilfunkantennen.« Er griff wieder nach dem Brennspiritus, setzte sich hin und nahm einen Schluck. Der Professor hielt die Flasche hoch. »Ist nur Wasser drin«, murmelte er, »ich hatte nichts anderes, um damit was aus der Viehtränke auf dem Feld zu holen.«
»Und was habe ich damals gespürt?«, fragte Annie.
Gersinger sah die Frau an. »Was meinen Sie damit, gespürt?«
»Ich habe vor Jahren in Ihrem Labor sauber gemacht. Und da ... kam der Heilige Geist zu mir.« Ihre Stimme brach.
Gersinger stutzte. »Vielleicht waren noch Geräte angeschaltet. Irgendwelche zufälligen Störungen haben dann diese Präsenz verursacht.«
»Es fühlte sich nicht an wie ein Zufall«, flüsterte Annie.
»Sie glauben gar nicht, was auf unserer Welt alles Zufälle sind.« Gersinger nahm einen Schluck aus seiner Flasche, dann grinste er Annie an. »Amen.«

 
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Der zugegebenermaßen unkritische Genussleser in mir fand die Geschichte toll!

Erst durch die Aufdröselungen meiner Vorredner wurden auch mir die logischen Fehler bewusst. Eines ist mir jedoch schon beim oberflächlichen Lesen aufgefallen: Die "ganz tief drin"-Stelle, das ist mir nicht zu vulgär, sondern einfach zu umgangssprachlich ausgedrückt. Passt nicht zum ansonsten objektiven Erzählstil. Ach ja, und dass ein Vorgesetzter eine unter Beschuss liegende Kompanie ordentlich Aufstellung nehmen lässt, das war mir auch aufgestoßen.

Ansonsten hat mich der kühle, unbeteiligte Erzählstil, ebenso wie die Aufteilung in Episoden begeistert. Hier hat jemand genau gewusst, was und wie er schreiben will/soll/muss.

8 von 10 Punkten ;o)

 

Hm, die Geschichte ist ein Kandidat für eine Überarbeitung. Für eine Erweiterung, besser gesagt. Das könnt die logischen Lücken etwas auffüllen und noch mehr diese Welt beleuchten, die da in meinem Kopf entstanden ist. Sicher könnte ich dann auch noch ein paar Vergleiche deutlicher machen, die mir ständig im Kopf rumschweben.
Die nichtlineare, episodenhafte Erzählweise (über die sich manche Leute manchmal bei mir massiv beschweren ;) ), fand ich hier besonders wichtig. Eine so grundlegend veränderte Welt kann ich ihm Rahmen einer KG nur fragmentarisch beleuchten. Außerdem fördert der Stil die Spannung.

Danke für eure Anmerkungen!

 

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