Der Geruch
Als sie aufwachte, zeigten die roten Ziffern auf der Funkuhr an der Wand 4:37 Uhr. Draußen herrschte noch tiefe Dunkelheit. Nur das leichte Schimmern der Straßenlaterne schien durch den Vorhang ihres Schlafzimmers und warf einen schmalen, gelblichen Streifen auf ihre Bettdecke. Sie tastete nach dem Schalter ihrer Nachtischlampe, konnte aber das Kabel mit dem kleinen schwarzen Knopf nicht finden. Wahrscheinlich war es wie immer hinter die Kommode gerutscht und sie gab genervt auf. Sie drehte sich zur anderen Seite ihres Doppelbettes. „Bist du da?“, flüsterte sie. Keine Reaktion. Sie tastete nach dem Kopfende, bekam aber nur das große Kopfkissen zu fassen.
Er war nicht da.
War Er heute Nacht überhaupt nach Hause gekommen? Sie ließ sich in ihr Bett zurück fallen und starrte an die schwarze Zimmerdecke.
Mit dem Tag, als Er sich das erste Mal von ihr getrennt hatte, konnte sie nicht mehr einschlafen. Die Zeit voller Trauer, Wut und Übermüdung war immer schlimmer geworden, sodass sie nach langem Überlegen keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihren langjährigen Hausarzt aufzusuchen. „Nur eine Tablette vor dem Einschlafen, Frau Burkhardt!“, hatte er freundlich, aber bestimmt befohlen. „Oder wollen Sie irgendwann gar nicht mehr aufwachen?“. Er hatte dabei laut gelacht und war sichtlich amüsiert, als sie ihn mit aufgerissenen Augen angeschaut hatte.
Entgegen seiner Anweisung hatte sie die tägliche Dosis schon nach drei Wochen auf zwei Tabletten erhöht. Seitdem konnte sie endlich wieder durchschlafen. Selbst wenn Er betrunken von einer Party mitten in der Nacht nach Hause kam, schlief sie wie ein Stein.
Wovon war sie in Gottes Namen heute Nacht wachgeworden? War Er es oder war es einfach nur ein Gefühl, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte?
Sie stand auf, ging zum Fenster und öffnete den Vorhang. Obwohl sie wusste, dass das Fenster nicht offen sein konnte, rüttelte sie zwei Mal am Fensterschloss. Das war ihr übliches Ritual, bevor sie zu Bett ging. Sie mochte keine Kälte im Schlafzimmer. Er war da ganz anders. Auch im tiefsten Winter mochte Er einen kräftigen Durchzug. "Das fördert die Durchblutung" klang sein herrischer Ton in ihren Ohren. Er konnte sich immer durchsetzen. Schon bei der Erinnerung an seine Tonlage, keimte Wut in ihr auf, die sie nur mit Mühe unterdrücken konnte. Sie bemerkte, dass ihre Kehle trocken wurde und wandte sich vom Fenster ab. Sie schlich am Bett vorbei und stand im Flur.
Irgendetwas fühlte sich anders an. Sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber irgendetwas war anders als sonst. Sie drückte auf den Lichtschalter der kleinen Wandlampe. Vor ihr lag der lange, etwas zu schmale Flur ihrer Altbauwohnung. Rechts der große alte Wandschrank, links die beiden Türen zum Bad und zur Küche. Alles sah aus wie immer. Mit Blick auf den Spiegel am Ende des Flurs erschrak sie kurz, als sie ihr eigenes Spiegelbild sah. Wie dünn sie doch nach all der Zeit mit ihm geworden war.
Auf Zehenspitzen lief sie über die knarrenden Holzdielen in Richtung Küche, hielt aber vor der Badezimmertür inne. Sie drückte die angelehnte Tür langsam auf und blickte hinein. „Bist du da?“, flüsterte sie. Von draußen drang der Widerschein der gegenüberliegenden Straßenlaterne durch das kleine milchige Fenster. Sein grüner Bademantel hing neben der Dusche. Eine Zahnbürste war ins Waschbecken gefallen.
Er war nicht da.
Sie ging in die Küche und drückte auf den Lichtschalter. Die leere Weißweinflasche stand auf der Küchentheke und stach ihr direkt ins Auge. Sie bereute, gestern Abend mal wieder zu viel getrunken zu haben. Wenigstens hatte sie die angebrochene zweite Weinflasche wieder zurück in den Kühlschrank gestellt. Sie erinnerte sich an die mahnenden Worte ihres Hausarzt: „...nicht zusammen mit Alkohol einnehmen“. Hatte sie nicht auch letztens in einem Artikel gelesen, dass Alkohol die Tiefschlafphase stört? Ratschläge zu befolgen war scheinbar nicht ihre Stärke.
Sie warf einen letzten Blick auf die verhängnisvolle Weinflasche. Mit dem Vorsatz sich zu bessern, schlich sie zurück über den Flur in Richtung Schlafzimmer. Plötzlich spürte sie, was anders war. Es war dieser Geruch. Nur zart wahrzunehmen, aber doch so eindringlich, das er sich in ihre Nasenschleimhäute setzte. Es war eine leise Spur aus Tabak, Kaminholz und etwas Schweiß. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn schon einmal gerochen hatte. Reflexartig hob sie ihren Arm hoch und roch mit der Nase unter ihrer Achselhöhle. „Nein. Das ist anders“, dachte sie. Sie schnüffelte auf dem Flur, stellte aber fest, dass der Geruch schon wieder verflogen war. „Vielleicht sind es meine Altkleider. Ich werde sie morgen zum Container bringen“. Mit einem letzten Blick auf den Wandschrank kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück und schloss die Tür. Sie schob die Decke beiseite und legte sich ins Bett.
Sie war fast eingeschlafen, als sie plötzlich ein leises Knarren hörte. Darauf ein zweites Knarren und sie zuckte zusammen. Ihr Herz pochte schneller. Sie lag starr im Bett und hielt die Luft an, in Erwartung ein weiteres Knarren zu hören. Doch es blieb ruhig. „Jetzt reiß dich mal zusammen! “, befahl sie sich. „Ein Altbau macht doch immer Geräusche“. Wahrscheinlich steigerte die Mischung aus Alkohol und Tabletten ihre Phantasie.
Doch dann nahm sie ein weiteres Knarren wahr. Bewegte sich etwa jemand über den Flur? Panik kam in ihr auf. Sie tastete behutsam nach ihrem Smartphone auf dem Nachtisch, konnte es aber nicht finden. „Wo ist das Scheißding?“. Innerlich brüllte sie. Noch ein Knarren. Sie blickte zur Tür. War da etwa ein Schatten unter der Türspalte? Ihre Gedanken rasten. „Aufspringen? Sich schlafend stellen oder doch...?“ Noch bevor sie in der Lage war, eine Entscheidung zu treffen, sah sie, wie die Klinke ihrer Schlafzimmertür langsam heruntergedrückt wurde. Es war zu spät.
In Todesangst, schloss sie die Augen, in der Hoffnung diese grauenhafte Situation zu überleben. Jemand trat ins Schlafzimmer. Sie hörte ein leises, aber tiefes Atmen. Noch ein Knarren. Das Atmen kam näher und sie spürte einen Hauch an ihrem Hals. Etwas großes Weiches legte sich auf ihr Gesicht. Ihr Herz überschlug sich. Immer fester und fester fühlte sie den Druck auf ihrer Nase und ihrem Mund. Sie bekam keine Luft und versuchte zu schreien. Alles in ihrem Kopf drehte sich. Schlagartig war da nichts mehr, außer Schwärze.
„Guten Morgen, meine Schöne.“ Er hatte sich über sie gebeugt und lächelte sie an. „Ist etwas später geworden.“
Da war er wieder, dieser Geruch.