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Der Gesang im Käfig

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30.10.2003
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Der Gesang im Käfig

Der Gesang im Käfig

Viele Jahre saß der Gefangene schon in seiner Zelle, isoliert von der Außenwelt wie ein Lebender ohne Existenz. An einem Wintertag lag ein erschöpfter Spatz auf dem Sims des einzigen Fensters und fror im Schnee. Der Mann öffnete die Glasscheibe und holte den kleinen Vogel zwischen den Gitterstäben in sein kahles Zimmer hinein. Er wickelte ihn in den ausgerissenen Fetzen einer Wolldecke und gab ihm von seiner Wasserration zu trinken. Nach einigen Tagen hatte sich der Spatz erholt und begann zu zwitschern. Fröhlich beseelte er die Einsamkeit innerhalb der trüben Mauern. Der Mann hatte Freude an der Gesellschaft und genoß die Vielfalt der Melodien. Aus Dankbarkeit baute er dem Piepmatz einen großen geräumigen Käfig, damit dieser ein eigenes Heim in der Tristess des Raumes haben konnte. Wohl fühlen sollte er sich in der neuen Welt und ein angenehmeres Leben erhalten als in der Kälte der Naturgewalten. Doch der Spatz hörte auf zu singen und verkroch sich im Käfig. Er aß keine Brotkrümel mehr und trank nicht, sondern saß nur still in der Ecke herum. Daraufhin öffnete der Gefangene die Scheibe vor der Vergitterung und entließ seinen einzigen Freund in das Wohl der Winde. Der Spatz drehte eine Extrarunde um die Zelle, sang noch einmal seine Arie und flatterte vondannen. Am nächsten Morgen kam er wieder und klopfte mit dem Schnabel an die Scheibe.

 

Eine sehr rührende kleine Geschichte. Mir gefällt sie gut!

Nur beim zweiten lesen vielen mir zwei sachen auf, die mich etwas stutzig machten. Erstens, wenn der Gefangene einsam in seiner Zelle sass und nur Brot und Wasser hatte, woher hatte er das Material für den Vogelkäfig?
Und weshalb liess er den Vogel ganz hinaus, obwohl er ja als er in der Zelle war auch sang (erst als er im Vogelkäfig war verstummte er)?
Ich weiss nicht, vielleicht ist der Vogelkäfig so gar nicht nötig. Du musst dem Leser nur irgendwie weiss machen, das der Gefangene der Vogel behalten möchte, weil er so schön singt. Und durch dieses "Besitzen" seinen einzigen Freund schliesslich vergräult (sprich verliert).

 

Hallo ababwa,

auch ich habe deine kleine Geschichte gern gelesen.
Einige Fragen haben sich auch mir gestellt, genau wie dany, z.B. warum der Mann das Fenster seiner Zelle öffnen kann oder warum er den Spatz direkt freilässt. Aber das stört die Geschichte eigentlich nicht.

An einigen Stellen war mir deine Geschichte ein bißchen zu moralisch, sie erinnert eher an ein Gleichnis oder eine Parabel. Die Botschaft bringst du auf jeden Fall gut rüber: man darf jemanden (etwas) nicht besitzen und einsperren wollen, um ihm nahe zu sein. Schön, dass der Gefangene das erkennt.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hi ababwa,

eine schöne kleine Episode.

. Aus Dankbarkeit baute er dem Piepmatz einen großen geräumigen Käfig, damit dieser ein eigenes Heim in der Tristess des Raumes haben konnte. Wohl fühlen sollte er sich in der neuen Welt und ein angenehmeres Leben erhalten als in der Kälte der Naturgewalten.
Mir scheint, als wollte dein Prot mit diesem Käfig, sich selber ein Nest bauen.
Seine Sehnsucht nach Geborgenheit leben, in dem er versucht sie zu geben.

Doch dann muß er feststellen, dass der Vogel in dem Käfig, wenn auch geräumig, nicht leben kann. Er braucht die Freiheit.

Dein Prot gibt ihm, was er sich selber nicht geben kann.
Die Freiheit und die Entscheidung zu gehen und zu kommen.
Vielleicht gibt er dem kleinen Vogel, wenn der die Zelle verlässt, seine Seele mit?
Der Vogel bringt sie ihm "erfüllt" wieder, wenn er an die Scheibe klopft.

lieben Gruß, coleratio

 

Grüß dich ababwa,

auch mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen, bis auf die kleinen Unstimmigkeiten.
Sie liest sich wirklich sehr gut und gerade, weil sie so sehr einem Gleichnis ähnelt, mag ich deine Geschichte.

Viel Erfolg bei weiteren Geschichten!

 

Hallo dany, hallo Juschi,

die aufgeworfenen Fragen spielen für die Aussage keine Rolle; die Geschichte ist auf das Wesentliche gekürzt. So kann ein Gefängnis beliebig ausgeschmückt werden, z.B. mit einem Wärter, der das Material für einen Käfig zur Verfügung stellt. Auch das Fenster steht nicht im Widerspruch mit der Zelle, denn die Gitterstäbe mögen von außen fest installiert sein, während sich das Fenster nach innen öffnen läßt. Dies extra zu erwähnen, war mir zu viel Unnützes.

Dein/Euer zweiter Kritikpunkt beleuchtet das Besitztum, doch euch scheint die Verschachtelung entgangen zu sein (?): ein Gefangener erbaut ein Gefängnis, in dem er andere einsperrt. Eine Moral wollte ich dort nicht so sehr einbauen, sondern einen philosophischen Gedanken.

 

Hallo coleratio,

endlich ist das Stichwort gefallen: "Freiheit". Das Wort selbst wird absichtlich nirgendwo erwähnt, doch ursprünglich ging es mir tatsächlich um diesen Begriff. Bei der Wahl des Titels habe ich mir schwer getan, ihn zu vermeiden. - Gibt es eigentlich ein Synonym für "Freiheit" oder wenigstens eine Umschreibung, ohne daß das Wort selbst auftaucht?

Da diese Geschichte im Philosophie-Forum steht, sind freilich unterschiedliche Interpretationen denkbar. Daher ist das "Besitztum", wie von dany und Juschi gesehen, gar nicht falsch. Sie haben mich sogar auf einen neuen Gedanken gebracht: Will man nämlich penibel sein, so gibt es einen kleinen Unterschied zwischen "Freiheit" und "Besitztum". Dieser findet sich sogar in der Geschichte, wenn man die Sichtweisen des Gefangenen und des Vogels miteinander vergleicht...

Deine Interpretation, coleratio, zielt auf die Gefühlsebene ab: Du versuchst die Wünsche des gefangenen Mannes zu verstehen, z.B. seine Tendenz, "Geborgenheit" oder "Schutz" geben zu wollen, die dann überspannt wird. Im Zusammenhang mit dem zitierten Satz paßt diese Ansicht wunderbar. - Für mich ist jedoch der Vogel der eigentliche Protagonist. Der Titel ist nämlich nach diesem ausgerichtet. Du bist aber meiner Idee schon etwas näher gekommen.

 

Hallo Suava,

danke fürs Lesen. Die Geschichte enthält mehr Tiefe als es den Anschein hat. Sie als ein Gleichnis anzusehen, reicht noch nicht ganz. Es gibt noch die ein oder andere ungestellte Frage, ich nenne mal eine: Was bewegt den Vogel, zurückzukommen? - Wenn man will, kann man sozialkritisches Gut darin erkennen. Ich gebe aber zu: Es ist ziemlich versteckt, und Interpretationen sind ja oftmals ein Wechselspiel zwischen Autor und Leser.

Schöne Grüße,
Emil

 

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