- Beitritt
- 01.09.2005
- Beiträge
- 1.170
Der Gesang im Molzer-Turm
Der Turm war im dreizehnten Jahrhundert zu militärischen Zwecken errichtet worden. Der ursprüngliche Auftraggeber, der seinen Bau veranlasst hatte, hatte ihn als Ausguck in Kriegszeiten gedacht. Das zylinderförmige Steingebilde war nicht allzu hoch - keine fünfzehn Meter – und stand an einer lichten Stelle des Waldes, der es umgab. Zudem reckte sich der Molzer-Turm am höchsten Punkt eines Gebirges dem Himmel entgegen. Deshalb war es möglich gewesen, von seiner Spitze aus beide Täler zu den Seiten des Gebirges zu überwachen. Ihren späteren Namen hatte die Feste erst unter ihrem Besitzer ab dem Jahre 1689 erhalten, dem Landvogt Ernst Freiherr von Molzer. Der hatte die zwei einzigen Zimmer des Turmes, den Keller und eine kleine Gebetskammer, in Verliese umfunktioniert, um widerspenstige Untertanen zur Zahlung überfälliger Steuern zu bewegen. Ursprünglich sollen sich im Molzer-Turm drei Kerker befunden haben. Doch den Bewohner eines fensterlosen Zimmers hatte der despotische Eigentümer angeblich in seiner Zelle einmauern lassen, nachdem der Eingesperrte ihn besonders frech beleidigt hatte. Auch der Weg, der noch heute durch den Wald zum Turm führt, wurde auf Weisung des Landvogtes gebaut. Dieser Pfad mündet in eine ovale Lichtung, in deren Zentrum der Turm steht wie eine steinerne Eiche, von der sich die anderen Bäume lieber fernhalten.
"Aaaah, Scheiße, pass doch auf!" schrie Mark. Gordon hatte gerade zum dritten Mal, seit sie unter so unrühmlichen Umständen die Party verlassen hatten, seinen Gepäckträger gerammt. Mark kam ins Schlingern, fuhr fast in den Graben, der rechts von ihnen die Straße säumte, und riss schließlich so brutal an seiner Rücktrittbremse, dass das Gummi seines Hinterreifens noch ein Stück über den Asphalt geschliffen wurde und dabei ein protestierendes Scheuergeräusch von sich gab. Nach und nach bremsten auch Gordon, Frank und Stefan. Sie drehten sich um. Mark holte eine Schachtel Marlboro Lights aus seiner Hosentasche und zündete sich eine an. Er klappte sein Benzinfeuerzeug zu, inhalierte einen Zug und blickte Gordon so tief in die Augen, wie die Dunkelheit es zu ließ.
"Kannst du mir mal sagen, was der Scheiß da eben sollte?" Gordon nahm beide Hände vom Lenker und lehnte sich entrüstet zurück.
"Was soll das denn jetzt?" Das leichte Zittern in seiner Stimme verriet, dass er sich seine Frage bereits selbst beantwortet hatte. Es war Samstag, und irgendein Typ aus der 9 a hatte seinen Geburtstag gefeiert. Alle vier hatten sie kräftig auf den Sechzehnten des großen Unbekannten angestoßen. Natürlich hatte der Gastgeber keinen von ihnen eingeladen, aber für die "Quatro Muchachos" (Ein Spitzname für ihre Clique, den sie sich selbst nach einem gemeinsamen Wahlpflichtkurs "Spanisch - Pasos primeros" gegeben hatten) waren solche Details noch nie ein Grund gewesen, mit den erwünschten Gästen nicht Speis und Trank zu teilen. Der Plan, der bei solchen Gelegenheiten stets zum Zuge kam, war auch dieses Mal wieder aufgegangen: Man trifft sich bei dem Muchacho mit den tolerantesten Eltern (in ihrem Fall bedeutete das jedes Mal die Wahl zwischen der Casa del Frank und dem Chéz Gordon), trinkt bzw. kifft "vor" und begibt sich erst zu fortgeschrittener Uhrzeit auf die Party, so dass man auf lauter Stockbesoffene trifft, die sich untereinander kaum erkennen, geschweige denn jemanden, der eigentlich gar nicht dorthin gehört.
Dementsprechend waren sie erst um 0.45 Uhr auf der Party angekommen und hatten sich lachend und singend, rülpsend und grölend altersgemäß daneben benommen. Bis Gordon angefangen hatte, die Freundin des Hausherrn zu umwerben. Er hatte dafür die uncharmante "Hör auf zu quieken du willst es doch auch" Methode gewählt und seine Hände ohne große Worte in so empfindsame wie private Regionen des weiblichen Körpers geführt.
Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis der ebenfalls sturzbetrunkene Gastgeber dazwischen gegangen war (so betrunken war er nicht gewesen) und anfangen hatte, Gordon zu schubsen, worauf Frank dem Hausherrn eins auf die Nase gegeben hatte. Das wiederum hatte den großen Bruder des nun doppelt gedemütigten Geburtstagskindes auf den Plan gerufen. Der zwanzigjährige Bundeswehrsoldat und Hobby-Kickboxer hatte dann die Familienehre gerettet, indem er Frank so heftig gegen die Brust gestoßen hatte, dass der verwirrt dreinblickend zurückgestolpert war und sich dann im Stehen übergeben hatte. Die daran anschließende Empfehlung, jetzt "zu gehen, bevor ich euch die Arme breche", hatten sie fraglos akzeptiert und sich auf ihren Fahrrädern in Schlangenlinien-Manier davongemacht.
Mark zog wütend an seiner Zigarette. "Ich habe nie ein Problem damit gehabt, uneingeladen auf Partys zu gehen, aber rumzupöbeln ist definitiv nie mein Stil gewesen, und..."
"Hast du n' Knall? Ich habe nicht gepöbelt!" rief Gordon mit gekünstelt weinerlicher Stimme wie ein Schuldiger vor Gericht.
"Aber du hast Stress in Kauf genommen, und erzähl mir nichts, so voll kann man nicht sein, grabscht dem Mädchen da zwischen die Beine! Ist dir klar, was wir ab Montag in der Schule für einen Ruf haben werden, du Arsch?"
"Ey, übertreib ’s bloß nicht!"
"Sonst? Verhaust du mich? Oder gehst du mir auch zwischen die Beine?"
"Jetzt reichts."
Gordon stieg von seinem billigen Mountainbike aus dem Marktkauf und ließ den Lenker los. Er stieß das Rad von sich, so als fühlte er sich nicht von seinem Freund, sondern von seinem Mountain-Tech 2800 ungerecht behandelt. Mit geballten Fäusten torkelte er auf Mark zu.
"Hey!" Stefan hielt offenbar den Zeitpunkt für gekommen, einzugreifen.
"Hey, Jungs, wartet mal! Es war n' Scheiß-Abend, aber das braucht ’s jetzt echt nicht! Wenn ihr euch jetzt gegenseitig aufs Maul haut, will ich mit keiner von euch Nulpen mehr was zu tun haben! Ich weiß, wie wir das wieder hinkriegen."
Gordon stand jetzt direkt bei Mark und versuchte, ihn so scharf und drohend wie möglich anzusehen. Er tat so, als hätte er nur noch nicht zugeschlagen, weil er hören wollte, was Stefan zu sagen hatte. Dabei hatte er sich schon in dem Moment für sein Verhalten geschämt, als er so demonstrativ sein Fahrrad zu Boden gestoßen hatte.
"Ich weiss genau, was die Muchachos jetzt brauchen." versicherte Stefan.
Frank, der während des gesamten Geschehens mit hängendem Kopf am Straßenrand gestanden hatte als würde er nichts mitkriegen, richtete einen entnervten Blick auf Stefan und jammerte: "El muchacho aqui könnte gebrauchen, dass wir jetzt nach Hause fahren, weil ich mich nämlich vollgekotzt habe, falls das einem der hier Anwesenden irgendwie entgangen sein sollte."
"Wir kommen schon früh genug nach Hause, außerdem ist es erst..." Stefan sah auf die Uhr. "Halb zwei. Das ist ja wohl keine Uhrzeit, um einen Samstag Abend zu beenden."
Gordon ging zurück zu seinem Fahrrad und fragte: "Was schlägst du vor?," so als wäre nichts passiert
"Ich habe noch ein bisschen Gras und Mark und Frank müssten zusammen noch mindestens neun Bier in ihren Rucksäcken haben, wenn ich richtig mitgezählt habe. Also machen wir noch n' bisschen geschlossene Gesellschaft."
"Und wo?“ mischte Frank sich noch einmal ein und schmatzte zwischen den Wörtern mit einem angewiderten Gesicht, dass den Geschmack aus Bier, Magensäure und vergangenen Mahlzeiten auf seiner Zunge erahnen ließ.
„Meine Eltern machen einiges mit, aber halb zwei ist echt nicht ohne..."
Stefan grübelte kurz. Die Straße, auf der sie fuhren, lag direkt am Fuß des Gebirges, an dem ihr Dorf lag. Der größte Teil dieser abwechslungsreichen Erhebung im ansonsten eher flachen, westfälischen Land war dicht mit Wald bewachsen. Stefan sah Gordon an.
"Hat man euch in der Grundschule auch immer zum Molzer-Turm geschleppt?" Zwar war Stefan's Blick bei dieser Frage auf Gordon gerichtet, aber gestellt hatte er sie eigentlich Mark. Frank war erst in der siebten Klasse hier hergezogen, Gordon sogar erst in der achten. Ihre Eltern waren die typischen Großstadtflüchtlinge, die um ihrer Kinder willen bereits vor der Geburt Geld für ein Häuschen im Grünen zurückgelegt hatten, damit ihr Nachwuchs die schwierige Zeit der Pubertät nicht in einer glitzernden Metropole verbringen muss, deren Kehrseite Drogen, Prostitution und jede erdenkliche Kleinkriminalität war. So oder so ähnlich hatten zumindest Gordons Eltern es ihm schon diverse Male erklärt. Er dachte dabei dann immer an die Unmengen von Joints, die er allesamt hier in dieser im Sommer nach frischem Heu duftenden Landidylle geraucht hatte. In Hamburg hatte er nicht einen Kiffer in seinem Freundeskreis gehabt. Heute nannte er eigentlich kaum jemanden "Freund", der nicht ab und zu mal was rauchte. Deshalb musste er jedes Mal hart mit sich ringen, um nicht von einem Ohr zum anderen zu grinsen, wenn seine Eltern das Loblied auf die unschuldige Provinz anstimmten.
"Klar!" schoss es aus Mark hervor wie eine Rückkopplung aus einem Gitarrenverstärker. "Regionale Geschichte und so! Molzer war irgendwie Landvogt oder wie sich das schimpft. Hat in dem Turm Bauern eingesperrt und so was. Jedenfalls... Ich mein... Willst du da jetzt hin?"
"Da wollt ich mal nachts einen kiffen gehen, seit ich weiß, dass es das Zeug gibt. Los!"
"Man, ich weiß nicht." mischte Gordon sich ein. "Das geht bestimmt 'ne Viertelstunde mitten durch den Wald, und zwei von uns haben kein Licht am Rad."
"Hast du Schiss?" Nun traf Stefan der böse Blick, der eben noch so strafend auf Mark gelegen hatte.
"Fick dich."
"Ne, ernsthaft, ist doch keine Schande, kannste ruhig sagen."
"Fick dich."
"Fahren wir also?"
Mark warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Gordon knetete mit Zeigefinger und Daumen sein Ohrläppchen, wie er es sonst nur bei Mathearbeiten tat, für die er so wenig gelernt hatte, dass er schon an der ersten Aufgabe verzweifelte. Ihm war unwohl bei dem Gedanken, jetzt noch durch den Wald zu fahren. Er suchte nach einem möglichst rationalen Grund, gegen die späte Erkundungstour zu argumentieren, um vor seinen Freunden nicht als Weichei dazustehen. Doch sein unbehagliches Gefühl hatte nichts mit Rationalität zu tun. Eigentlich war es auch mehr als nur ein unbehagliches Gefühl. Es war Angst. Angst vor der Dunkelheit des Waldes selbst aber auch davor, was vielleicht in ihr auf sie wartete. Oder vielleicht auch nur auf ihn. Natürlich würde er morgen bei Tageslicht über diese Angst lachen. Aber genau jetzt war sie absolut nichts, worüber er es zu lachen gewagt hätte. Ein letzter, vernünftiger Grund, jetzt nicht in den Wald zu fahren, fiel ihm noch ein: "Ey, Mann, Frank ist noch immer voller Kotze..."
Die Aura der Begeisterung, die Stefan umgab, wehrte den Einwand ab wie die Ozonschicht ultraviolette Strahlen. "Deshalb auch! Wenn wir nachher erst mal richtig breit sind, riechen wir das den Rest des Weges nicht mehr so!" Frank hob kurz den Kopf. ’Ich bin noch nicht tot.’ schienen seine Augen zu klagen. Stefan fuhr voraus, und sie folgten ihm, von der Straße ab links auf einen Wanderweg, wo sie die pechschwarze Dunkelheit des Waldes umarmte. Der Molzer-Turm wartete auf sie.
Sie waren ungefähr zwanzig Minuten durch den Wald gefahren, als sie die Lichtung mit dem Turm erreichten. Zu Anfang hatten sie sich Zeit gelassen, jeder war bequem seiner eigenen, besoffenen Sinus-Kurve gefolgt. Aber nachdem das Licht der Straßenlaternen sich mit jedem Tritt in die Pedale etwas weiter entfernt hatte und schließlich ganz von der Dunkelheit geschluckt worden war, waren sie in stiller Übereinkunft stetig schneller geworden. Der Einzige, der zwischenzeitlich lautstark bemerkt hatte, man nähme hier ja wohl nicht an der Tour de France Teil, war Stefan gewesen. Von allen Vieren war er derjenige, der weitestgehend immun schien gegen die Urangst vor der Tageszeit, während der der Mensch sich nicht auf den für ihn wichtigsten Sinn verlassen kann.
Gordon war Stefans scheinbare Resistenz gegen die Angst vor der Dunkelheit schon früher aufgefallen. Er vermutete, dass der Vollzeit-Kiffer kein Problem damit hätte, nachts auf einem Friedhof zu übernachten - solange genug Bier und Gras dabei waren. Der Gedanke brachte Gordon etwas von der heiteren Stimmung zurück, mit der der Abend angefangen hatte. Er lächelte.
Der Molzer Turm ragte vor ihnen aus dem Boden wie der Finger eines steinernen Riesen, den man lebendig begraben hatte. Ungefähr in der Mitte des Turmes, so etwa auf sechs bis sieben Metern Höhe, befand sich ein kleines, vergittertes Fenster. Über eine dreistufige Treppe erreichte man den Eingang. Die schwere Holztür war offen und gab den Blick frei auf Finsternis, die noch absoluter war als die des Waldes. Es war ein Schlund, in den die Treppe führte wie eine Zunge.
Mark, dessen Lungen sich gerade etwas beruhigten, zündete sich zur Belohnung für den Weg, den er ohne ausgehalten hatte, eine Zigarette an.
"Ich war glaube ich das letzte mal in der dritten Klasse hier. Ist das normal, das die Tür offen steht?"
"Klar." Stefan stieg vom Fahrrad ab, wobei sein Blick auf das Fenster gerichtet war. "Ist ja quasi so 'ne Art offenes Denkmal." Er lehnte sein Fahrrad gegen das moosig grüne Gestein des Turmes. "Gehen wir rauf?"
"Du gehst vor." sagte Gordon in der Hoffnung, Stefan würde zögern. Der nahm sein Feuerzeug aus der Tasche, antwortete kurz und knapp mit "O.k." und verschwand im Dunkel des Turmes. Die anderen drei folgten ihm. Zuerst Gordon, dann Frank und hintendrein Mark. Die Stufen, die in der Art einer Wendeltreppe rauf zum Plateau des Molzer-Turmes führten, waren links und rechts von massivem Gestein eingeschlossen. Es ging nur vor oder zurück, beziehungsweise rauf oder runter. Gordon dachte daran, das man in der Breite nur wenig mehr Platz als in einem Sarg hatte und spürte, wie heiße Ameisen seinen Nacken entlang zu krabbeln schienen. Fast hätte er aufgeschrieen, als Stefan plötzlich ohne Vorwarnung stehen blieb und anfing zu reden. "Seht ihr die Tür hier links?" Er musste ein Stückchen weitergehen, damit sie alle eine Position auf der Treppe hatten, von der aus sie die Tür sehen konnten. Sie war aus dickem Holz genau wie die Eingangstür, aber niedriger. Sie alle vier hätten sich bücken müssen, um durch sie hindurch in den Raum dahinter zu gelangen. Im oberen Drittel der Tür befand sich eine mit drei vertikalen Eisenstäben vergitterte Luke von der Größe eines ausgebreiteten Taschentuches. Gordon betrachtete das Guckloch nervös. Er spürte, wie sich seine Därme verkrampften bei der Vorstellung, auf der anderen Seite könnte plötzlich ein Gesicht in das schwache Licht von Stefans Feuerzeug treten.
"Zu dem gehört auch das Fenster, das man von außen sehen kann. Wenn wir oben sind, erzähl ich euch eine Geschichte zu dem Zimmer." sagte Stefan und es klang ein wenig wie eine Drohung. Sie setzten ihren Weg fort. Das Plateau erschien ihnen nach der Fahrt durch den Wald außergewöhnlich hell, denn es befand sich in einer Höhe, von der aus man auf fast alle Bäume des Waldes herabblicken konnte. Es war Sommer und Petrus hatte den ganzen Tag über nicht eine einzige weiße Wolke in das Reisebüro-Blau des Himmels gespuckt. Dementsprechend sternenklar war die Nacht, und das Firmament übernahm hier oben schon fast die Funktion einer Flutlichtanlage. Stefan breitete die Arme aus wie Rocky, nachdem er die Treppen des Philadelphia Museum of Modern Art erklommen hat.
"Geil!" bemerkte er hörbar zufrieden.
"Supergeile Aussicht hier oben, oder nicht? Wisst ihr, wie lange ich schon davon geträumt habe, hier oben mal Einen zu rauchen?"
"Warum hast du's nicht getan?" fragte Gordon.
"Allein?" antwortete Stefan mit einer Gegenfrage.
"Hattest du Schiss?" fragte Gordon und imitierte dabei Stefans provozierende Tonlage von vorhin. Der aber grinste ihn nur an. "Na ja." begann er sich zu erklären. "Mal ehrlich: Ganz allein? Wer hätte denn da keinen Schiss? Und dann auch noch bekifft, nee, man muss es ja auch nicht herausfordern." Gordon spürte, dass Stefan seinen Angriff abgeblockt hatte und versuchte, die Diskussion ohne Unterbrechung am laufen zu halten, damit Mark und Frank es nicht bemerkten. Ja, auch Frank begann langsam wieder Dinge zu bemerken.
"Warum hast du vorher nie jemanden von uns gefragt?" wollte Gordon wissen.
"Ihr seid alle nur Gelegenheitskiffer, ihr habt - zumindest was das Rauchen angeht - keinen Stil, keinen Geschmack. Also, das ist jetzt nicht persönlich gemeint, euch sind halt andere Dinge wichtiger, das ist auch o.k. so. Aber für mich, man, hier oben einen durchziehen und die Sterne angucken, mit genügend Leuten, damit es nicht zum Horrortrip wird, das ist doch wohl 'n Traum!"
"Ich träum andere Sachen..."
"Habe ich ja gerade gesagt! Jeden Sommer fahren wir zigmal auf dem Rückweg von irgendeiner Party auf der Straße am Gebirge lang, und jedes Mal habe ich daran gedacht, einen Abstecher hierhin zu machen! Meistens war es schon zu spät oder wir waren alle schon zu gut bedient oder beides, aber diesmal hat es durch eine glückliche Fügung..."
"Wir sind wegen asozialen Verhaltens bei 'ner Party rausgeflogen." ergänzte Mark.
"...hat es diesmal endlich geklappt." beendete Stefan seinen Vortrag, setzte sich im Schneidersitz auf den harten, aber nicht kalten Steinboden und holte seinen Tabakbeutel und ein Päckchen mit Gras aus der Tasche seiner Jeanshose. "So, jetzt setzt euch, und damit uns die Zeit während des Bauens nicht lang wird, werd ich euch wie versprochen eine Geschichte über den Raum da unten erzählen." sagte er und begann gleichzeitig, einen Joint zu basteln. "Also, der Typ, dem das Ding hier im 17. Jahrhundert gehörte, der hat in diesem Turm Bauern eingesperrt, die ihre Abgaben nicht zahlen wollten, Feudalherrschaft und so, kennt ihr ja aus dem Geschichtsunterricht. Als Zellen hat er einmal den Keller unten benutzt, habt ihr wahrscheinlich nicht gesehen, wir sind ja links die Treppe rauf, und rechts ist halt 'ne Tür, die ist glaube ich abgeschlossen, genau wie die, an der wir eben vorbeigekommen sind – das war die andere Zelle. Jedenfalls, der Typ, also der Molzer, der hat sich 'n Bauernmädchen zur Frau genommen..."
"Aaaah, quatsch!" unterbrach Mark lautstark. "Die Geschichte stimmt nicht. Die hat mal 'n Lehrer erzählt, als wir in der fünften Klasse hier waren, und gerade, als die ersten sich die Unterwäsche beschmutzten, hat er gesagt, dass das alles nur Blödsinn ist, 'ne Spukgeschichte für Kiddies wie uns, die nachts herkommen um Bier zu trinken und hier alles zusauen..."
Stefan hörte auf, den Joint in seinen Fingern zu drehen, und sah Mark an wie einen Pickel, den man am Abend einer Verabredung nach dem Duschen auf der Stirn entdeckt. "Entschuldigung, aber wenn die Story unter deinem Niveau ist, würde ich vorschlagen, du hörst einfach nicht hin, lässt mich in Ruhe erzählen oder erzählst deinerseits etwas Interessantes." Stefan wertete Marks Schweigen als Kapitulation und fuhr fort: "Jedenfalls hat Molzer gegen seinen Stand ein Bauernmädchen geheiratet, was ihm natürlich scheißegal war, weil er ja stinkreich war. Er hat den Eltern des Mädchens halt Kohle und Befreiung von ihren Abgaben geboten, und wollte im Gegenzug nichts weiter als ihr einziges Kind. Die Eltern wollten erst nicht, aber weil überall im Land bekannt war, dass Molzer ziemlich ungehalten werden konnte, wenn die Dinge nicht so liefen, wie er sich das dachte, bekam das Mädchen Angst und ging freiwillig mit ihm, quasi um ihre Eltern zu schützen. Aber die Alte war halt superhübsch und total geil, und nachdem sie sich bei Molzer eingelebt und sein Vertrauen gewonnen hatte, ließ er ihr so einiges an Freiheiten. Tja, und diese Freiheiten nutzte sie dann dazu, sich wieder mit ihrem Lover zu treffen, mit dem sie schon vor ihrer Zeit mit Molzer gepoppt hatte. Als Molzer dahinter kam, ließ er der Kleinen mit einem glühenden Dolch beide Wangen durchstechen und sperrte sie in die Zelle, an der wir eben vorbeigegangen sind.
"Das Mädchen war aber nicht ununterbrochen am flennen oder so, wie man das ja eigentlich erwarten würde, sondern sie sang. Sie sang Tag und Nacht, religiöses Zeug, das sie heute noch in Kirchen singen, denn sie war wie die meisten Bauern tierisch gläubig, und sie schien nie zu schlafen, immer nur zu singen, 'Ärä sei Gohohott in der Hö-hä' und sowas, ihr kennt den Kram ja noch aus dem Konfirmandenunterricht.
"Naja, auf jeden Fall kam eines Tages Molzer zu Besuch, und er stellte sich vor die Zellentür und warf ihr etwas durch dieses vergitterte Guckloch. Aber sie rührte sich nicht. Also ging er wieder raus und gerade, als er auf sein Pferd stieg, da hörte der Gesang in der Zelle auf, zum ersten Mal, seit das Mädchen hier eingekerkert worden war. Es war kurz still, dann hörte man einen Schrei und schließlich ein irres Geheul. Er hatte ihr den abgeschnittenen ihr wisst schon ihres Stechers in die Zelle geworfen, und sie hatte das Ding erkannt, echte Liebe halt.
"Jedenfalls sah Molzer zu dem Fenster rauf, dass man von außen sehen kann, und da sah er sie, ihr hübsches Gesicht eine von Irrsinn, Hass und den entzündeten Wunden in ihren Wangen verformte Fratze, und sie schrie, so dass die Vögel in den Bäumen sich in Panik in die Lüfte erhoben. Sie verfluchte Molzer, verfluchte seine Soldaten, diesen Turm und alle, die ihn jemals betreten würden.
"Von diesem Tag an sang sie nicht mehr, sie wütete nur noch. Tag und Nacht schlug sie mit den Fäusten gegen die Wände, bis ihre Knöchel blutig waren und ihre Handgelenke brachen. Einer der wachhabenden Soldaten soll Molzer gesagt haben, es sei, als habe sie sich an den Teufel gewandt, nachdem Gott sie nicht gehört hatte, und der Leibhaftige habe offensichtlich seine Chance ergriffen und sich eine Seele geholt. Jedenfalls hatte kaum einer mehr die Eier, hier Wache zu schieben, und so ließ man den Turm schließlich Turm seien und das Mädchen in der Zelle verhungern.
"Tja, und seitdem ist diese Tür dort unten noch nicht einmal geöffnet worden. Und angeblich ist Elsa - so hieß die Kleine - noch immer dort drin. Oder das, was von ihr übrig ist. Staub und Hass. Manchmal hört man sie angeblich singen. Damit will sie vortäuschen, sie hätte sich wieder beruhigt und ihren Frieden mit Gott gemacht. Aber das hat sie nicht. Sie wartet seit Hunderten von Jahren dort unten auf ihre Rache. Und an wem sie die vollstreckt, ist ihr völlig egal, weil ihr der Wahnsinn über ihren Tod hinaus erhalten geblieben ist. "
Der Joint war mittlerweile längst fertig gerollt. Stefan hatte ihn nicht angezündet, und die anderen drei schienen den eigentlichen Grund für ihren Ausflug zu Molzer-Turm während der Geschichte von Elsa vergessen zu haben. In Gordon's Eingeweiden hatte sich bereits ein nervöses Kribbeln ausgebreitet, als sie den Turm betreten hatten. Nach Stefans Vortrag fühlte es sich an, als hätten Bienen dort drin ihren Stock angelegt. "Ich rauche jetzt keinen mehr." verkündete er und gab sich Mühe, seine Stimme so bestimmt wie möglich klingen zu lassen. Er kannte Stefans Antwort schon, bevor er sie hörte:
"Wieso das denn? Hast du Schiss vor Paras oder was?"
"Ey, ich bin schon gut zugedröhnt, wenn wir jetzt noch in dieser heimeligen Atmosphäre einen durchziehen, dann sind zumindest für mich die Paras vorprogrammiert, und ich wäre ja schön bescheuert..."
"Mann, du bist echt 'n Mädchen."
"Bin ich auch, leck mich am Arsch."
"Aber Schlägereien anfangen, du bist schon 'n Held."
"Man, jetzt fängst du auch an, das war heute Abend..."
"Nicht das erste Mal. Du solltest wirklich aufhören zu saufen, du wirst dabei nämlich zum Arschloch. Selbst Mark hast du schon Schläge angedroht. Was sind wir denn? Asis?"
"Du auf jeden Fall! Hast du mich hierher geschleppt, nur um mir noch ein bisschen auf die Nüsse zu gehen?"
"Wenigstens fange ich nicht im besoffenen Kopf ständig Stunk an."
Gordon war so sehr in seinen Eklat mit Stefan vertieft, dass er nicht bemerkte, wie Mark aufstand und zu der Luke im Boden ging, durch die sie vor einigen Minuten aus dem absoluten Dunkel des Turmes unter die Sterne getreten waren. Es sah aus, als würde er versuchen, die Stimmen seiner streitenden Freunde zu ignorieren. Aber nicht, weil ihn das Gezanke nervte. Es sah eher aus, als versuche er, etwas anderes besser zu hören. Er lauschte in die Luke, hinunter in das Innere des Turmes. Sein Gesichtsausdruck änderte sich dabei wie der eines Meeresbiologen, der unter Wasser einen hochinteressanten Fisch aus der Ferne auf sich zuschwimmen sieht und beim zweiten Hinsehen erkennt, dass es sich um einen 20m langen weißen Hai handelt.
"Seid mal ruhig." herrschte er mit schwacher Stimme seine Freunde an. Gordon hörte ihn nicht. Er war gerade dabei, Stefan Prügel anzudrohen, weil der ihn als Schläger bezeichnet hatte. Aber Frank drehte sich um. "Hä?" stöhnte er in der unnachahmlichen Art des Besoffenen, der sich auf der strapaziösen Reise zurück aus dem Voll-Delirium befindet. Mark wies ihn mit entsetztem Blick an, Gordon und Stefan in Ihrer Streiterei zu unterbrechen. Frank fasste Gordon hart an der Schulter. Jemand aus ihrer Clique, der ihm weniger nahe stand, hätte bei Gordons derzeitigem Zustand vermutlich umgehend ein paar Zähne weniger gehabt.
"Fass mich nicht an mit deinen Kotzefingern!" zischte Gordon, denn auch wenn er Frank persönlich als seinen besten weil wesensverwandtesten Freund betrachtete, war er gerade dabei, sich in einen cholerischen Anfall zu steigern, als dessen Folge er so ziemlich jeden in der Luft hätte zerreißen können. "Was ist?" fragte er Frank.
"Seine Durchlaucht zu meinem Hinteren möchte Meldung erstatten."
"Bist du besoff..." unterbrach Gordon sich selbst mitten im Satz. Mark sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Nein. Jetzt, wo sie alle still waren, begriff selbst der immer noch etwas verwirrte Frank, dass Mark nichts gesehen, sondern etwas gehört hatte. Sie alle konnten es jetzt hören. Der Klang hob sich gegen die Stille der Sommernacht ab wie das Geräusch von Stiften auf Papier in einem Raum, in dem eine Klassenarbeit geschrieben wird. Jemand sang.
Ungläubig versammelten sie sich um die Luke. Der Gesang war leise, aber unmöglich zu überhören. Eine Mädchenstimme sang ein Lied, das von den Seele reinigenden Leiden des Herrn Jesu erzählte. Es klang todtraurig und gleichzeitig voller Zuversicht. Und angsteinflößend, denn die Stimme aus dem Turm existierte gegen jede Vernunft. Sie vertrieb jeden logischen Gedanken aus Gordons Kopf.
"Das kann nicht sein." versuchte er vergeblich, seinen eigenen Verstand zu überzeugen.
"Da gibt's bestimmt 'ne Erklärung für." kam Frank ihm dabei zu Hilfe. Man hörte, dass er selbst nicht davon überzeugt war. "Was denn für 'ne Erkärung?" fuhr Gordon ihn an, wütend, eine Emotion, die ihn für den wohltuenden Bruchteil einer Sekunde von seiner Furcht ablenkte. "Was soll es denn für diese Scheiße für 'ne Erklärung geben, oh, Gott, ich glaub ich werde wahnsinnig!" wimmerte er und spürte, dass es sich dabei nicht um eine Floskel handelte. Knapp zwanzig Treppenstufen unter ihnen war eine Spukgeschichte aus Omas "Legenden der Region" Sammelband Wirklichkeit geworden, und wenn man darüber nicht den Verstand verlieren durfte, worüber dann?
Gordon trat unbeholfen von der Luke zurück und wirkte dabei viel betrunkener, als er eigentlich war. Er fiel auf den Hintern und zupfte wieder an seinem Ohrläppchen, nur das er es diesmal nicht einfach nur zupfte. Es sah aus, als wolle er es abreißen. Seine Freunde verharrten neben der Luke und bewegten sich nicht. Bis Stefan sich zu Gordon umdrehte und fragte: "Hast du Schiss?"
Gordon dachte für einen Moment, er hätte sich vielleicht verhört, sein Verstand hätte so sehr auf diesen wunderschönen und doch abscheulichen Gesang der Toten konzentriert, dass er die Frage seines Freundes einfach nicht richtig verstanden hatte. Stefan ging auf Gordon zu, und fragte ihn mit Nachdruck: "Hast du Schiss?"
Gordon fühlte, wie in seinem Inneren etwas explodierte, als er Stefan anbrüllte: "Hast du keinen? Bist du nicht ganz dicht? Ich..." Weiter kam er nicht. Er sah zu Mark. Der grinste. "Was..." versuchte Gordon, eine Frage zu stellen. Dann wurde ihm klar, dass sie ihn reingelegt hatten. Stefan fing an zu lachen:
"Das ist seine Schwester!" grölte er und zeigte auf Mark. "Studiert Musik in Detmold. Wir haben ihr unseren Plan erklärt und sie auf Tonband singen lassen. Sie fand 's kindisch, aber für 15 Euro war sie dabei. Und dein Gesicht war jeden Cent wert!"
Gordon spürte eine unerträgliche Hitze in sein Gesicht steigen. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie er alle Anwesenden zuerst zu Boden drückte und dann so kräftig auf ihren Köpfen stampfte, dass die Schädel brachen und den Blick auf die Gehirne freigaben. Er stieß Stefan gegen die Schulter und schrie ihn an: "Soll das witzig sein, du Idiot? Warum...?" Stefan stolperte zwei Schritte rückwärts. Er hörte auf zu lachen und sah Gordon in die Augen, als er sagte: "Genau deshalb. Ich mag dich, Mark mag dich, und Frank auch, wie du ja wohl heute Abend gesehen hast. Aber du bist manchmal so ein aggressives Arschloch!"
Jetzt machte auch Gordon einen Schritt zurück, ohne das Stefan ihn hätte schubsen müssen. Das Gesicht des Reingelegten war jetzt das eines Kindes, dem eine Standpauke gehalten wird. Stefan paukte weiter: "Keiner von uns macht so 'n Scheiß, keiner. Weil wir 's alle asig finden. Aber du, du schubst, schlägst, machst Leute an, meistens, wenn du besoffen bist, was an sich schon schlimm genug ist. Aber die Krönung dabei ist, dass du, so wie eben gerade, selbst uns immer öfter anpöbelst. Deine Freunde! Wenn ich uns jetzt einfach mal so bezeichnen darf, in letzter Zeit sind wir nämlich öfter mal ins überlegen gekommen, ob der Terminus "Freund" noch zutreffend ist."
Gordons Gesicht fühlte sich jetzt nicht mehr heiß an, aber ihm war, als würde es länger werden. Seine Mundwinkel schienen es nach unten zu ziehen. Er sah zu Mark und Frank. Beide wirkten so, als würden sie das Gespräch zwischen Stefan und Gordon nicht mitbekommen, weil sie sich ihrerseits darüber stritten, warum man Frank nicht in die Sache eingeweiht hatte. Gordon sah an Stefan vorbei und versuchte einen Punkt in der Dunkelheit zu fixieren. Dann sagte er: "O.k. Und das heißt jetzt? Keine Freunde mehr?"
"Doch!" rief Stefan. "Dafür haben wir ja den Abend heute arrangiert. Quasi einfach ein kleiner Denkzettel. Damit wir danach wieder Kumpels sein können. Du willst die Wahrheit? Ja, wir haben den Code Red angeordnet!" Gordon sah auf den Boden, damit sein Schmunzeln nicht verraten konnte, dass der Witz gesessen hatte. Außer "Last Boy Scout" mit Bruce Willis hatten sie wohl keinen Film so oft zusammen gesehen wie "Eine Frage der Ehre".
"Friede?" fragte Stefan seinen Freund und knuffte ihn leicht gegen den rechten Oberarm. Das Opfer antwortete kleinlaut, aber scheinbar einverstanden mit „Ja.“
Nachdem Stefans Joint seine Aufgabe als Friedenspfeife erfüllt hatte, genossen sie kurz einige Minuten den entspannenden THC-Rausch und machten sich schließlich auf den Weg nach Hause. Als sie die Treppe runtergingen, hob Mark das Tonbandgerät auf, das er vor die Tür mit dem vergitterten Guckloch gelegt hatte. Er drückte auf 'Stop' und folgte den anderen nach draußen. Sie stiegen auf ihre Fahrräder. Mark musste erst noch das Tonbandgerät in seinem Rucksack verstauen. "Wie habt ihr's hingekriegt, dass der Gesang erst los ging, als wir schon 'ne Weile im Turm waren?" fragte Gordon.
Mark schnallte den Rucksack auf, stieg auf sein Rad, das an der Wand unter dem vergitterten Fenster lehnte und antworte: "Oh, das war simpel. Ich hab' die Kassette einfach knapp zwanzig Minuten laufen lassen, bevor ich mit meiner Schwester die zwei Songs aufgenommen hab. Na ja, Songs, also die Fanfaren. Das Schalmeien, du weißt schon. Das war 'n ganz schöner Krampf heut Abend, weil...weil...oh Scheiße..."
Das Wort "Schalmeien" hatte Gordon zum Lachen gebracht, aber dieses Lachen verstarb plötzlich und unerwartet als er in Marks Gesicht sah. Viele Gesichter sehen in der Dunkelheit bleich aus. Aber Mark war nicht einfach bleich. Er war weiß wie ein Schneemann. Gordon richtete sich von seinem Lenker, über dem er gelehnt hatte, auf und fragte nervös: "Was? Was ist Scheiße?" Mark sah hoch, hinauf zum einzigen Fenster des Molzerturmes, und erklärte mit bebender Stimme: "Die Kassette. Als ihr mich heute Abend abgeholt habt, hab ich ziemlich in Eile meinen Rucksack gepackt. Ich hab das Tonbandgerät reingeschmissen, dann das Bier drauf, und dachte 'Scheiße, die Kassette', die war nämlich nicht im Gerät. Also hab' ich sie mir in die Tasche gesteckt, damit ich den Rucksack nicht noch mal komplett ausräumen muss, und ich hab den ganzen Abend gegrübelt, wann ich wohl Gelegenheit haben würde, sie einzulegen. Bis ich's bei der Sauferei wohl irgendwie vergessen habe..."
"Und?" fragte Gordon, aber die tausend einskalten Nadeln, die winzige Löcher in seine Rücken zu stechen begannen, verrieten ihm, dass er bereits wusste, wie es weiterging. Mark fasste in die Innentasche seiner Jeansjacke, holte eine BASF E-90 Kassette hervor und stotterte: "Scheiße, leck mich, ich hab gedacht, es läge am Alk, dass mir die Lieder gar nicht bekannt vorkamen..." Frank und Mark waren jetzt zu ihnen herübergefahren, und ihre Gesichter schienen auszudrücken, was Gordon fühlte. "Komm, jetzt hör auf, wir hatten 'n lustigen Abend..." forderte Stefan Mark auf, aber es klang mehr wie eine Bitte. Eher noch wie ein Flehen. Mark sah Stefan an und atmete dabei schnell und hysterisch. Jetzt stotterte er nicht mehr. Er schrie: "DAS IST KEIN SCHEISS-WITZ, ICH HAB DIE SCHEISS-KASSETTE DEN GANZEN ABEND IN DER TASCHE GEHABT! DEN GANZEN..."
Ein Geräusch drang aus dem Turm. Panisch traten sie in die Pedale, ohne sich umzudrehen. Sie alle hatten das Geräusch erkannt. Eine Tür war geöffnet worden. Mark erreichte als erster den Beginn des Wanderweges, dann Stefan, dann Frank. Gordon brauchte einige Sekunden länger, denn sein zitterndes rechtes Bein war beim ersten Tritt von der Pedale abgerutscht. Auf der kurzen Strecke zum Wanderweg konnte er etwas aus dem Turm hören, dass wie Schritte auf der Treppe klang. Schnelle Schritte. Als würde sich jemand beeilen, zu ihnen herunterzukommen, um sicherzugehen, dass sie nicht wegfuhren, ohne dass sie ein ganz spezielles Abschiedsgeschenk erhalten hatten.
Kurz bevor Gordon den Weg erreichte und die dichter werdenden Bäume hinter ihm den Blick auf den Molzer Turm nahmen, tat er etwas, wovon ihm sein Verstand kreischend abriet, während etwas völlig anderes als der Verstand ihn regelrecht dazu zu zwingen schien. Er drehte sich um. Was er sah, sollte ihm in seine Träume folgen. Viele, viele Jahre
Um die Eisenstäbe des vergitterten Fensters hatten sich Finger gelegt wie eine Würgeschlange um ein Opfer. Es war dunkel und Gordon war weit entfernt, aber er erkannte trotzdem, dass die Finger kalkweiß und blutig waren. Sie leuchten. Genau wie die Augen in der Dunkelheit der Zelle, die ihnen hasserfüllt nachsahen.
Keiner von ihnen hat den Molzer Turm jemals wieder betreten.