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Der gestiefelte Vater
Der gestiefelte Vater
„Meine Herrschaft ist noch nicht zu Ende!“
Mary Shelley, FRANKENSTEIN
Den wirklichen, den wahrhaftigen Grund, warum ich damals diese Tat beging, könnte ich heute nicht mehr nennen. War es schlicht der Suff? Oder war es lange gehegter, in mich hineingefressener Groll?
Nein und wieder nein. Weder hatte ich – wie so oft – einen meiner Blackouts gehabt, sondern ich kann mich sogar bis heute glasklar und minutiös an jede Einzelheit dieses Ereignisses erinnern. - Noch hatte ich auch nur für einen Augenblick so etwas wie Zorn verspürt. Im Gegenteil. Tiefster innerer Friede und Seligkeit erfüllten mich an jenem Abend. Ich kann hierzu nur sagen, dass mir diese Idee von Anfang an als absolut schlüssig und selbstverständlich erschienen war. Und für einen verkannten Künstler, der ich damals war und heute noch bin, sollte das schon etwas heißen.
Zugegeben, es war nicht gerade mein Tag gewesen, und ich hatte in meiner Stammkneipe schon einiges über den Durst getrunken. Jedenfalls betrachtete ich dann eine Weile lang gedankenvoll und mit gesenktem Kopf die nagelneuen Doc-Martens-Stiefel an meinen Füßen (ein Grund zur Freude, immerhin) und stieß dabei in Gedanken irgendwie auf meinen Stiefvater.
Ein Zusammenhang drängte sich mir schlagartig auf: Ein Stiefvater ist ein Vater, der gestiefelt werden muss.
Ich begoss diese erfreuliche Inspiration sogleich mit einem weiteren (etwa fünfzehnten) Ouzo. Der Schnaps glitt weich meine Kehle hinab wie geschmolzene Butter, und der Einfall erschien mir umso verlockender. Als aber der Ouzo heiß in meinem Magen explodierte wie ein Silvester-Feuerwerk, erschien er mir nicht mehr nur verlockend, sondern fast zwingend, ja, geradezu unvermeidlich. In meinem Kopf begann ein dumpfes Dröhnen, das zusehends anschwoll und schließlich seinen Höhepunkt fand in einem gewaltigen inneren Gongschlag. Die Gewissheit durchzuckte mich wie eine heftige Welle elektrischer Energie: Heute war der Tag. Heute musste es getan werden!
Augenblicklich schienen meine Bewegungen wie von einem gleichmäßig ruhig tickenden, inneren Uhrwerk angetrieben. Ich rutschte mit mechanisch minimalistischem Schwung vom Barhocker, bezahlte kurz angebunden die Zeche und brach auf.
Zielstrebig wie noch nie fühlte ich meine Schritte zum Elternhaus hin gelenkt. Noch nie in vergangenen Jahren – bevor ich erleichtert von daheim ausgezogen war –, hatte ich mich so emsig und sehnsüchtig auf den Weg dorthin gemacht. Die tiefstehende Abendsonne warf ihre Strahlen über einen Herbsthimmel, der aussah, als hätte jemand eine große Flasche Rotwein darüber ausgekippt. – Es war ein bedeutungsschwangerer Abend. Und ich war glücklich.
Zwar war mir die rein körperliche Überlegenheit meines Stiefvaters bewusst, sogar schmerzlich bewusst in Erinnerung an frühere Jahre, doch wusste ich mich auch im Vorteil des Überraschungsmoments – und im Besitz einer wirkungsvollen Waffe. Außerdem hatte ich schon einen Plan gefasst, um den Stiefvater zu überwältigen. Ein großes Stück Ast, das ich am Wegesrande fand, schien mir wie von einem Engel der Vorsehung dorthin gelegt ...
Ich erreichte das elterliche Einfamilienhaus, schlich mich durch den sorgfältig gepflegten Vorgarten zur Rückseite und bestieg den Treppenabsatz auf das Podest, wo die Eingangstüre sich befand. Für einen Augenblick genoss ich das überwältigende Deja Vu-Gefühl – das schmiedeeiserne Geländer, die ganze Anlage wie ein einziges großes Wohnzimmer, der Rasen wie ein grüner Teppich, die Bäume und Sträucher wie Zimmerpflanzen, das gesamte Haus wie eine barocke Schrankwand –, bevor ich auf die Klingel drückte mit dem typisch schlesischen Namenszug auf dem Schildchen darüber.
Erwartungsgemäß öffnete mein Stiefvater die Tür, denn, wie ich wusste, gehörte dies zu seinen Privilegien als Hausherr, wenn er daheim war.
„Was führt dich hierher, mein Sohn?“, fragte er mit rauer, dunkler Stimme und seiner gewohnten Haltung von Würde und Autorität.
Doch waren dies die einzigen wohlartikulierten Laute, die ich ihn an jenem Abend (und je seither) von sich geben hörte. Ich feuerte ihm mit meiner neu erworbenen Gaspistole mitten ins Gesicht. Er hatte gerade noch Zeit, mich mit weit aufgerissenen Augen ungläubig anzuglotzen und überrascht zusammenzuzucken. Denn noch bevor das Gas seine volle Wirkung entfalten konnte und er begonnen hätte zu schreien und umherzuzappeln, hieb ich dem taumelnden Familienoberhaupt meinen Stock über den Schädel. Benommen kippte er vornüber zur Türe hinaus.
Während das CS-Gas sich allmählich in der lauen Abendluft verlor, betrat ich, mich seitlich am Körper des Stiefvaters vorbeidrückend, halbwegs die Türöffnung und fasste den Stiefvater an den Füßen. Dann drehte ich den stämmigen Stiefvater ganz aus der Türöffnung heraus und zerrte ihn zur Treppe hinab.
Einer inneren Eingebung folgend legte ich seinen Kopf mit geöffnetem Mund genau auf die Kante jener Treppenstufe gepresst, ließ ihn also in die Stufe hineinbeißen, wo einer der Maurer nach Erbauung des schönen Eigenheims zum Richtfest einen Glückspfennig einbetoniert hatte. Getreu nach dem Motto: Tritt hinein, bring Glück herein!
Mit aller Inbrunst und Liebe trieb ich dem Stiefvater meinen Stiefelabsatz in den Nacken. Die Mundwinkel platzten, und sein imposanter schwarzer Vollbart verfärbte sich purpurrot. Die Kieferknochen krachten. Die herausgesplitterten Zähne des Stiefvaters glitzerten in der untergehenden Sonne.
„Andreas, wer ist denn dort draußen?“, vernahm ich jetzt eine vertraute weibliche Stimme aus dem Innern des Hauses, zudem das noch vertrautere Geklapper von Geschirr. Hierbei handelte es sich zweifelsfrei um meine Mutter, und für einen kurzen Augenblick war meine Ausgelassenheit völlig dahin. Ich würde sogar sagen: Ich fühlte mich gerade so ernüchtert, als wäre mir während einer besonders zärtlichen Liebesnacht ein schrecklich lauter, feuchter und stinkiger Furz entfahren.
Ich ward aber zur Eile gemahnt. Ohne weiter zu zagen, trat ich noch einmal freudig und kraftvoll zu. Diesmal auf den kahlen Hinterkopf. Das Nasenbein machte kroack. Die Backenknochen machten krounk. Und eine ansehnliche Menge von Blut floss nun in langen Strömen die Treppenstufen hinab. Wellen von konvulsivischen Zuckungen rollten über den Körper des Stiefvaters hinweg. Nur sein in der Treppenstufe verbissener Kopf verharrte starr wie einbetoniert. Dann hörte ich das alberne Getrappel der sich eilig nähernden Schritte meiner Mutter.
Leider hatte ich keine Zeit mehr, mein Werk großzügiger mit dem Blick des Meisters zu würdigen. Rasch wandte ich mich zum Aufbruch und verließ das elterliche Terrain auf dem schnellsten Wege.
Mit dem Bewusstsein etwas Großes, Sinnvolles und Nützliches geschaffen zu haben, begab ich mich zum Zwecke eines fortgesetzten Besäufnisses zurück zu meiner Stammkneipe. – Mochte doch meine Mutter den gestiefelten Vater von der Treppe kratzen. Immerhin verfügte sie über eine genügende Anzahl von Spaten und Schaufeln in der wohlausgestatteten elterlichen Heimwerkstatt. Reproduktions- und Aufräumarbeiten waren schon immer ihre größte Stärke gewesen.
Bevor ich meine Stammkneipe betrat, klopfte ich mir noch den Schmutz von den schönen neuen Stiefeln.
Einige Wochen später erfuhr ich durch meinen jüngeren Halbbruder, dass der Stiefvater von seinen Verletzungen genesen war. Jedoch sollte seine schöpferisch abstrakte Um- und Neugestaltung von fortwährender Dauer bleiben. Dasselbe galt für seine Stimme und Sprache. Letztere war offenbar nicht mehr von dieser Welt.
Zwar hatte ich nichts für die Ewigkeit geschaffen, jedoch wenigstens für die restlich verbliebene Lebenszeit des Stiefvaters.
Ich dachte gerade über eine posthume Konservierung oder gar Ausstopfung des gestiefelten Vaters nach, um mein Werk für die Nachwelt zu erhalten, als mein Bruder mir zu erklären versuchte, dass der Vater sich seit diesen Ereignissen innerlich viel ausgeglichener präsentiere und nun augenscheinlich zu seinem „wahren Selbst“ gefunden habe.
Da dies von Anfang an meine Überzeugung gewesen war, hakte ich nicht weiter nach, um Näheres über die Bedeutung der Worte des Bruders zu erfahren. Fest überzeugt bin ich auch heute noch, dass der gestiefelte Vater die Rettung seines Lebens – und somit auch seine Läuterung – jenem Glückspfennig verdankte, welcher in die bewusste Treppenstufe einbetoniert war. Mein Vertrauen auf innere Eingebungen ist dadurch in mir - der ich nach wie vor ein verkannter Künstler bin - erheblich gewachsen.