Der Gewinner verliert
„Der macht es nicht mehr lange“ sprach hinter ihm eine Stimme genau das aus, was er gerade selbst gedacht hatte. Nur hätte er es niemals laut ausgesprochen. Er drehte sich nicht um, wozu auch, die Stimme kannte er genau, hatte sie schon viele hundert Mal gehört.
Über die Schulter antwortete er: „Du könntest dir auch einmal eine humanere Ausdrucksweise zulegen Aley“. Dieser lachte nur heiser. „Sicher könnte ich das, aber es würde an der Tatsache nichts ändern Mischa, daß der arme Schlucker da drinnen bald den Löffel abgibt.“
Jetzt drehte sich Mischa doch um. Die schwarze Gestalt hinter ihm überraschte ihn keineswegs. Sie hatten sich hier schon zu oft getroffen.
„Was machst du überhaupt hier?“ schnauzte er. „Ich habe das gleiche Recht wie du, reg dich nicht auf“ erwiderte Aley. „Ich weiß, daß er dir gehört, aber man wird doch noch zuschauen dürfen.“ Bei diesen Worten grinste er.
„Pass lieber auf, daß er dir nicht entwischt“ meinte er hämisch und deutete auf das Geschehen im Nebenzimmer, das sie durch die Glasscheibe beobachten konnten. Niemand dort drin beachtete sie, was nicht nur daran lag, daß alle im Raum hektisch beschäftigt waren. Der Grund war ganz einfach, niemand konnte Aley und Mischa sehen.
Die Geschehnisse hinter der Glasfront wirkten wie ein Pantomimentheater. Kein Ton war zu hören, aber man sah jede einzelne Bewegung. Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, hörte die Hektik auf, die Bewegungen wurden ruhiger und einige der Beteiligten sahen sich betroffen an. Geräte wurden ausgeschaltet und der verantwortliche Arzt ging hinaus. Kurz darauf hörte man aus dem Gang ein herzzerreißendes Schluchzen.
Die beiden Beobachter sahen etwas anderes. Während die Ärzte und Schwestern hektisch bemüht waren, ihren Patienten doch noch zu retten, war aus diesem eine Art Abbild aufgestanden. Jetzt stand der Geister-Zwilling neben dem Bett und beobachtete interessiert das Geschehen um sich herum.
Als der Patient starb, erlosch auch die helle Verbindungslinie zwischen dem Körper und dem Geist. Der schemenhafte Zwilling wurde klarer. Nun sah er auf und lächelte Mischa an, hinter dem sich ein gleißendes Licht ausbreitete.
Die Seele des Verstorbenen trat an Mischas Seite und ging mit ihm auf das Licht zu.
Aley winke ihnen mit einem zynischen Lächeln nach. „Hätte ich nicht besser machen können, Mischa. Wir sehn uns.“ Doch dieser beachtete ihn nicht weiter und war bald mit seinem Schützling im Licht verschwunden.
Auch der schwarze Engel sah jetzt keinen Grund mehr, hier zu bleiben. Er spazierte den Korridor entlang, drehte sich einmal um seine Achse, so daß sein schwarzer Mantel um ihn flatterte und war von einem Augenblick zum anderen fort.
Ein paar Tage später saß Mischa auf einem Hausdach und betrachtete die Leute, die unten auf der Straße vorübergingen. Sein blondes Haar glänzte im Sonnenlicht und seine helle Haut, seine weiße Kleidung und vor allem seine weißen Flügel hätten jeden Sterblichen, könnte er ihn sehen, erblinden lassen.
„Na, hast du heute frei oder sind dir die beschützenswerten Menschen ausgegangen, mein guter Samariter?“. Aley ließ sich neben ihm auf dem Dachfirst nieder, ohne um Erlaubnis zu fragen.
Mischa sah ihn nur kurz mit einem mühsam abgerungenen Lächeln an, das nur um seine Lippen spielte, seine Augen aber nicht erreichte.
„Was verstehst du schon vom Menschen beschützen? Du und deinesgleichen könnt doch die Menschen nur quälen und verführen.“
„Da irrst du dich gewaltig, mein weißer Freund“, Aley sah ihn kurz von der Seite an und ein irritierendes Lächeln stahl sich in sein Gesicht.
Er sah mit gespielter Verlegenheit auf seine Hände, die am Saum seines Mantels nestelten. Ein listiger Blick unter seinem zerzausten dunklen Haar hervor traf den Weißen, bevor er wieder die Augen senkte.
„Du weißt, daß wir von Luzifer abstammen und Luzifer war einmal ein Engel. Auch wenn das lange her ist, fließt in unseren Adern das gleiche Blut wie in eueren. Wir leben zwar dafür, das Böse zu tun, aber wir können auch, ohne Schaden zu nehmen, Gutes tun.“
„Selbst wenn das stimmt, du würdest doch niemals Gutes tun, das kannst und willst du doch gar nicht.“ Mischa war aufgestanden und blickte ihm herausfordernd ins Gesicht. „Du und deinesgleichen könnt doch nichts anderes, als die Menschen ins Verderben zu locken. Ihr seid davon geradezu besessen, es ist euere Bestimmung, so wie es unsere Bestimmung ist, sie zu retten.“
„Wetten, daß ich es könnte?“ Nun war auch Aley aufgestanden und baute sich vor Mischa auf. Er streckte ihm seine rechte Hand entgegen und forderte ihn heraus: „Ich wette mit dir, daß ich es eine Woche lang schaffe, nichts Böses zu tun. Im Gegenteil, ich werde genau so viel Gutes tun, wie ein weißer Engel und um die ganze Sache noch etwas spannender zu machen, werde ich es als Mensch tun.“
Mischa sah ihn fassungslos an. „Das glaub ich dir nicht“.
„Bei Luzifers Flügeln und dem Höllenfeuer, ich schwöre es“ beteuerte Aley. „Was hast du zu verlieren? Fürchtest du dich etwa?“ Sein Gesicht spiegelte die blanke Herausforderung wider.
Da beging Mischa den größten Fehler seiner Existenz. „Einverstanden. Die Wette gilt, von nun ab eine Woche, wir beide als Menschen gegeneinander, aber das wirst du nicht schaffen, da bin ich mir sicher.“
Aley wandte sich zum Rand des Daches. „Abwarten mein Freund.“ Er spannte seine schwarzen Flügel und hob ab.
„Das werden wir ja sehen, wer hier am Ende etwas nicht schafft. Der Verlierer steht noch nicht fest“ murmelte Aley zufrieden in sich hinein. Er hatte den Köder ausgelegt und das Opfer hatte angebissen. Die Falle war bereit.
Mischa sah dem sich entfernenden dunklen Schatten noch eine Weile nach. „Das wird er nicht schaffen. Das ist unmöglich. Ein dunkler Engel tut nichts Gutes.“ Mit diesen Worten erhob er sich und flog Aley nach. Noch spürte er nichts von dem dunklen Schleier, der sich über seine Existenz gelegt hatte.
Doch den ganzen Tag passierte nichts. Mischa hielt sich im Hintergrund und beobachtete Aley allerdings nur dabei, wie er durch die Stadt schlenderte, sich die Schaufenster besah und durch den Park spazierte. Insgeheim lächelte er über seinen weißen „Kollegen“. So eine intensive Beschattung und nichts passierte!
Gerade hatte er dessen helles Spiegelbild in einem Schaufenster erblickt. Sie waren nun in ihrer Menschengestalt unterwegs, aber von ihrer „Farbe“ wollten sie beide sich nicht trennen.
So ging es auch den zweiten und dritten Tag der Wette weiter. Der schwarze Herausforderer spazierte scheinbar ziellos durch die Stadt, während der unauffällige Beobachter ihn observierte wie ein professioneller Privatdetektiv. Mischa ließ ihn keine Sekunde aus den Augen.
Er war wie besessen von seinem Vorhaben, daß er nicht merkte, wie sich der Schleier verdichtete. Unmerklich schlich sich etwas ein, das keine Gestalt hatte, nur Auswirkungen, die vorerst nur sehr schwach waren. Sein Blick dafür war allerdings schon getrübt, sonst wäre ihm dasselbe aufgefallen wie seinen Artgenossen, die bekümmert zusahen, aber nicht eingreifen durften. Er hatte sein Schicksal selbst gewählt.
Auch Aley beobachtete Mischa ganz genau. Er fühlte zwar nicht das, was die „weiße Liga“ wie er sie spöttisch nannte, spürte, aber er wußte doch in etwa, was vorging.
Der weiße Engel schritt jedoch ahnungslos an hilflosen Bettlern vorbei, denen er eine warme Unterkunft und etwas zu essen besorgen könnte. Die alte Frau, die einsam und verlassen in ihrem Haus saß, besuchte er nicht. Auch mit dem weinenden Kind, das ausgeschlossen von den anderen Kindern am Spielplatz stand, unterhielt er sich nicht.
Sein Blick folgte starr Aley und seinem schwarzen Hauch, den er wie einen Umhang hinter sich herzog und der auch Mischas Füße bereits umspielte.
Am vierten Tag der Wette, es war ein düsterer, verregneter Tag, als sich die Sache zuzuspitzen begann. Aley hatte einem Blumenhändler eine rote Rose abgekauft und sich mit diesem eine Viertelstunde über dessen kranke Frau unterhalten. Langsam war er über die Straße geschlendert und verschwand nun im Park.
Nach einigem hin und her erreichte er den kleinen See. Dort saß auf einer Parkbank eine hübsche junge Frau und auf der Bank, die keine zehn Meter entfernt stand saß ein junger Mann. Äußerlich war nichts Bemerkenswertes. Innerlich tobte hier jedoch ein Hurrikan. Der Mann war schon lange in die Frau verliebt. Sie arbeiteten beide in der Nähe und machten hier oft Mittagspause.
Am liebsten würde er sie ansprechen, aber er war von der schüchternen Sorte und hatte Angst, daß er für sie völlig uninteressant war. Ihr dagegen war der nette Mann schon lange aufgefallen. Er bot alten Frauen einen Platz an, grüßte jeden freundlich und schien sehr gebildet zu sein. Aber er kam und kam nicht her. Anscheinend war er nicht an ihr interessiert. Sie beschloss, ihre Mittagspause wo anders zu verbringen.
Hier trat Aley in ihr Leben. Er setzte sich zu dem Mann und redete auf ihn ein. Er erzählte ihm eine traurige Geschichte, daß er verliebt war, aber zu schüchtern, es der Frau seines Herzens zu gestehen. Jetzt habe er sich endlich dazu durchgerungen, finde seine Angebetete aber nicht mehr. Innerlich sprach auch sein Herz zu dem Herzen des Mannes.
Dieser bezog die Geschichte auf sich, besann sich, daß es vielleicht auch für ihn eines Tages zu spät sein könnte. Aley stand auf, spürte daß er gewonnen hatte, gab seine Rose dem Mann und meinte, er brauche sie nicht mehr. Darauf ging er.
Der Mann drehte die Rose in den Händen und sah versonnen zu der Frau hinüber. Diese spürte sein Interesse und sah auf. Sie lächelte spontan, war dann aber über den eigenen Mut erschrocken und senkte den Blick.
Als der Mann aufstehen wollte, um zu ihr zu gehen, ging plötzlich ein Ruck durch ihn. Sein Blick verfinsterte sich. Er stand auf, warf die Rose auf den Boden, trat einmal darauf und ging weg. Die Frau sah ihm ratlos nach. Sie traf ihn nie wieder.
„Herzlichen Glückwunsch mein Lieber, du hast es vereitelt.“ Mischa fuhr herum. Er stand unter einer Linde, nicht weit hinter den Parkbänken. Aley lehnte lässig am nächsten Baum.
Mischa sah ihn an und lächelte. Doch dieses Lächeln war nicht mehr seines. Es hatte einen Unterton, wie Milch, die sauer zu werden begann.
„Du wirst deine Wette nicht gewinnen, egal was du tust.“ Er drehte sich um und ließ Aley stehen. Dieser sah ihm nach. Auch der weiße Engel, der in der Nähe auf einem Lindenast saß, und alles beobachtet und gehört hatte, blickte der sich entfernenden Gestalt nach. Eine Träne kullerte über seine Wange und verschleierte seinen Blick. Doch den dunkler werdenden Schatten, den Mischa mit sich nahm, sah er trotzdem noch. Der kälter werdende Ostwind blies ein paar Federn davon, die grau geworden waren.
Auch am fünften und am sechsten Tag ging es so weiter. Mischa verlor seinen Blick für die kleinen Nöte der Menschen und Aley brachte ihn immer wieder dazu, nicht nur das Gute zu unterlassen, sondern auch das Böse zu tun. Sein Kontrahent verwandelte alles, was Gut war, ins Gegenteil.
Der ehemals weiße Engel sah nicht mehr, was passierte. Sein Blick war getrübt, die Welt in tausend Splitter zersprungen und dann wieder falsch zusammengesetzt. Doch er spürte es nicht. Seine Brüder beobachteten ihn, doch was konnten sie schon gegen den Lauf des Schicksals ausrichten?
Am letzen Tag der Wette begannen sie schon früh ihren seltsamen Spaziergang durch die Stadt und die Probleme der Menschen. Aley ging wie immer voraus und Mischa folgte ihm, nun nicht mehr unauffällig. Er schritt hocherhobenen Hauptes ein paar Meter hinter seinem schwarzen Kollegen her. Jedes Mal, wenn er an Menschen zu nahe vorbeiging, fühlten diese einen kalten Hauch und sie fröstelten. Sie konnten seine Flügel nicht sehen, aber die Federn, die der kalte Wind ihnen vor die Füße trieb.
Aley drehte sich die ganze Zeit nicht um. Er spürte, daß der andere ihm folgte. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Nun war bald der Moment gekommen. Mischa ging ihm nach, sah weder links noch rechts. Ein fiebriger Glanz war in seine Augen getreten. Hätte er in einen Spiegel geschaut, wäre er wohl nicht einmal erschrocken.
Sie gingen in stiller Verbundenheit durch die Stadt. Der dunkle Führer tat nichts anderes als warten. Es würde passieren, an dem Ort und zu der Zeit, die schon seit Anbeginn der Welt für dieses Ereignis bestimmt war. Sein Fürst und Herrscher würde ihn preisen. Dies würde der größte Erfolg sein, den die Hölle seit ihrer Entstehung zu verzeichnen hätte. Er blickte zur Sonne, langsam neigte sie sich in Richtung Horizont, es wurde Zeit.
Er änderte seinen Kurs und wandte sich dem Stadtrand zu. Bald ragte die Brücke hoch vor ihm auf, vor ihnen, denn Mischa hatte aufgeholt. Schulter an Schulter standen sie und ihre Blicke hoben sich und erfaßten gleichzeitig die einsame Silhouette, die sich am Geländer gegen den dunkler werdenden Nordhimmel abhob.
Sie blickten sich an und ohne ein Wort zu sagen, stiegen sie die Böschung hinauf.
Bald standen sie neben dem Selbstmordkandidaten. Tränen rannen über sein Gesicht, während die Hände krampfhaft das Geländer umklammert hielten. Aley stellte sich links neben ihn. Sein Mund berührte fast das Ohr des anderen. „Tu es nicht, es gibt noch soviel auf der Welt, was du machen kannst. Eine Kündigung ist nicht das Ende. Deine Frau und deine Kinder brauchen dich. Deine Frau liebt dich, egal was du arbeitest.“
Ein heller Schimmer zog sich über das Gesicht des angehenden Selbstmörders. Die Hände glitten ab und er trat einen Schritt zurück.
Doch schon war Mischa an der rechten Seite. Auch er flüstere. „Wie soll ich ohne Arbeit meine Frau und meine Kinder ernähren? In meinem Alter finde ich keine Arbeit mehr. Meine Frau verachtet mich. Wie sie immer über die faulen Arbeitslosen redet.“
Die Hände griffen wieder fest das Brückengeländer und der Blick des Mannes wurde wieder trüb.
Über seinem Kopf trafen sich die Blicke der Engel. Aley erschrak. Dort, wo früher Güte in den Augen war, war blanker Haß, die schönen Gesichtszüge waren verschwommen und etwas anderes begann an seine Stelle zu treten, etwas Teuflisches. Ein Feuer flammte in diesem Gesicht auf und verbrannte die Person, die einmal in diesem Körper gewohnt hatte.
Aley war wie gelähmt, aber nicht Mischa. Dieser drehte sich zu dem Mann und hauchte nur ein Wort in dessen Gedanken. „Spring, spring, spring“ und der Mann stieg über das Geländer und sprang.
Die Engel standen allein auf der Brücke. Sie sahen sich an. Aley lief eine Träne über das Gesicht. „Es tut mir leid Mischa. Was habe ich dir nur angetan“.
Für einen Augenblick sah ihn der alte Mischa an, traurig, dann bekam seine neue dunkle Seite wieder Oberhand. Er grinste ihn an.
Plötzlich öffnete sich vor ihnen ein Loch in der Wirklichkeit. Dahinter war Dunkelheit und schwefelige Luft. Ein unwiderstehlicher Sog drängte beide dazu, hindurchzugehen. Mischa ging freiwillig. Aley spürte plötzlich, daß er dorthin nicht mehr gehörte. Daß er seinen Auftrag zu gut gemacht hatte und nun kein schwarzer Engel mehr war. Als Mischa in der Dunkelheit verschwand, wurde er vollends schwarz.
Aley blickte zum Himmel. Die Sonne ging unter. Am Horizont leuchtete der erste Stern auf. Er gehörte nicht mehr in die Dunkelheit, aber der Sog ließ ihn nicht entrinnen. Als er durch das Tor ging, ließ der letzte Sonnenstrahl seine weißen Flügel aufstrahlen. Für diese Wette gab es nur Verlierer.