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Der Gewohnheitskatholik
Der Gewohnheitskatholik
Stuart war sich nicht sicher, ob in diesem Moment das wunderbare Gefühl der ultimativen Erleichterung überwog oder ob die Vorboten der Hölle ihn erreicht hatten. Aber Stuart wusste, dass der gesamte Fokus seiner Existenz mit einem massiven Ruck verschoben worden war, kurz nachdem er sich aus der Bank erhoben hatte und noch vor der Wandlung die Messe verlassen hatte.
Es war nicht so sehr die Tatsache, dass er sich wegen seiner Handlungen schuldig fühlte, sondern viel mehr die Frage, ob dies hier und jetzt die Strafe war für einen so ungehörigen Akt, gar Blasphemie, war.
Während Stuart so dasaß und über das nachdachte, was auf ihn einströmte, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, ihn zu erlösen, aber trotz seiner Anwesenheit in einer der imposantesten und ältesten Kathedralen der Welt, wollte der Funke des Gebets nicht so recht überspringen.
Stuart würde sich selbst nicht als gläubig bezeichnen, mehr als Gewohnheitskatholiken. Aber unter den gegebenen Umständen wünschte er sich nichts mehr, als dass sich irgendetwas änderte. An seinem Glauben, seiner augenblicklichen Situation, seinem Gegenüber, falls man das so nennen durfte, oder dem immer noch andauernden Druck in seiner Blase.
Mit diesem Gedanken hatte der Kreis sich geschlossen. Der Druck in der Blase. Für diesen zeichnete die vierte Tasse südamerikanischen Hochlandkaffees - französische Röstung, ökologischer Anbau, fairer Handel - verantwortlich, die Stuart noch auf dem Weg zur Kirche konsumiert hatte.
Mild-gläubig oder nicht, Stuart war abergläubisch genug, um nicht zu spät zur Messe zu erscheinen. Und um, wenigstens in der Regel, nicht während der Zeremonie einzuschlafen. Schlechtes Karma würde ihn tagelang verfolgen und so hatte er seine Morgenrituale beschleunigt und tatsächlich in einer der äußeren Bänke im Seitenschiff Platz genommen, bevor die Orgelpräludien verhallten und der Pfarrer die Stufen zum Altar hinaufstieg.
Nun aber hatte der Druck seinen Tribut gefordert. Stuart hatte eine Weile lang standhaft ignoriert, dass er unruhig hin und her rutschte und mehr als einmal pro Minute auf die Uhr sah, ohne die Zeit auch nur ein einziges Mal wirklich wahrzunehmen. Dann aber hatte er sich seinem Schicksal ergeben und sich vorbei an einer alten Frau mit Hut und einem Stapel Gesangsbücher aus der Bank gedrängelt. Sein Karma würde aufgrund dessen einige Tage schief hängen, möglicherweise sogar bis zum nächsten Sonntag, aber damit konnte er leben. Notfalls konnte er dann beichten gehen.
Einmal auf den Beinen nahm der Druck in seinem Unterleib um beinahe ein Bar zu. So jedenfalls fühlte Stuart sich bei genauerer Betrachtung seiner selbst. Der Druck an sich war aber nicht das Schlimmste.
Als tragisch empfand er in diesem Moment viel mehr, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo er die Toiletten finden würde. Selbstverständlich waren im Kirchenschiff keine Leuchtschilder angebracht, aber ebenso selbstverständlich musste eine Kathedrale wohl sanitäre Einrichtungen besitzen. Musste. Sollte. Selbstverständlich. Aber auch tatsächlich? Soweit er sich erinnern konnte, hatte er im gesamten Bereich der Kathedrale noch nie einen Hinweis auf die Existenz von Besuchertoiletten gefunden.
Im Geiste ging er die Gegend rund um die Kathedrale nach einem geeigneten Ort für seine Erleichterung durch. Der Friedhof, der Kreuzgang und der Parkplatz kamen nicht in Frage. Nach endlosen Sekunden kreuzte der Gedanke an Personaltoiletten seine Gedanken. Mussten nicht alle Arbeitgeber wenigstens Personaltoiletten bereithalten? Galt das auch für die Kirche? War eine Kirche ein Arbeitgeber?
Mit einem Zucken im Bereich der unteren Bauchmuskeln nahm er die durch Lautsprecher vielfach ausgestrahlte Stimme des Pfarrers wahr, der seiner Intonation nach zu urteilen zum Ende der Predigt kam.
In etwa zwei Minuten, die in seinem Zustand mehr als wertvolle Zeit darstellten, würde es vollkommen still in der Kirche werden, nach dem ambitionierten Aufruf des Mannes im weißen Talar - lasset uns beten!
Darauf konnte er nicht warten. Aber ebenso wenig konnte er nicht aus der Kirche gelangen, wurde ihm bewusst. Der einzige Weg hinaus führte durch das Hauptportal. Die Flügel des Hauptportals waren zwar nicht verschlossen, würden aber fürchterlichen Lärm verursachen, wenn er auch nur versuchen würde, sie einen Spalt breit zu öffnen. In jedem Fall würde diese Aktion einen Grad an Aufmerksamkeit erregen, der einem öffentlichen Skandal glich und selbst für einen reinen Gewohnheitskatholiken nicht erträglich war. In Schimpf und Schande zu fliehen, wäre beinahe schlimmer, als betreten und mit einem peinlichen Malheur aus der Hintertür zu schleichen, wenn die Messe vorbei wäre. Aber Stuart war entschlossen, weder das eine noch das andere eintreten zu lassen.
Er realisierte, dass er nun beinahe eine Minute mit wertlosen Wenns, Abers und Unmöglichs vertan hatte und ein neuerliches Stechen in der Lendengegend setzte ihn in Gang. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff er nach der Klinke einer kleinen Holztür, die er zwischen zwei der antiken Beichtstühlen entdeckte. Die musste zur Sakristei führen. Dort würde er zumindest irgendeine Art von Sanitäreinrichtungen finden und letztendlich war die gesamte Gemeinde mit der Messe beschäftigt, sodass ihn niemand dort ertappen würde, auch wenn er die Toilette des Pfarrers mißbrauchte. Eine lässliche Sünde allemal. Aus der Not geboren.
Das letzte, was er vernahm, als sich die Tür hinter ihm fast geräuschlos schloss, waren die Worte des Pfarrers: "Und nun, meine Brüder und Schwestern, lasset uns..." Stuart konnte sein Glück kaum fassen. Immerhin hatte er es auf dem Kirchenschiff hinaus geschafft, bevor die Stille hereinbrach. Er atmete auf und bemerkte im gleichen Augenblick, dass es für Entspannung jeder Art zu früh war, denn das Letztes was er jetzt brauchen konnte, war, den Dingen freien Lauf zu lassen.
Im Halbdunkeln sah er sich um. Er befand sich in einem schmalen Gang, der parallel zum Kirchenschiff nur einige Schritte in jede Richtung zu führen schien, dann aber offenbar von einer Sandsteinwand abgeschlossen wurde. Nach einer Sekunde des Zögerns wandte sich Stuart in Richtung des vorderen Teils der Kirche. Dort musste sich die Sakristei befinden.
Zu seiner Überraschung fand er schon nach einigen Schritten eine kleine Tür, die in die Seitenwand eingelassen war. Sie wirkte wie eine altmodische Klotür, daran gab es keinen Zweifel, auch wenn kein Herz hineingeschnitzt war. Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen. Man hatte also tatsächlich Toiletten eingebaut. Nur zeigte man diese, sicherlich aus guten Gründen, nicht der Öffentlichkeit. Sie waren offenbar ein Geheimnis für Eingeweihte.
Er schlüpfte durch die Tür und fand sich nun vollständig im Dunkeln wieder. War es im Gang noch diffus hell gewesen, sodass er die Tür hatte ausmachen können, so war es im Innern des kleinen Raumes mehr als finster. Zudem war es mucksmäuschenstill. Erfolglos tastete er über die Steinoberfläche der Wand neben der Tür nach einem Lichtschalter. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Druck war angesichts der nahen Erlösung um eine weitere Nuance angestiegen und so blieb ihm nicht anders übrig, als im Dunkeln herumzutasten, bis er die Toilette gefunden hatte. Er schluckte und schwor sich, seine Hände mehr als gründlich zu waschen, sobald er die Chance dazu bekam.
Die Kammer war so klein, dass er sich kaum bewegen konnte und er stieß wiederholt mit den Ellenbogen an. Die Wände klagen hohl und polterten jedes Mal erstaunlich laut. Zudem war sie zu niedrig, um aufrecht darin zu stehen. Zumindest vereinfachte der mangelnde Raum die Suche ein wenig.
Gerade als seine Hände soetwas wie einen Holzdeckel ertastet hatten, hörte er hinter sich ein leises Geräusch. So als riebe Stoff an Stoff und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Stuart, hinter ihm sei Licht in den kleinen Raum gefallen. Aber als er sich umsah, war nichts zu erkennen.
Achselzuckend hob er den Holzdeckel an und fühlte mit einem Schaudern den schmalen hölzernen Rand darunter. Einen Moment lang wollte er umkehren, aber er zog in Betracht, dass es erstens eilig war, zweitens die Kathedrale älter war als DIN-Normen und drittens, dass es eilig war.
Drittens gab den Ausschlag und er drehte dem Becken den Rücken zu, während er seinen Gürtel öffnete. Hatte er auch nicht die religiöseste aller Erziehungen genossen, so empfand er es jedoch im letzten Moment als ungehörig, sich in einer Kirche im Stehen zu erleichtern. Er konnte den strengen Blick seiner Mutter geradezu auf sich spüren. Er setzte sich, halb balancierend auf den schmalen Holzrand.
Dieser eine Moment sollte es sein, in dem seine Welt aus den Fugen geriet, in dem der Kreis sich schloss. Denn während sich ein erleichtertes, wenn nicht geradezu euphorisch Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete, als er die ersten Tropfen der Erleichterung spürte, kroch mit Eiseskälte die Realität in seine Welt, als er die flüsternde Stimme durch das dünne Gitter ihm gegenüber vernahm: "Vater, eben habe ich Euch gehört, seid Ihr da? Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt..."
Version geändert am 28.01.2006