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Der Glaube

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16.09.2006
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Der Glaube

„Sh**!“ fluchend sprang Marie aus dem Bett und musste sich erstmal den drehenden Kopf halten, sobald sie auf den Beinen stand. Er brummte gewaltig.
Sie wusste nicht, wer der hässliche Mann da in dem fremden Bett war und was das für ein widerliches Apartment war, in dem sie sich befand.
Es roch merkwürdig nach Weihrauch oder irgend so einem Mist. Sie musste hier dringend fort, hier durfte sie nicht bleiben. Schnell zog sie sich an. Die Stiefel mit den Plateausohlen, die dunkelrote Strumpfhose und das dunkelblaue Glitzerkleid. Sie schnappte sich ihr Täschchen, schnell eine Kopfschmerztablette, ein letzter Blick in den Spiegel im Flur. „Gott, wie seh ich schon wieder aus!“ schimpfte sie, wischte die Überreste des Lippenstifts, der über ihre gesamte linke Wange verteilt war weg, rubbelte an den schwarzen Ringen, die ihr Augenmakeup hinterlassen hatte herum, fuhr sich ein paar Mal mit den Fingern durch das ungewaschenen Strähnen – zu ihrer Verwunderung fischte sie Stroh heraus - und dann nichts wie weg hier.
Auf der Straße atmete sie erst einmal tief durch. Der kühle Frühlingswind fuhr ihr durch die dunkelbraunen Haare, die ihr auf die schmale Taille fielen.
Jeder ihrer weiblichen Bekannten beneidete sie um ihre Haare. Und um ihre dunklen Rehaugen, mit denen sie jeden um den Finger wickeln konnte.
Doch es waren alles nur Bekannte. Bekannte, die sich einen Joint mit ihr rein zogen, Bekannte, die mit ihr bis in die Früh durchmachten, Bekannte, die sie in die angesagten Clubs der Stadt brachten. Freunde waren es nicht. Sie kannte ja kaum einen ihrer Namen. Wozu musste man die Leute auch kennen? Bindungen eingehen war zu anstrengend und am Ende wird man eh nur enttäuscht.
Nein, sie brauchte niemanden. Sie war frei, frei, frei, wie ein Vogel. Ein Aasgeier. Ihr Leben hatte schon längst keinen festen Rahmen mehr und doch war es fast jeden Tag dasselbe: Sie wachte neben einer ihr unbekannten Person auf (die heutige war besonders abstoßend gewesen), danach ging sie immer in ihr Stammcafé um Bekannte zu Treffen und Unmengen von Kaffee und Zigaretten zu verschlingen. Auf der Toilette konnte sie dann ungestört etwas einwerfen und wenn sie die Lust am Cafégespräch verlor, verschwand sie in die WG.
Ihre Großeltern zahlten die Miete, schließlich wussten sie noch nicht, dass sie schon längst nicht mehr studierte. Sie kellnerte ab und zu, tanzte in Gogo-Bars oder dealte ein wenig mit allem Möglichen, legal oder illegal – das wusste sie manchmal selbst nicht so genau.
Sie war schon lange nicht mehr das liebe Mädchen von nebenan mit den großen runden Kulleraugen, welches stets aufgeweckt, geistreich und höflich war.
Als einziges waren die Augen geblieben. Die immer nach neuen Herausforderungen forschten. Doch auch diese Herausforderungen hatten sich als vergänglich herausgestellt. Es war alles erforscht, alles bekannt - jetzt blieb nur noch der gähnende Schlund des erkrankten Alltags.
„Wo zum Teufel bin ich eigentlich?“ Marie drehte sich einmal um sich selbst, doch die Haustür, die sie ausgespuckt hatte, wollte einfach nicht stillstehen. Marie hielt sich an einem Laternenpfahl fest und übergab sich erst einmal. Ein dicker Mann mit einem Schaf und einem Esel – nein, zwei Hunden - lief schimpfend an ihr vorbei. Ihr war es egal.
„Hey, sie! Wo bin ich hier?“ fragte sie und wischte sich den Mund ab und suchte in ihrem Täschchen nach einem Kaugummi.
Der Mann drehte sich kurz zu ihr um, nur um dann angewidert schneller vor ihr fort zu laufen.
„Wichser!“ keuchte sie in ihre in ihre Zigarette hinein, die sie anstelle des Kaugummis gefunden hatte. Doch das Feuerzeug blieb stumm, also packte Marie die Sachen wieder zurück. Sie hob den Kopf und suchte nach einem Straßenschild. „Jesuitenweg.“ Las sie schließlich. „Alles klar…“ Hier war sie irgendwann schon einmal gewesen. Nach einer Weile fand sie auch die Straßenbahn. Ihre langen Haare fielen in glänzenden Strähnen über ihr Gesicht und ruckelten im Rhythmus der Bahn vor ihren Augen hin und her.
„Die Fahrkarten bitte.“ Durch die braunen Strähnen lugten ihre Augen hervor. Obwohl Marie erhebliche Schwierigkeiten hatte, sie überhaupt offen zu halten, waren sie immer noch groß und rund.
„Herrgott, was soll die Scheiße?“ Schimpfte sie und bewegte sich, von einer Haltestange zur anderen hangelnd, zur Tür. Sie war ganz ruhig unter ihrem schweren Schleier, der schon seit Wochen über ihr lag und sie stets begleitete.
Als die Beamten näher kamen, lächelte sie so gut es ging. Die Bahn hielt, sie wollte aussteigen, aber die Türen waren noch nicht offen. Also stieß sie mit voller Wucht gegen die Scheiben. Fluchend rieb sie sich die Stirn, Englein, Englein, Englein fliegen, und stieg aus, sobald die Türen aufgingen. Niemand folgte ihr. Man hatte kein Interesse an einer wie ihr.
Den restlichen Weg zum Café lief sie. Nein, schlich sie, ab und zu Halt suchend an Mülleimern oder verschlossenen Türen. Die dicken Sohlen ihrer Stiefel schienen am grauen Asphalt fest zukleben und sie wünschte sich jemanden an ihrer Seite oder einfach nur ein Reittier. Ein Auto.
Endlich kam Marie an. Einige ihrer Bekannten saßen an ihrem gemeinsamen Stammplatz und schütteten Kaffee Literweise in ihre ausgelaugten Körper. Auch Marie bestand nur noch aus Haut und Knochen.
„Viel Kaffee.“ Sie hatte einen der Kellner am Kragen gepackt und sah ihm direkt in die Augen. Er schüttelte sie ab und nickte.
„Hey, Marie.“ Machte der ein oder andere Bekannte. Sie nickte und ließ sich auf die schicken Stühle fallen.
„Uhr?“ sie suchte in ihrer Tasche nach der Zigarette. „Halb zwei.“ War die Antwort. „Mhm.“
„Woher kommst du grad?“
„Keine Ahnung. Zum Glück war eine Bahn in der Nähe.“
„Wo gehst’n du heute hin?“
„Keine Ahnung. Dorthin, wo was los ist. Was ist mit dir Marie?“
Das Lachen der Bekannten war billiger als ihre Plastikohrringe. Mit zittrigen Fingern fingerte sie an ihrem Feuerzeug herum. Eine helfende Hand gab ihr Feuer. Sie nickte dankbar. „Ich geh’ ins Holy Bible.“ Hustete sie nach dem ersten Zug.
„Gut, ich geh’ mit. Kann ich bei dir duschen.“
Sie nickte und schüttete ihren Kaffee runter. „Ich zahl gleich!“ rief sie dem Kellner zu, der schnell von dem Tisch der verlorenen Seelen verschwinden wollte.
Er nahm sein Geld und zischte wortlos davon.
„Hässlicher Kerl.“ Spottete eine ihrer Bekannten.
„Nicht so hässlich, wie der Typ in dessen Bett ich heute aufgewacht bin.“ Meinte Marie. Lachen, billig.
„Du bist mit dem mitgegangen?“ fragte ein Bekannter erstaunt.
„Fick dich, denkst du ich weiß jetzt noch, was gestern war? Ich weiß nicht mal in welchem Club ich gewesen bin, …“
„Im ‚Dancing Prophet’!“
„Im ‚Dancing Prophet’ ist es immer verdammt dunkel, wahrscheinlich hab’ ich ihn nicht richtig gesehen.“ Beendete Marie und ihre Bekannten lachten wieder.
Der Kaffee war alle. „Ich geh’, wir sehen uns.“
„Warte, ich wollte noch bei euch duschen.“ Ein Schatten sprang auf. Er war jünger als sie. „Meine Eltern haben mich heute früh um drei Uhr raus geschmissen.“ Marie wackelte mit dem Kopf, winkte ihn hinter sich her und verschwand aus dem Café.
Von dem Café aus war es nicht weit bis zu der WG, ihrer heiligen Stätte.
Da Maries Hand immer noch zittrig war, schaffte sie es einfach nicht den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Entnervt drückte ihr Bekannter auf die Klingel.
„Was zum …“ polterte eine Frauenstimme von innen los und öffnete die Tür. Es war ihre neue Mitbewohnerin, die neben ihr und einem Dritten, Samuel, einem gebürtigen Afrikaner, hier neu hinzugezogen war.
Die Neue hatte feuerrote Haare und leuchtend grüne Augen. Ihr blasser schlanker Körper wurde nur von einem kurzen seidigen Morgenmantel bedeckt.
Als sie Marie erkannte, rief sie nach Sam. „Hier ist die Kranke wieder.“
Marie überhörte es und zeigte ihrem Bekannten die Dusche. Sam kam angelaufen und schimpfte auf Marie ein, doch es prallte alles an ihrem stummen Schleier ab. Alles fühlte sich so taub an.
Die Neue hatte sich lässig auf einen Küchenstuhl gesetzt, trank einen schwarzen Tee, der so stark dampfte, dass das markante Gesicht hinter dem kochenden Dunst fast verschwand.
Marie wusste nicht warum, aber sie spürte, wie die grünen Augen ihren mageren Körper mit Brandmalen zeichneten.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ alles dröhnte. Maries Welt schwankte und fiel in die Arme Sams. Er hatte ihr eine Ohrfeige gegeben. „Deine Großeltern haben angerufen. Sie zahlen nicht mehr für dich. Du musst mir die Miete zahlen, sonst schmeiße ich dich raus.“ Er presste sie auf einen der freien Küchenstühle und drückte ihr eine Tasse Kaffee in die Hand.
Der Tee der Neuen dampfte immer noch unnatürlich stark. „Wie kannst du das Zeug trinken, dass kocht ja noch!“ ungläubig starrte Sam in die Tasse der Neuen. Die grünen Augen loderten auf und straften ihn mit einem brennenden Schmerz.
Er hatte keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, denn Marie kotzte ihm den Kaffee auf die Füße. „Ich lebe mit zwei Verrückten unter einem Dach!“ schrie er und nahm seine Jacke und den Schüssel vom Haken. In dem Moment torkelte der Bekannte aus dem Bad. Nackt, und fragte nach Wodka.
Sam schüttelte den Kopf und verließ Türen knallend die Wohnung. Die Neue musterte den Bekannten angewidert und zog sich zurück. Ihre Augenbrauen sahen so dämonisch aus, dass es Marie schauderte.
Sie holte ein Päckchen aus ihrer Jackentasche und teilte es sich mit dem Bekannten. Sie verlangte dafür von ihm mehr Geld, als das ganze Päckchen gekostet hatte.
„Ich geh pennen.“ Grummelte Marie und taumelte in ihr Zimmer. Die gelben Vorhänge waren zugezogen und tauchten den Raum in widerlich gedämpftes Licht. „Wie Kotze.“ Murmelte sie und ließ sich auf die schäbige Matratze fallen, die mit Brandlöchern von Zigaretten übersäht war.
Sie stellte noch ihren Wecker auf 20:00 Uhr, nahm eine Schlaftablette und schlief sofort ein.
„Marie!“ Sam rüttelte einen Stein wach. Die Kulleraugen sahen ihn wütend an. Doch noch mehr Zorn starrte zurück: „Dein Bekannter hat sämtliche Wertgegenstände mitgehen lassen! Es reicht, du ziehst aus. Jetzt sofort.“
Er schmiss ihre sieben Sachen in eine Tasche und presste ihn auf ihren Bauch. „Raus!“ donnerte er.
Sie torkelte, nur mit einem kurzen Höschen und einem Unterhemd gekleidet, aus der Wohnung. Beim Gehen sah sie, dass es schon um neun war. Sie hatte den Wecker nicht gehört.
„Steine können nicht hören.“ Flüsterte ihr die Neue ins Ohr. Verwirrt sah Marie sie an, dann fiel die Tür ins Schloss.
Auf dem Hausflur zog sie sich ein silbernes Glitzertop und eine enge goldene Hose an. Die Klamotten waren noch aus guten Zeiten, als die reichen Großeltern ein höfliches gescheites Mädchen gefördert haben, welches Theologie studierte.
„Wie die Zeit vergeht.“ Hustete Marie und fand in ihrer Tasche noch ein paar Pillen. Dann zog sie ihre roten Pumps an und stöckelte ins Holy Bible.
Es dauerte nicht lange und sie fand ihre Bekannten im Gedränge. „Da bist du ja.“ Begrüßte sie der Lange.
„Wegen dir wurde ich rausgeschmissen.“ Sie wollte ihn anschreien, doch ihre Stimme erlaubte es ihr nicht.
„Sorry, kannst mit bei mir schlafen. Ich hab’ was Neues gefunden. Hab’ ein Zimmer, ohne Geld.“
„Du hast Sams Wertsachen.“ Sie spülte ihre Stimme mit einem starken Drink runter.
„Schon verkauft, aber wenn du willst, kriegst du was ab.“
„Einverstanden.“ Er reichte ihr drei Pillen rüber. Auch die wurden mit einem Drink runter gespült.
„Tanzen?“ fragte eine Stimme hinter ihr. Marie stand auf und tanzte. Die kleinen Pillen wirkten und die Musik floss wie Giftwasser durch ihr Blut. Es pulsierte. Alles bebte. Es gab nur noch sie und die Musik. Es bebte. Bebte. Bebte. Donnergrollen in ihrem Kopf und niemals würde sie aufhören.
Donnergrollendes Erdbeben. Erdbeeren. Rot. Blut, mit Giftwasser gefüllt. Erzeugt ein Erdbeben. Erdbeben. Erdbeben und niemals aufhören, alles vergessen. Vergessen. Die Welt. Der Baum fällt.
Sie schlug die Augen auf und blickte einem Fremden ins Gesicht. „Ist es schon Tag? Ich muss gehen.“
Sie wollte sich aufrappeln doch der Fremde presste sie auf den Boden zurück.
„Okay, aber nur gegen Bezahlung.“ Grummelte sie und zog ihre Hose runter. Der Fremde zog sie wieder hoch. Licht schlug ihr wie eine Menschenhand mehrere Male ins Gesicht und als sie zu Besinnung kam, saß sie auf einem weißen Stuhl in einer weißen Halle. Alles blendete sie und der Fremde, ein älterer Mann mit grauem Bart saß ihr gegenüber. Mitten im Licht.
Marie fühlte sich plötzlich so sauber und rein. Ihr Kopf war klar, der Schleier geflohen.
„Wie geht es dir?“ raunte der Fremde.
„Mir ging es seit Monaten nicht mehr so gut.“ Antwortete sie und bemerkte, dass ein weißes Kleid an ihrem Leib klebte. „Bin ich tot oder ertrinke ich grade im Giftwasser?“
„Weder noch, aber fast.“ Antwortete ihr Gegenüber. „Wie geht es dir?“ fragte er noch einmal in demselben Tonfall.
„Verdammt, was soll das, ich sagte doch schon-“ plötzlich stach sie etwas dumpf in den Bauch. Sie keuchte. „Leer.“
„Ganz genau.“ Gab ihr der Fremde Recht.
„Wer zum Teufel bist du überhaupt und was soll der ganze Mist hier?“ schimpfte Marie. „Ich will wieder zurück und-“
„Willst du das wirklich?“ fragte der Fremde und stand auf. „Wer bist du?“
„Hey, ich hab zuerst gefragt!“ rief Marie. Das Gesicht des Fremden legte sich auf ihres. Verwirrt schüttelte sie sich. „Ich wisse es nicht.“ flüsterte sie.
„Du bist Marie, letzter Nachfahre der heiligen Familie.“ Sagte der Fremde.
„Welche heilige Familie? Wer bist du, verdammt?“ Marie wollte aufstehen, doch sie war viel zu schwer.
„Ich bin ein Engel.“ Antwortete der Fremde. Marie musste lachen. Dann weinte sie.
„Du bist der letzte Nachfahre der heiligen Familie. Es gibt nur eine heilige Familie. Du trägst das Blute Jesu in deinen Adern.“
„Und ne Menge andres Zeugs.“ Kommentierte Marie bei sich. Wieder traf sie ein Schlag ins Gesicht. „Spinnst du?“ kreischte sie entsetzt auf.
„Nein, du spinnst!“ antwortete der Fremde. „Halt nun den mund und hör mir zu: Du bist eine Schande. Du allein trägst den letzten Glauben in dir. Das letzte Licht dieser Welt. Eigentlich hatte man erwartet, dass du im Laufe deines Lebens selbst darauf stoßen würdest, doch nun sag ich es dir: Du bist eine Messias, die letzte deiner Art und es liegt an dir, die Linie nicht zu beenden. Du sollst den Menschen wieder Glauben schenken!“
„Was laberst du da eigentlich, ich weiß gar nicht, was du von mir willst.“ Murmelte Marie und der Schleier kehrte zurück.
„Du musst rechtzeitig zu dir finden, sonst bist du zu schwach, gegen das Böse anzutreten. Es ist dir schon begegnet. Aber du sollst es besiegen um endlich wieder das Licht in die Welt zu bringen, verstehst du mich?“
Dann schlug ein dunkler Blitz in das Licht. Schwarzer Rauch und rote Flammen, hungrig, knurrend, griffen nach ihr. Der Fremde hatte sich vor sie gestellt und schlug mit riesigen Flügeln.
„Mir kannst du keine Angst machen, Engel!“ rief da eine Stimme, die Marie schon irgendwo einmal gehört hatte. „Geh aus dem Weg, Flattervieh.“
Der Fremde drehte sich zu Marie um. „Komm zu dir, Marie. Benutze das Licht in dir, du darfst sie nicht gewinnen lassen.“
Dann trat er beiseite und inmitten des Qualms und des Feuers stand die Neue. Die Neue aus der WG, die kochenden Tee trank, die mit grünen Augen Löcher in magere Körper brannte und Gedanken von Steinen las. „So sieht man sich wieder, Marie.“ Sagte sie und Rauch stieg ihr aus dem Mund. Ihre Haare waren nicht vom Feuer zu unterscheiden. Ihr Körper war nur von dem dichten Rauch bedeckt. „Ich bin Sin, Ausgeburt der Hölle, Nachfahre Luzifers, Brut des Bösen, Tochter des Teufels.“
Ein Traum. Ein Traum, aufwachen, weiterleben. Endlich konnte Marie von ihrem Stuhl aufstehen. „Was wollt ihr eigentlich alle von mir?“ schrie sie in den leeren Raum, der immer mehr von Rauch gefüllt wurde, der ihr schwer auf den Lungen lag. Der Fremde war nicht zu sehen. Tränen rannen ihre Wangen hinab, ihr war schlecht.
„Wein nur, Marie.“ Sagte Sin. „Du bist mein Gegenstück und ich will dich sterben sehen.“ Marie rieb sich die Augen. Es konnte nur ein Traum sein. Sie hätte nicht so viel Trinken sollen. „Lass mich in Ruhe mit deinem dummen Geschwätz.“ Sagte sie zu Sin und versuchte fort zugehen.
Doch Sin war überall. „Ach komm schon.“ Brummte sie. „Lauf doch nicht weg, lass es uns vollenden.“
„Woran glaubst du, Marie?“ rief eine Stimme aus dem Nichts. Es war der Fremde, doch Marie konnte ihn nicht sehen. „Woran hast du all dein Leben geglaubt, was war dein Ziel, worin mündeten deine Hoffnungen? Woran glaubst du? Erinnere dich, Marie, erinnere dich!“
Wie ein gehetztes Tier sah Marie sich in den Flammen um. Es war so schrecklich heiß hier drin und der Rauch hinderte sie am atmen. Nun blendete sie kein reines Licht mehr, sondern das Feuer Sins.
Sie tanzte betörend lächelnd vor ihr. Ihr Gesicht verzerrte sich dämonisch hinter den Tränen Maries. „Lasst mich endlich in Ruhe.“
„Woran glaubst du, Marie?“
Sin tanzte und sang.
„Lass uns tanzen, lass uns spielen
Lass es uns direkt aufs Ende schielen
O, mein Herr, bald ist’s vollbracht
Das letzte weiße Licht erstickt in meinen Flammen Dann kein Aug mehr über die Menschheit wacht
Komm, Marie, lass uns den Glauben bannen!“
„Woran glaubst du, Marie?“
Alles drehte sie. Vorne, hinten, die Flammen und Rauch, schlechter Atem, laut. Der Bass. Nein, fremde Stimmen, tanzen. Singen. Sterben, aufwachen. Altes Leben. Wozu? Lauter, immer lauter. Aufhören!
„Nichts! Ich glaube an nichts! Nichts mehr, seit mich die Welt zu ihrem Sklaven machte mit ihren tausend Fallen, ihren verräterischen Freuden! Lasst mich endlich gehen, ich glaube nicht mehr.“
„Wir lassen dich gehen
Die Engel sterben
Nun habe ich genug gesehen
Brauch nicht mehr länger um dich werben
Das Licht erlosch
Mit deinem Wort
Befindet sich nicht mehr
An diesem Ort.“
Es war vorbei.

 

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