Der Goldfund
Heinrich Müller arbeitet im Büro. Irgendwo in einer kleinen Firma am Zusammenfluss von Rhein und Mosel. Jeden Tag. Von 8 Uhr bis 17 Uhr. Illusionslos, routiniert und gewissenhaft. Oft, wenn er sich mit wiederkehrenden, monotonen Vorgängen beschäftigt, schweifen seine Gedanken ab und er denkt er an sein kleines Paradies, das er sich wenige Kilometer rheinabwärts in einem ruhigen, scheinbar vergessenen Seitental des Rheins geschaffen hat. Sein ganz persönliches Refugium, ein Ort, an den Heinrich Müller sein Herz verloren, fast kann man sagen, mit dem er sein Schicksal verknüpft hat.
Wann immer er sein Reich betritt, beginnt die Verwandlung des Heinrich Müller von einem geknechteten Angestellten - so sieht er sich selbst – zu einem naturliebenden Menschen, der mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit seinem geliebten Hobby nachgeht: Er baut Gemüse an, zieht eigene Blumen, pflegt den Naturrasen, Beete und kümmert sich um Teich und Fische. Heinrich Müller liebt die traditionelle Arbeitsweise: Handarbeit - mühsam, schweißtreibend, aber naturnah. Von motorgetriebenen Hilfsmitteln will er nichts wissen. Strom liefern Sonnenkollektoren auf dem Dach des kleinen, bunten Gartenhäuschens, Wasser entnimmt er dem ruhig fließenden Bach, der sich in einer sanften Linie über sein Grundstück schlängelt.
Er ist gerade dabei, mit dem Spaten ein kleines Loch auszuheben, nahe der Stelle, an der sich die felsigen Seitenwände des engen Tales steil erheben und die Fruchtbarkeit der Fläche einem kargen Bewuchs der Felswände weicht, als er im steinigen Erdreich einen Gegenstand entdeckt, den er noch nie gesehen hat. Das Fundstück glänzt. Für einen kurzen Moment gerät Heinrich Müllers Herz aus dem Takt. Gold, ein „Nugget“, durchfährt es Heinrich Müller, der sich direkt an Westernfilme erinnert, die er gesehen hat und filmecht mit einem Biss auf das Fundstück die Weichheit des Materials prüft. Das ist Gold, ich bin reich! Verstohlen blickt er in alle Richtungen, hat mich jemand gesehen? denkt er. Nein! Mit bedächtiger Bewegung lässt er den kleinen Goldklumpen in seine Jackentasche gleiten und beschließt, für heute die Gartenarbeit ruhen zu lassen. Das muss ich meiner Frau zeigen, ich muss sofort nach Hause, denkt er.
Die Fahrt nach Hause dauert heute länger als sonst, so kommt es Heinrich Müller vor. Seine Gedanken drehen sich um den Goldklumpen in seiner Tasche. Wo ein Goldklumpen ist, da ist bestimmt eine Goldader, hier am Fuß des Berghangs vor Millionen von Jahren entstanden, heute von mir entdeckt. Nie wieder finanzielle Engpässe, ich kann mir alles leisten, wir sind reich, gemachte Leute, denkt er sich. Doch, so wie sich dunkle Wolken vor die Sonne schieben, so wird Heinrich Müller mehr und mehr von einem Gedanken geplagt, der ihn nicht mehr loslassen will: Was geschieht, wenn der Goldfund bekannt wird? Was geschieht mit meinem schönen Garten, was geschieht mit all meinen Pflanzen, meinen Blumen, meinem Gemüse, meinen Weinreben, dem Teich und den Goldfischen? Mein Naturparadies, das ich mir in jahrelanger Arbeit liebevoll geschaffen habe! In Gedanken sieht er Goldsucher, bewaffnet mit Hacke, Schaufel, Waschsieb und sonstigen Gerätschaften vor sich. Oder -schlimmer noch- professionelle Unternehmen, die im staatlichen Auftrag, nachdem er sein Grundstück zwangsweise für wenig Geld hätte abtreten müssen, mit schwerem Gerät, Baggern, Bohrhämmern und unter Einsatz von Sprengladungen an den Abbau der Goldader gehen.
Heinrich Müller bremst sein Auto ab, fährt an den Fahrbahnrand, Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Nein, das darf nicht sein! Ausgerechnet jetzt, wo er bald die Quitten pflücken und zu leckerem Gelee verarbeiten kann. Ausgerechnet jetzt, wo er bald die Feuerbohnen abernten wird, aus denen seine Frau Jahr für Jahr einen kräftigen Eintopf macht, den er das ganze Jahr über genießen wird. Ausgerechnet jetzt, wo die Weinreben eine üppige Ausbeute bei der Lese versprechen und Heinrich Müller sich bereits seit Wochen darauf freut, wie jedes Jahr ein paar Flaschen seines eigenen Weines Marke Heinrichs Goldreben - welch ein symbolischer Name! – herzustellen. Hat er nicht kürzlich von einem Goldfund gelesen, den ein Bauer irgendwo in Deutschland gemacht hatte? Musste der Bauer nicht zwangsweise sein Land für wenige Euros den Quadratmeter hergeben, damit eine Gesellschaft das Gold im staatlichen Auftrag, angeblich zum Gemeinwohl, abbauen konnte? Oder heißt es schürfen? Egal, denkt sich Heinrich Müller. So ähnlich war es. ICH lasse es nicht so weit kommen!
Als Heinrich Müller die Tür im dritten Stockwerk des Miethauses öffnet, bemerkt er einen vertrauten, lieb gewordenen Geruch, der die kleine Wohnung durchzieht.
„Ah, mein Schatz, da bist Du ja! Das Essen ist gleich fertig, setz´ Dich schon mal hin“ ruft ihm seine Frau aus der Küche zu. Ein paar Minuten später kommt sie ins Esszimmer, in der Hand einen großen, tiefen Teller, aus dem heißer Dampf nach oben zieht.
„Lass es Dir schmecken. Feuerbohneneintopf, so wie Du ihn magst: Heiß, sämig, gut gewürzt und mit Kräutern und Kartoffeln aus dem Garten angereichert. Ach wie gut, dass wir den Garten haben, findest Du nicht auch, Heinrich? Guten Appetit mein Schatz!“
Gedankenverloren löffelt Heinrich Müller den Feuerbohneneintopf in sich hinein. Er genießt den kräftigen Geschmack des Eintopfes. So macht ihn nur seine Frau, so gut schmecken nur die Feuerbohnen aus dem eigenen Garten, denkt er.
Heinrich Müller lächelt vor sich hin, denn er hat einen Entschluss gefasst. Jetzt weiß er, dass er richtig entscheiden wird: Nein, niemand wird in seinem Garten nach Gold buddeln. Nein, seine Idylle wird durch den Goldfund nicht zerstört werden, sie soll so bleiben wie sie ist.
Er tastet nach dem Goldklumpen in seiner Tasche. Für Notfälle ist er bestimmt gut zu gebrauchen, man kann nie wissen, aber jetzt habe ich dafür keine Zeit, denkt er.
Dann wendet er sich in Gedanken dem Wesentlichen und Wichtigen zu. Auf das, was als Nächstes ansteht; es gibt eine Menge zu tun, auf das er sich freut: Die Quitten müssen gepflückt und aus ihnen Gelee gemacht werden. Die Trauben nähern sich der Reife, müssen gelesen, verarbeitet werden, die Sonne verspricht einen guten Weinjahrgang. Die Feuerbohnen...