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Der Grad der Konfusion
„Klar nennen wir die Gedanken, die den gleichen Grad von Konfusion haben wie unsere eigenen.“ Es war Marcel Proust, der das festgestellt hat. Aber für mich stammt dieser Satz von Joanna, die ihn mir geschenkt hat. Mit einem dicken Stift hatte sie ihn in ihrer hastigen Jungenschrift auf ein Blatt Papier gekritzelt und mit einem Stein beschwert durch mein offenes Fenster geschleudert. Es war reines Glück, dass ich in dem Moment am Schreibtisch saß und so ihrem Wurf entging. Dafür erlegte sie eine lebensgroße Katze aus Porzellan, ein Geschenk meiner Großmutter. Als ich das Joanna später erzählte, warf sie nur ihren Kopf zurück und lachte.
„Wunderbar. Ich hab so gehofft, dass ich sie treffe!“
Ich glaube, das ist es, was mir mehr als alles andere fehlt. Ihr Lachen, heiser und stets eine Spur zu laut.
Wir trafen uns im Krankenhaus, um genau zu sein auf der Jugendstation der Psychiatrie.
Zwei Wochen zuvor hatte ich einem Jungen meiner Klasse mit einem Faustschlag die Nase gebrochen und ihn anschließend mehrmals kräftig in die Rippen getreten. Ich war sechzehn und meine Jugend versprach ein Misserfolg auf der ganzen Linie zu werden. Die meiste Zeit verbrachte ich auf meinem Bett mit der Lektüre von Science Fiction Romanen oder kritzelte eigene Geschichten in ein zerfleddertes Notizbuch. Mein Zimmer war schwarzgestrichen und ich verließ es nur, um in die Schule zu gehen. Unauffällig und schüchtern wie ich war kam mein plötzlicher Ausbruch an physischer Energie für alle recht überraschend. Tatsächlich war ich ebenfalls erstaunt und weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte, entschied ich mich dafür zu schweigen.
Sechzehn Tage lang sprach ich kein einziges Wort. Dann entschieden meine Eltern, dass es an der Zeit war, mich einem Psychiater vorzustellen.
Joanna war vor mir angekommen, nachdem sie ihren Unterarm mit dem Rasiermesser ihres Vaters bearbeitet hatte. Ihrem Bruder war es gelungen, die Badezimmertür aufzubrechen bevor sie die Arterie treffen konnte.
Als ich sie kennen lernte, saß sie am Fenster des Aufenthaltsaumes und rauchte. Sie war ebenso gebräunt und hübsch wie die Mädchen aus der Schule, die ich hasste. Aber ihre Jeans hatte einen Riss am Knie und darüber trug sie ein unförmiges schwarzes Männerhemd. Das gefiel mir und ich stellte mich neben sie und wartete. Abschätzend hob sie eine Augenbraue.
„Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ Die Frage kam für mich nicht überraschend. Meine Haare waren streichholzkurz, mein Gesicht kindlich und zu allem Unglück war ich auch noch zu dünn.
„Ich heiße Marie.“ Die Frage war damit beantwortet, aber da sie mich weiter ansah, fügte ich hinzu: „Ich bin sechzehn.“
„Du siehst jünger aus.“ Ich nickte. Das wusste ich bereits.
„Wie alt bist du?“
„In fünf Tagen werde ich siebzehn.“ Sie kniff die Augen gegen den Rauch zusammen und bot mir ihre Zigarette an. „Du kannst zu meiner Party kommen, wenn du nichts Besseres vor hast.“
Ich verschluckte mich und hustete. Dann berührte ich vorsichtig den Verband an ihrem
rechten Arm.
„Hat das nicht weh getan?“
„Doch, sehr.“ Sie grinste schräg. „So schnell mach ich das bestimmt nicht wieder.“
Wir sahen eine Weile schweigend nach draußen.
„Warum bist du hier?“
Ich erzählte es ihr und hörte zum ersten Mal ihr Lachen.
„Das ist wirklich gut.“ Ohne ihre Stimme zu dämpfen deutete sie mit ihrem verletzten Arm auf die Mädchen, die vor dem Fernseher auf dem deprimierend braunen Sofa saßen und sich das Kinderprogramm ansahen.
„Auf jeden Fall einfallsreicher als die dort.“ Joanna verdrehte verächtlich die Augen.
„Hey Tina. Findest du nicht, dass dein Hintern dicker aussieht als gestern?“ Ein Mädchen, dem das Ende einer Magensonde aus der Nase sah, sprang auf und rannte schluchzend nach draußen. Die Krankenschwester schüttelte mit sanftem Tadel den Kopf.
„Das war aber nicht sehr nett.“
Joanna dagegen sah mich an und lächelte.
Ich lächelte zurück.
Wir wurden Verbündete. Eine lenkte die Aufsicht ab, während die andere von der Station schlich und an den Automaten im Erdgeschoss Schokolade und Zigaretten kaufte. Anfangs hörte ich Joanna nur zu. Sie hasste die Schule, ihre Eltern, überhaupt ihre gesamte Umwelt und betrachtete alles mit einem bitteren Sarkasmus. Ich verstand nicht warum. Joanna war hübsch, extrovertiert und eloquent. Aber auf ihre Art war sie genauso einsam und unglücklich wie ich selbst.
Ich las ihr eine meiner Geschichten vor, während wir auf ihrem Bett lagen und sie meine Nägel schwarz lackierte. Als ich zu sprechen aufhörte, musterte mich Joanna prüfend.
„Du bist anders, weißt du das?“ Ich lachte trocken.
„Sag bloß. Hast du vergessen, wo wir hier sind?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Das meine ich nicht. Du bist etwas Besonderes.“ Joanna sah mir ernst in die Augen.
„Du bist meine Freundin.“
Ich war sehr erstaunt, weil so etwas vor ihr noch niemand gesagt hatte. Wir schwiegen eine Weile. Dass Joanna mich zu ihrer Freundin erhoben hatte, gab mir den Mut eine Frage zu stellen, die mich schon länger beschäftigte.
„Wolltest du dich wirklich umbringen?“
Etwas in ihrem Gesicht veränderte sich und sie starrte an mir vorbei an die Wand.
„Vielleicht. Aber ich hatte es mir einfacher vorgestellt.“
Ich betrachtete ihren Arm, der immer noch dick verbunden war.
„Aber warum?“
„Ausgezeichnete Frage. Wieso hast du diesen Jungen geschlagen?“
Ich überlegte einen Moment lang und kicherte schließlich.
„Das hatte eine Menge Gründe.“
Sie nickte.
„Eben.“
Joanna spielte mit ihren Haaren.
„Aber wirklich etwas genützt hat es doch weder dir noch mir. Also war es wohl der falsche Weg.“ Unwillig schüttelte sie den Kopf. „Und jetzt lass uns irgendwas unternehmen. Mir ist langweilig.“
Bald danach wurde ich entlassen. Die Ärzte erklärten meinen Eltern, dass mehr Kontakt zu Gleichaltrigen gut für meine weitere Entwicklung wäre und diese meldeten mich auf einem Internat an. Mir war es egal. Joanna und ich schrieben uns endlose Briefe. Kam ich an den Wochenenden nach Hause, waren wir unzertrennlich. Sie übernachtete bei mir und wir schliefen gemeinsam in meinem alten Bett. Die schwarze Decke über uns beklebte Joanna mit Sternen, die im Dunkeln leuchteten. Sie brachte mir das Küssen bei und erzählte mir von den Jungen, an denen sie ihre Fähigkeiten ausbaute.
Kein einziges Mal gingen wir zu ihr nach Hause. Als ich sie nach ihren Eltern fragte, zuckte sie die Schultern.
„Die sind beschäftigt. Er mit Geld verdienen und sie damit, möglichst viel davon auszugeben. Ein Wunder, dass sie dazwischen noch Zeit für meine Erzeugung gefunden haben.“
„Und dein Bruder?“
„Ist ihr Sohn.“
Ich bewunderte Joanna und ihre Verachtung für scheinbar alles und jeden außer mir machte mich stolz. Im Internat las ich die Bücher, die Joanna mir zu Lesen gab. Sie schwärmte für Sartre, mit dem ich bis heute nicht viel anfangen kann. Aber Camus gefiel mir, ich mochte sein intelligentes Gesicht. Joanna riss für mich die Seite mit seinem Photo aus einem der Bibliotheksbücher. Es hängt immer noch an meiner Wand.
Mit der Zeit betrachtete ich meine Umwelt mit einem Sarkasmus, den ich von Joanna übernahm und der mir eine neue Selbstsicherheit verlieh. Außer ihr hatte ich keine Freunde, aber ich war nicht länger unsichtbar. Und sie genügte mir völlig.
Die zwei Jahre bis zum Abitur und damit dem, was wir für Freiheit hielten ließen sich gemeinsam überstehen.
Als es endlich soweit war, hatten wir sehr klare Vorstellungen von unserem neuen Leben als Erwachsene. Wir schrieben uns an der Universität für Philosophie und Soziologie ein. Offiziell hatte ich ein winziges Zimmer in einem Studentenwohnheim. Aber die meiste Zeit wohnte ich zusammen mit Joanna in der schicken Wohnung, die ihre Eltern für sie gemietet hatten. Nur an den Abenden, an denen wir ausgingen und sie irgendeinen Mann aus der Discotheke mit nach Hause nahm, schlief ich in meinem eigenen Bett. Allein.
Sie war immer hübsch gewesen, aber mittlerweile war sie das, was die Leute eine echte Schönheit nennen und wusste es. Ich war nicht eifersüchtig, aber Joannas Verhalten gab mir Rätsel auf. Ich sah ihr beim Spielen zu, ohne zu verstehen, worin der Reiz darin für sie verborgen lag. Schließlich fragte ich sie danach.
„Macht es Spaß?“
„Was?“ Joanna lag auf meinem Bett und zeichnete den Baum vor dem Fenster.
„Sex.“ Sie betrachtete einen Moment lang das Papier in ihren Händen und legte dann den Stift zur Seite.
„Meistens. Aber den größten Spaß macht es, zu wissen, dass jemand mit dir schlafen will.“ Joanna rauchte eine Zigarette, während ich über ihre Antwort nachdachte. Es war still im Zimmer.
„Was ist mit Liebe?“
Sie begann zu lachen, als wäre das eine unglaublich komische Frage.
„Was soll damit sein? Ein völlig überschätztes Gefühl. Liebe ist Quatsch. Nichts als eine Einrichtung der Natur, damit die Erzeugerfraktion lange genug zusammenbleibt um die Brut groß zu ziehen.“ Jetzt lachte auch ich.
„Das glaubst du doch nicht ernsthaft, oder?“ Sie drückte ihre Zigarette aus.
„Vielleicht nicht. Aber das ändert nichts daran, dass ich mich nicht verlieben werde. Niemals.“ Sie sah mich an. „Ich habe doch dich. Und du hast mich. Wir sind füreinander da. Wir brauchen keinen Dritten. Das würde alles ändern.“
Joanna hielt mir ihre Zeichnung entgegen.
„Irgendwie sieht er anders aus als das Original, findest du nicht?“ Draußen war Frühling, aber Joannas Baum hatte keine Blätter.
„Du bist so unromantisch.“
Ich lehnte an der Bar und sah Joanna beim Tanzen zu. Plötzlich stand Lukas neben mir. Etwas an ihm war anders. Eine Weile sah er mich einfach nur an. Mir gefielen seine Hände und das Grübchen in seinem Kinn. Schließlich beugte er sich zu mir.
„Lass uns nach draußen gehen. Hier ist es zu laut um sich zu unterhalten.“ Ich nickte und winkte Joanna, die eben von der Tanzfläche zurückkam. Die warf Lukas einen überraschten Blick zu.
Wir setzen uns mit unseren Bierflaschen auf eine Mauer vor der Discotheke und redeten. Lukas versuchte nicht, mich zu küssen, aber irgendwann nahm er meine Hand und ließ sie nicht mehr los. Als es hell wurde begleitete er mich bis nach Hause. Im Gehen musterte ich ihn von der Seite und spürte etwas Neues.
Joanna wartete in meinem Zimmer auf mich. Sie warf ihre Zigarette fort und sprang vom Fensterbrett. Prüfend sah sie mich an.
„Wie war es?“
Ich lächelte sie an und ließ mich auf Bett fallen.
„Wunderschön.“
„Wirst du dich in ihn verlieben?“
Ich schloss die Augen.
„Kann schon sein.“
Joanna schwieg und ich merkte erst, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, dass sie gegangen war.
„Du bist so unglaublich schön.“ Nackt lag ich auf Lukas` Bett und spürte mit geschlossenen Augen wie er vorsichtig mit der Hand die Formen meines Körpers nachzeichnete.
„Red nicht so einen Unsinn, sonst gehe ich nach Hause.“ Lukas küsste mich.
„Nein, das wirst du schön bleiben lassen. Und überhaupt: Wenn du nicht schön bist, wer dann?“
„Joanna.“ Meine Antwort erforderte kein Nachdenken, aber Lukas Reaktion überraschte mich.
„Deine komische Freundin, die mich immer anschaut wie ein Huhn, dem man seine Eier klaut? Bestimmt nicht. Attraktiv, ja vielleicht...“
„Komm schon, gib es doch zu. Ich bin nicht eifersüchtig.“
„Das hast du auch nicht nötig. Du bist so viel schöner als diese Eiskönigin. Hübsch zum Ansehen ist sie sicherlich, aber mehr auch nicht. Von ihr bekommt man höchstens Frostbeulen.“ Ich richtete mich auf.
„Joanna ist meine beste Freundin.“
„Das weiß ich. Ihr zwei seid ja wie ein Ehepaar. Auch wenn ich nicht verstehe, was du an ihr findest.“ Er zog mich an sich. „Ich hab doch auch nichts gegen sie. Allerdings finde ich wirklich, dass du es nicht nötig hast, sie so anzuhimmeln.“
Er wickelte sich eine meiner dunklen Strähnen um den Finger. „Dieses ständige Schwarz, überhaupt diese ganze arrogante Philosophenart. Das bist nicht du.“
Lukas begann mich wieder zu küssen und murmelte an meinem Hals. „Du bist so weich.“
„Vielleicht ist es ja deswegen ein guter Schutz.“ Er lächelte.
„Den brauchst du doch nicht mehr.“
Joanna kam in mein Zimmer und legte einen Stapel Papier auf meinen Schreibtisch.
“Die Bewerbungsunterlagen für Frankreich“. Ich sah von meinem Buch auf.
„Was?“ Sie runzelte die Stirn und hielt mir einen Stift entgegen.
„Bis morgen muss das im Briefkasten sein. Ich hab irgendwie gespürt, dass du nicht mehr daran denkst, also hab ich sie für dich ausgefüllt. Du musst nur noch unterschreiben.“
„Joanna...“
Ich hatte Angst vor dem, was nun kommen musste.
„Lukas und ich, wir haben uns überlegt, dass...“
Ihr Gesichtsausdruck ließ mich verstummen. Ihre Stimme blieb ruhig, nur ihre Augen funkelten kalt.
„Lass mich raten. Lukas hat dir erklärt, dass er auf keinen Fall auf dich warten kann während du etwas für deine Zukunft tust und deswegen hast du natürlich deine Meinung geändert.“
„So einfach ist das nicht.“ Spöttisch hob sich ihre rechte Augenbraue und ich wurde wütend.
„Du willst das nicht verstehen. Ich bin deine Freundin, aber ich liebe Lukas. Das zwischen uns ist etwas Ernstes. Du kannst nicht meine Entscheidungen für mich treffen.“
Sie lachte trocken.
„Nein, weil Lukas das ja jetzt für dich tut.“
„Das ist nicht wahr. Du kannst es einfach nicht ertragen, dass ich jetzt mein eigenes Leben habe. Nur weil du dich nicht verlieben willst, darf ich es auch nicht tun.“
Mein schlechtes Gewissen machte mich wütend. Zusammen ein Jahr in Frankreich zu studieren war ein Plan, den wir gemeinsam entwickelt hatten. Aber das war vor Lukas und Joanna konnte nicht verstehen, was er für mich bedeutete.
„Wenn du das jetzt tust, dann bist du genau wie alle anderen.“
„Sei doch nicht so melodramatisch! Für dich ist immer alles ganz einfach. Du hältst dich für klüger als den Rest der Welt und machst dich über alles lustig. Du kannst dir das leisten, weil dich trotzdem jeder interessant und wunderbar findet. Aber ich bin nicht so wie du! Hast du darüber schon einmal nachgedacht? Für dich ist es normal, dass du jeden Jungen haben kannst, den du willst. Aber Lukas ist der erste, der mich schön und interessant findet. Und ich will mit ihm zusammen sein, ob dir das nun passt oder nicht.“
Mittlerweile standen wir nur eine Handbreit voneinander entfernt und starrten uns wütend an. Plötzlich lächelte Joanna, beugte sich ein wenig vor und küsste mich. Ihr Atem schmeckte nach Erdbeerkaugummi und Zigaretten. Es war ein seltsames Gefühl von einem Mädchen, von Joanna, so geküsst zu werden und ich war nicht sicher, ob es mir gefiel. Bevor ich zu einer Entscheidung kommen konnte klingelte mein Telefon.
„Das ist Lukas,“ stellte Joanna fest.
Ich nickte.
„Geh nicht ran.“ In ihrem Tonfall lag nichts von einer Bitte. Ich sah sie an und dachte an Lukas und seine warmen Augen. Als ich nach dem Hörer griff, drehte sie sich um und ging zur Tür.
In den nächsten Tagen hörten wir nichts voneinander. Schließlich entschied ich mich, sie anzurufen, aber Joanna ging nicht ans Telefon. Sie fehlte mir, aber schließlich hatte ich Lukas. Als im Herbst die Vorlesungen wieder anfingen, hielt ich nach ihr Ausschau, aber sie war nicht da.
An einem Tag im November traf ich ihren Bruder in der Bibliothek. Er erkannte mich nicht wieder und als mich ihm vorstellte und ihn nach Joanna fragte schien er überrascht.
„Ich wusste gar nicht, dass sie hier eine Freundin hatte.“
Er erzählte mir, Joanna sei in Australien. Zumindest hätten seine Eltern von dort vor kurzem eine Ansichtskarte erhalten. Als wir nach draußen traten begann es zu regnen. Die feuchte Kälte drang durch meine Kleider und ich fröstelte. Entschuldigend lächelte er mich an. „Wunder dich nicht, dass sie sich nicht verabschiedet hat. Meine Schwester war schon immer ein bisschen seltsam.“
Kurz darauf sollte Lukas mich mit einem sehr ähnlichen Blick ansehen, als er mir erklärte, unsere Beziehung überfordere ihn in letzter Zeit.
„Ich weiß einfach nie, was du denkst. Du bist manchmal so...seltsam.“
Ich fing an zu weinen und er nahm mich in den Arm. Seine Freundlichkeit machte es mir unmöglich ihm böse zu sein, aber davon ging es mir nicht besser. Zwei Wochen lang verließ ich mein Bett nur, um Zigaretten holen zu gehen oder eine Pizza in den Ofen zu schieben. Ich sah den ganzen Tag fern und brach bei jeder Liebesszene in Tränen aus.
Dann sah ich Lukas in der Stadt mit einem Mädchen, das mit mir zur Schule gegangen war. Sie hieß Christine, war blond und studierte Grundschulpädagogik.
An diesem Tag beschloss ich, dass die Zeit reif für einige Veränderungen war.
In Filmen und Büchern verlieren sich Freunde und Geliebte oft für immer aus den Augen. Aber das sind nur Geschichten und die Realität ist weniger romantisch.
Mehr als zwei Jahre später traf ich Joanna wieder. Ich kam gerade aus dem Kino und setzte mich auf eine Bank. Meine Gedanken waren noch mit dem Film beschäftigt und ich beobachtete die Menschen, die an mir vorbeigingen. Eine auffallend hübsche junge Frau kam mit zielstrebig klackernden Absätzen auf mich zu und blieb vor mir stehen.
„Marie.“
Sie hatte mich sofort erkannt. Joanna war älter geworden. Ihre dunklen Haare waren kurz geschnitten und sie trug einen schicken roten Mantel.
„Es ist wirklich sehr lange her.“ Wir gingen einen Kaffee trinken, musterten uns gegenseitig über den Tisch hinweg.
„Du siehst völlig anders aus. Das Blond steht dir gut.“ Joanna zündete sich eine Zigarette an, hielt mir die Schachtel entgegen.
„Danke, ich hab aufgehört.“ Sie inhalierte genüsslich und fuhr sich mit einer Geste, die zu attraktiv war, um natürlich zu wirken durch das Haar.
„Das sollte ich bestimmt auch tun. Aber ich will nicht.“
Sie lehnte sich zurück und begann zu erzählen. Es machte Spaß ihr zuzuhören. Joanna studierte in Paris und war nur zu einem kurzen Besuch nach Hause gekommen. Anscheinend hatte sie sich mit ihren Eltern ausgesöhnt, was mich nicht überraschte. Ihre Ausstrahlung erinnerte an die erfolgreiche Lady aus der Kaffeewerbung.
„Wie geht es dir?“
Wie zu erwarten war mein Bericht weniger interessant. Ich erzählte ihr von meinem Studium und meinem Nebenjob bei der Stadtzeitung. Vor kurzem hatte ich es geschafft, eine meiner Geschichten bei einer Zeitschrift unterzubringen.
Schließlich schwiegen wir beide. Ich spielte mit meinem Kaffeelöffel und dachte an die Bücher, die zu Hause auf mich warteten.
„Denkst du noch manchmal an uns?“
Ihre Frage überraschte mich. Die attraktive Frau mir gegenüber schien nicht mehr viel mit meiner früheren Freundin gemeinsam zu haben.
„Du warst die beste Freundin, die ich jemals hatte.“ Sie lächelte. „Allerdings warst du auch die einzige. Ziemlich kitschig, wenn man so darüber nachdenkt.“ Sie drückte ihre Zigarette aus. „Du könntest eine Geschichte darüber schreiben. Ich würde sie gerne lesen.“
Wir verabschiedeten uns vor dem Café. Joanna musste in eine andere Richtung und ich sah ihr nach, wie sie in der Menge untertauchte. Dann drehte ich mich um und ging nach Hause an meinen Schreibtisch.
Bevor ich an diesem Abend schlafen ging betrachtete ich das Photo von Camus über meinem Bett und dachte an Joanna. Vielleicht würden wir uns noch einmal wiedersehen und wieder einen Kaffee trinken. Aber die beiden seltsamen verwirrten Mädchen unserer Vergangenheit waren erwachsen geworden.
Vielleicht waren wir beide immer noch verwirrt. Aber der Grad unserer Konfusion war nicht mehr der gleiche.