Der Hase, das Drecksvieh
"... hängen runter."
"Und?"
"Nichts und."
"Das wars? Das war der Witz?"
"Ja. Gut, oder?"
"Spitzenwitz. Echt."
"Naja, man muss vermutlich dabei gewesen sein."
"Nein. Nein, ich glaube nicht."
"Was machen wir jetzt? Ich sehe was, was du nicht siehst?"
Vor uns eine Felswand. Hinter uns Luft. Neben uns auch. Über uns Himmel. Unter uns nichts. Ich sage Pete, dass ich das für eine Scheißidee halte und er stimmt mir zu. Meine Arme brennen, mein Mund ist furchtbar trocken und ich könnte ein ganzes Schwimmbad austrinken. Mein Hemd ist durchgeschwitzt, der Felsen scheuert mir die Knie auf und für ne Bockwurst würde ich töten. Für Senf gerne auch Doppelmord.
"Wir könnten auch Fangen spielen", sage ich um ihn zu ärgern. "Du fängst an."
"Ist ja gut. War ne doofe Idee, sorry. Sag mal, glaubst du, da kommt noch wer?"
"Um uns zu retten oder um uns vom Boden zu kratzen?"
"Du hast einen komischen Humor."
"Ja, hast Recht. Tut mir Leid." Ich wage einen weiteren kritischen Blick nach unten. "Wer weiß, ob es da überhaupt einen Boden gibt."
"Du?"
"Ja?"
"Ich hasse dich."
Wenn ich zurückdenke, dann trägt an dieser ganzen Sache nur dieser dämliche Hase Schuld. Ich meine, ohne den wäre das alles gar nicht so weit gekommen. Vermutlich hätte es gar nicht erst begonnen.
Ich war auf dem Weg von Gütersloh nach Augsburg, Hundertvierzig auf dem Tacho, eine Hand am Lenkrad, die andere an der Coladose, den Fuß fest auf das Gaspedal gepresst, die Ohren irgendwo zwischen Devin Townsendscher Vokalgonorrhöe und dem Lärm der wackelnden Ventilklappen meines alten Corsa. Meine Nase wurde umschmeichelt vom lieblichen Aroma baumärktlicher Duftbaumzitrone, vermischt mit den Ausdünstungen des Gülletransporters neben mir, und mein inneres Auge wurde von räkelnden Visionen dieser gottgleichen Schönheit verwöhnt, die ich in Augsburg treffen und mich dann mit ihr um die Wette räkeln wollte.
Naja, und dann lief dieser Hase über die Autobahn. Ich verriss vor Schreck das Lenkrad, krachte seitlich in den Güllewagen, der sein sympathisches Innenleben über die Straße und meine Motorhaube ergoss, wurde auf die andere Seite geschleudert und kam von der Straße ab. Wie man das halt so macht.
"Kann ich dich mal was fragen?"
"Klar. Frag."
"Warum hast du mich mitgenommen?"
"Ich steh auf Männer, die sich um die Tiere sorgen. Du hättest den Hasen ja auch einfach überfahren können."
"Ja." Ich verschwieg der rassigen Blondine auf dem Fahrersitz, dass ich das eigentlich nur getan hatte, um den Bussarden was Gutes zu tun und starrte stattdessen noch ein wenig mit erstaunlich viel Speichel im Mund auf ihre Beine, mit denen sie ziemlich routiniert die Pedale bearbeitete.
"Hey, glotzt du mir auf die Beine?"
"Nee, ich frage mich nur, welche Farbe wohl das Bodenblech hat."
"Grau. Jetzt lass das und guck mir lieber auf die Titten. Das irritiert mich sonst."
"Ja... ja, okay. Kann ich... kann ich machen", stammelte ich und starrte ihr auf die Titten, was mir nicht weiter schwer viel, da diese zum Einen aufgrund ihrer Größe sehr leicht zu finden waren und zum Zweiten meine Konzentration nicht durch unnötigen Stoff abgelenkt wurde.
"Sag mal, magst du Französisch?", fragt sie und ihre Stimme vergoldete meine Gehörgänge. "Ich frag nur, weil wir ja gleich anhalten werden, um hemmungslos zu..."
"... Vogel auf die Scheibe geschissen. Aber kann ich dich mal was fragen?" Die Stimme des bärigen Truckers umschmeichelte meine Sinne, brüllte mir diskret ins Stammhirn und riss mich mit einer Penetranz aus meinem Tagtraum, als würde Lemmy Kilmister mir persönlich ein Pik As ins Ohr rammen.
"Ja. Frag."
"Warum hast du da an dem Baum geparkt?"
"Ich musste mal austreten und die nächste Raststätte war zu weit weg."
"Verstehe. Willst du den Wagen nicht abschleppen lassen?"
"Ach, den klaut schon keiner. Wo fährst du eigentlich hin?"
"Italien. Sag mal, kannst du gut mit Bullen?"
"Wieso?"
"Rückspiegel." Ich tat, was er mir sagte, oder von dem ich dachte, dass er es mir gesagt hatte und warf einen Blick in den Rückspiegel. Blaulicht. Also entweder die Feuerwehr, die unseren brennenden Truck löschen wollte oder die Polizei. Da der Truck nicht brannte, schränkte das die Optionen natürlich empfindlich ein.
"Wollen die zu dir?"
"Denk schon."
"Warum?"
"Naja, erstmal: der Laster gehört mir nicht. Dann hab ich etwa vierhundert geklaute DVD-Player da hinten drin. Und den Fahrer. Und den Kopf des Fahrers. Und zehn Kilo Kokain. Oh, und eine Raubkopie des Simpson-Films. Dänisch mit polnischen Untertiteln."
"Sag mal, könntest du mich an der nächsten Raststätte rauslassen?"
Überraschenderweise ließ er mich tatsächlich an der nächsten Raststätte raus.
Meine nächste Fahrgelegenheit bestand in einem VW-Bus voller Althippies, was mir in Sachen Drogen, Frieden, Batik, Erdbeertee, Bob Dylan und Jesuslatschen ganz neue Dimensionen aufzeigte. Okay, Jesuslatschen fand ich schon immer scheiße, aber mein Hass gegenüber dylanscher Protestlyrik gepaart mit dem neckischen Duft selbst gepresster und in Erdbeertee aufgelöster Hanftabletten, wiederum vermischt mit dem Geruch des mit Eigenurin handgebatikten T-Shirts des Fahrers, erreichte neue Dimensionen.
Als dann eine der anwesenden Damen ihr als Sack getarntes Hemd auszog, um den Neuankömmling - mich - in einer freudigen Zeremonie der Zusammenkunft in ihrer Mitte willkommen zu heißen, stieg ich aus, bevor ich noch Gefahr lief, auch den Frieden hassen zu lernen. Also, nichts gegen Zusammenkünfte, aber da diese Zeremonie mit an tödlicher Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die körperliche Liebe mir einschloss und besagte Dame bereits den Reifegrad einer mittelschweren kalifornischen Dörrpflaume dezent überschritten hatte, wollte ich mir das doch lieber aus sicherer Entfernung ansehen. Oder am besten gar nicht.
Eine Weile wanderte ich entlang der Landstraße, den Daumen erhoben, den Blick starr nach vorne gerichtet. Bis ich irgendwann von einer studentischen Reisegruppe aus dem Ruhrpott aufgegriffen wurde. Im Bus sitzend erörterte ich mit ein paar angehenden Pädagogen die Vorteile antiautoritärer Erziehung in Verbindung mit der derzeit vorherrschenden Wegsehmentalität gegenüber einer ordentlichen Tracht Prügel und führte siebzehn Gründe an, aus denen Harry Potter der coolste Zauberer des Universums wäre, der mehr Zaubrigkeit in seiner Blitznarbe hätte als Gandalf in seiner ganzen Trilogie. Dann erklärte ich der ungläubigen Masse, dass das gesamte Star Trek - Universum in etwa so viel Originalität besäße, wie eine durchschnittliche Episode von Doctor Who und suchte schleunigst das Weite.
Naja, über drei weitere Zwischenstationen - ein Ehepaar nebst quengelnden Kindes auf dem Weg zum Europapark, eine erstaunlich unsympathische Stripperin mit mehr Plastik im Körper als ein Legomännchen und eine Kaffeefahrt auf dem Weg ins schöne Allgäu, wo die Rheumadecken noch per Hand aus alten Rinderdärmen gegerbt werden - landete ich schließlich hier. Etwa zwei Stunden später gesellte sich dann Pete dazu. Ja, das wars.
Vor uns eine Felswand. Hinter uns Luft. Neben uns auch. Über uns Himmel. Unter uns nichts. Langsam werden mir die Arme schwer. So lange am Stück hatte ich noch nie irgendwo rumgehangen. Noch nicht mal, als ich damals stundenlang mit meiner Gitarre vor Claudis Wohnung auf der Straße gestanden und mich vergeblich an den Text von Love me Tender zu erinnern versucht hatte.
"Du", beginnt Pete und der Unterton in seiner Stimme gefällt mir gar nicht. "Wie bist du eigentlich hierher gekommen?"
"Ist ne furchtbar lange Geschichte."
"Lass mich raten. Ein Hase?"
"Ja. Ja, ein Hase. Und wie bist du hier gelandet?"
"Ja, auch. Auch der Hase."
"Drecksvieh!"