Was ist neu

Der Hass wird alt

Mitglied
Beitritt
12.04.2007
Beiträge
7

Der Hass wird alt

Der Hass wird alt

20 Ways To See The World- 20 Ways To Start A Fight
The Strokes

Es war die erste Diagnose und gleichzeitig die Schlimmste: Es war der Verlust von allem, was bei mir damals die familiäre Situation ausmachte. Ein gnadenloser Verzicht auf die Freude des Tages, auch wenn ich vortäuschte, ich hätte es gehasst. Wie konnte er mir das antun? Seitdem ich mich erinnern kann, war das etwas, was mir Freude bereitete. Was ich toll fand. Er hatte immer Zeit, ich kann mich noch daran erinnern. Und jetzt, alles zerstört! Die erste Diagnose prophezeite mir einen unglaublichen Verlust, für alle anderen war das äußerst nebensächlich, doch ich dachte, es sei das Schlimmste, was es gibt. Und vielleicht war es das auch…, damals.

Ich war höchstens sieben, ich glaube, ich war fünf. Oder sechs! Auf jeden Fall hatte ich damals das, was ich heute immer noch habe: Chronische Heiserkeit, Stimmbandknoten. Ich fand das Wort immer so witzig! Stimmbandknoten, ich wusste nicht, dass es nichts anderes als „gereizte Stimmbänder“ heißt. Eine Standarduntersuchung musste ich durchziehen. Über mir ergehen lassen. Und die immer wiederkehrende und eigentlich immer idente (außer, vielleicht hat man das Beispiel gewechselt. Wenn er sagt, schrei nicht rum, dann schrei ich nicht rum. Ich brülle dann und fühl mich im Recht. Ein Brüller…) Aussage des Arztes:
- Belaste deine Stimmbänder nicht.
Brüll nicht, schrei nicht. Fügen Sie Ihr Lieblingsbeispiel ein. Eigentlich immer. Aber diesmal nicht. Diesmal sagte er
- Tob nicht mehr.
Und meine Mutter konterte:
- Das macht er gern.
Meine Mutter hatte Recht, sie war klug. Ich machte es gerne. Es war ein Ritual am Tag, mit meinem Bruder zu kebbeln, kitzeln, toben halt. Wir toben, sagten wir.
Und das durften wir nicht mehr. Es war ein großes Stück. Ich ging traurig nach Hause. Mein Bruder saß in seinem hell erleuchteten Zimmer. Er lächelte.
- Wir dürfen nicht mehr toben.
Meine Mutter folgte mir und lachte über diese kindliche Betroffenheit. Mein Bruder auch.
Nur eine Reihe von Aneinanderreihungen, die einen erkennen lassen: Der Bruder wird alt, er wird vernünftig. Er ist jetzt einer von den Großen. Es gab keine offensichtlichen Ansätze, die mich dazu brachten, diesen kritischen Gedankengang niederzuschreiben, aber es gibt, sagen wir es so, verhärtende Ansätze.
Hat mich die neue Schule verändert? In der Psyche?
- Ja, sage ich zu mir selbst und bereue es danach.
- Ja.
So ein kurzes Wort- ja. Ich bereue es nach einer Sekunde, denn ich wollte schwülstige Ausreden. Schwülstige Ausreden und keine harten Wahrheiten. Ich höre mich wispern,
- dass es alles okay ist
und
- Ich muss nichts machen, ist doch alles okee. Kartoffelpüree.
Doch in diesem Moment der Lethargie, der völligen inneren Askese sah ich die Wahrheit der Stunde. Mich verändert die Schule
(was auf Dauer normal ist),
doch meinen Bruder verändert sie nur noch mehr. Mit Schrecken blicke ich auf die Gestalt, sie ist anders. Keine Frage. Wie anders ist sie?
Die Frage wird schneller und mit einer traurigeren Kulisse beantwortet, als ich vermochte. Ich weiß nicht, der wievielte es war. Es gab Ursache und Anlass.
Ursache: Meine Blockaden bei einer Mathearbeit im sechsten und siebten Schuljahr
Anlass: Eine 5 im sechsten Schuljahr

Und mein Bruder starb. Vor meinen Augen, es muss ein schmerzhafter und quälend langsamer Tod gewesen sein, doch mein Bruder siegte nicht. Er zuckte.
Mein Bruder ist tot, denke ich.
Er war natürlich nicht komplett tot, er war eher halbtot. Innerlich tot. Wie tot muss man sein, damit geschrieben wird, dass man tot ist? Ich glaube, ab dem Grad der emotionalen Komplett- Veränderung treibt ein böser Dämon das Spiel. Und flüstert:
- Ich veränder dich vor den Augen deiner Lieben.
- Schau ihn dir an, mit ihm hast du früher getobt…möchtest du toben?
Nein, Herr Luzifer.
Nein, Herr Hitler.
Nein, Herr Flaischmann.
Nein, Herr Nero.
Nein, Herr Kain.

Nach der ekelhaft roten „mangelhaft“ ging ich auf Anraten meiner Mutter (Mütter muss man schönreden. Meine Mutter hatte kollektive Mitschuld, aber sie ist eine Mutter und man muss sie schönreden) zu ihm hin, zum Lernen. Ich zitiere sie:
- Jeder in unserer Familie kann Mathe, und deswegen kann es doch nicht möglich sein, dass du es nicht kannst.
- Mama, ich kann es halt nicht.
Ja, ich sollte bei der Leiche meines Bruders Mathe lernen. Mathe mit einem Toten. Es klang wie ein schlechter Krimi…

Ich muss nicht wiedergeben, wie es geschah. Das Mathelernen. Seine Verwesung miterleben zu müssen. Ich musste würgen. Ich verließ unser Haus unter Tränen. Wo war der Alte? Der Tober.
Ich war versucht zu schreien:
- Mr. Tob, WO BIST DUHUUU?
Ich bekam natürlich keine Antwort, ich ging davon aus, dass ich die Gerüche an mir selbst riechen könne, wenn ich wolle.
Doch ich wollte nicht. Ich wollte nichts, ich wurde zu dem Nichts- Woller.
Nicht riechen wollen.
Nicht sterben wollen.
Meine Gedanken verließen meinen Kopf wie einen Hafen.
….dass man es doch verhindern müsse….dass man es doch verhindern könne….kann ich es verhindern oder bin……
Zack, blitzschnell stehe ich vor unserem Haus, nehme instinktiv die Fährte des Tobens auf und folge ihr, ohne auf den Verkehr zu achten. Sie endet tief im Wald, es wird dunkel. Ich höre aus weiter Entfernung einen Schrei. Andere würden panisch herauslaufen. Ich nicht.
Ich tobte.
Wie ein Besessener!
Ich lallte durch den Wald, erschuf mir mein eigenes Bewusstsein, schrie, tobte mit mir selbst. Fügte mir auf Wunsch Schmerzen zu. Knallte gegen Bäume.
Doch ich höre auf. Ich blute, habe Angst, bin zu Freiwild meiner eigenen Leiche geworden? Wieso kann ich nicht das nervige Stupsding von früher sein?
Weil ich tot bin.
Schafft einen Sühnestein her.
Ich, der depressive, der sich immer gehasst hat, ist erlöst.
Abgestumpft.
Tot,
alt. Ist es geworden.
Der Hass wird alt.

Wenn meine Eltern in Urlaub fuhren, so ging es jeweils wieder um ein Erlebnis, die ich schrecklich fand: Mein Bruder sollte auf mich aufpassen. Und wieder diese elenden Aussagen:
- Räum auf.
- Pack die Spülmaschine aus.
- Lern Mathe.
Und ich hatte Angst davor, seinem ausgedorrten, ekelhaft verwesten Körper, den Körper einer Leiche, Dienst zu erweisen.
Wie tot man ist, wenn man sich nicht mehr nach dem Verfall seiner fröhlichen Identität nicht mehr wieder erkennt. Nicht mehr wehrt. Fragezeichen.
Ich stand kurz davor, zu einem Psychologen zu gehen. Dass er mir erklären könnte, was in meinem Bruder vorgeht und weshalb es so vorgehen muss.
Doch ich hatte Angst, dass er es nicht versteht. Dass er ich es nicht so gut formulieren kann, vielleicht gebe ich ihm diesen Text. Doch dann seht ihr ja nicht mehr, was er dazu sagt.

Bücher wälzen.
War bisher in solchen, gern deklarierten, Notfällen eine gute Alternative. Diesmal bezweifelte ich zwar sehr, dass ich selbst im besten Buch der Welt eine passende
Erklärung/Lösung
finden könne, doch ich war fest entschlossen, zu suchen. Nur, unter welchem Wort?
- Das Wort ist doch ein Pups, sagte mein Deutschlehrer.
Dass er sich damit dann doch ins eigene Fleisch schnitt, das wurde ihm wohl nicht klar. Er wiederholte solche Sätze nämlich oft. Gern. Und mit Liebe.
Nun, welches Wort? Der Dialog in der Bücherei war ein schrecklicher Dialog (und das sagt einer, der Dialoge eigentlich mag, aber vielleicht bemerkt man, dass ich Monologe nicht mag, sondern liebe, aber, mein Gott, ich sag, hey, jeder Schriftsteller ist doch ein Monolog-Fetischist, nicht wahr? Wahr) und ich musste mit mir selbst in Sühne gehen, um ihn überhaupt zu veröffentlichen.
Ich: Tag.
Bibliothekarin: Hallo, was kann ich für Sie tun? Suchen Sie was Bestimmtes?
Ich: Ja, das kann man wohl sagen. Und zwar-
Bibliothekarin: Hm-hm?
Ich: Informationen, über so was wie Abbau einer früheren Identität, eines früheren…
Bibliothekarin: … Charakters vielleicht.
Ich: Ja, Charakter. Das Wort habe ich gesucht.
Bibliothekarin: Tja, weiß nicht. Hmmm… schauen Sie doch mal in der Psychologie-Ecke nach. Könnte ja sein, dass Sie da was finden.
Ich: Das hab ich schon.
Bibliothekarin: Sie könnten unser Findeprogramm nutzen.
Ich: Ja, äh, werde ich machen. Danke.
Bibliothekarin: Nichts zu.

Doch das Findeprogramm fand nichts. Abbau (von Stress, der Arbeit, von Überstunden- So kommen Sie schneller in den Urlaub).
(Verändern Sie Ihren) Charakter (effektiv, Das große Lexikon der Psychologie. Band C-D – Von) Charakter (zu Defizitsyndrom, Just simplify yourself – Bergauf mit dem) Charakter.

Doch nichts.

Vielleicht sollte ich meinen Bruder in Ruhe lassen. Er hat es schwer genug. Es wäre ja so einfach, doch unglücklicherweise lässt mich mein Bruder nicht in Ruhe. Sein neuestes gekauftes Album hieß „Totenerde“. Stimmt, die Erde ist voller innerlich Toten. Man findet sie überall, man muss nur gewissenhaft suchen. Ich musste nicht finden, und nicht suchen – und gar nicht erst gewissenhaft. Mein Bruder, 27. Er starb schon – so früh. Ist es einfach der jugendliche Leichtsinn, die seinen Körper verlässt wie eine Seele? Ich weiß es nicht und ich glaube nicht, dass ich es herausfinden werde. Ich bin dazu verdammt, mit meinen blinden Eltern und meinem toten Bruder in diesem Haus zu wohnen. Ich bin mir sicher, unser Haus hat Augen. Sie schauen in die Leere. Was ist geworden?
Manchmal besuchen wir noch sein Grab. Wissen nicht, was man sagen soll. Mein Bruder und ich versuchen, das Toben aufrecht zu erhalten. Ein Revival. Dabei beschleicht uns jederzeit das Gefühl, es ist nicht das Wahre. Und denken in unserer toten Zweisamkeit:
Wir toben jetzt nicht mehr. Wir haben verlernt, wie das geht.

 

Hallo Spiralblock,

wo liegt hier das sprachliche Experiment, die strukturell auferlegte Einschränkung zum Beispiel?
Ich schlage vor, den Text nach Sonstige zu verschieben.

MfG, sim

 

Da Frage nach Experiment nicht beantwortet verschoben nach Sonstige

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom