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Der heilige Berg Takao-san
Eines Abends, sie hatte den ganzen Tag über den Büchern gesessen, und Monika war mit einer Freundin ins Kino gegangen, hatte sie noch Lust auf nette Gesellschaft. Da fiel ihr Guido wieder ein, mit dem sie beim letzten Hausfest ausgelassen getanzt hatte. Sie hatte ihn geführt, da er überhaupt nicht tanzen konnte, aber es schien ihm gefallen zu haben. Vor seiner Tür blieb sie stehen und lauschte den Gitarrenklängen aus seinem Zimmer. Dann klopfte sie an. Er öffnete die Tür und winkte sie einladend herein. „Du spielst schön. Spiel doch weiter,“ bat sie ihn. Er spielte Songs von Bettina Wegener und Wolf Biermann, mit einer leisen, aber tonsicheren, melancholischen Stimme. Sie war verzaubert. Sie fragte ihn, woher er diesen Bezug zur „Ost-Musik“ habe. Er erzählte ihr, dass er aus der DDR stamme, einen Fluchtversuch gemacht habe, geschnappt wurde, in Bautzen saß und nun durch seine Tante im Westen „freigekauft“ worden war. In knappen Worten schilderte er seine Jugend in diesem Unrechtssystem, von seinen eigenen Werten und wie ihm und seiner Familie die Stasi zugesetzt habe.
Jetzt studierte er Jura und wollte später in die Politik gehen. Er war Mitglied im RCDS, der Studentenorganisation der CDU, woraufhin sich zwischen ihnen heftige Diskussionen ergaben. Aber immer wieder rührte sie seine Melancholie an, wenn er von Persönlichem erzählte, von seiner Schwester, die er, da sie Olympia-Sportlerin der DDR war und striktes Kontaktverbot zu ihm hatte, jahrelang nicht gesehen hatte. Die Turmuhr schlug zwei. Er saß vor ihr auf dem Boden vor dem Bett. Sie griff herunter und verwuselte sein dichtes Haar. Es war weich und fest zugleich. Er griff nach ihrer Hand, küsste sie, zog sich hoch zu ihr und beugte sich über sie. Sie küssten sich lange und heftig. Bis zum Morgengrauen blieben sie zusammen, küssten, liebten und unterhielten sich. Dann, sie fühlte sich ganz warm, weich und leicht, stahl sie sich in ihr Bett und schlief mit einem Lächeln ein.
Sie begannen eine wunderbar leichte, freie und doch innige Liebschaft, geprägt von viel Eigenleben jeden Partners, ohne Eifersucht, voller Treue und Vertrauen, mit vielen gemeinsamen Reisen und erotischen Exprimenten. Sie blieben stets neugierig aufeinander, entdeckten immer wieder neue Seiten aneinander. Im Juni schauten sie zu und feuerten die Studenten an beim legendären „Stocherkahnrennen“, bei dem die Studenten verschiedener Verbindungen, wild verkleidet und geschminkt als Indianer oder Germanen, um die Wette ihre Stocherkähne nach Art der venezianischen Gondeln mit langen Stäben um die Neckarinsel herumsteuerten und sich dabei unter großem Gejohle versuchten, gegenseitig aus den Kähnen zu stoßen. In einer sternenklaren Sommernacht besuchten sie das Club Voltaire-Open-Air-Festival und lauschten im Schlosshof dem immer noch mitreißenden Modern Jazz Quartett.
Am Ende des nächsten Semesters zog Silke um in die Bundeshauptstadt am Rhein, er folgte ein halbes Jahr später nach, sie bezogen Zimmer in unterschiedlichen WGs, besuchten sich regelmäßig oder trafen sich mittags in der Mensa. An dieser Universität fühlte sie sich wohl, lernte fleißig und sehr erfolgreich und verstand sich gut mit ihrem Japanologie-Professor, einem charmanten Österreicher, der viel farbigere und lebensnahere Vorlesungen hielt. Außerdem unterrichtete er das Fachgebiet in der Japanologie, das sie wirklich interessierte: die Ethnologie. Sie lernte viel über Kultfeste und shintoistische Rituale und Dorftraditionen. Das folgende Jahr nutzte sie, um ihr Studienjahr in Japan vorzubereiten. Der Professor unterstützte sie, indem er sie für einen Studienplatz an der berühmten Waseda-Universität empfahl. Also, auf nach Tokyo! hieß es im September. Am Flughafen in Stuttgart hatte Guido Tränen in den Augen, die ihren glänzten nur vor lauter Vorfreude auf das, was sie in diesem ersehnten Land erwartete.
In Narita gelandet, checkte sie ihr Gepäck aus und machte sich auf die Suche nach dem Shuttle-Bus in die Innenstadt, zum Bahnhof Shinjuku, wo sie mit Birgit verabredet war, der Vormieterin ihres Zimmers in Tokyo. In jeder Hand ein großer Koffer, über die Schulter gehängt eine riesige Sporttasche, erfragte sie sich den Weg zur Haltestelle, was zu ihrem Erstaunen auf Japanisch schon ganz gut klappte, obwohl sie bisher im Studium kaum sprechen gelernt hatte, immer nur Übersetzungen gemacht hatte. Sie bezahlte zum ersten Mal beim Busschaffner mit den Yen-Scheinen mit den vielen Nullen, die sie bereits in Deutschland eingewechselt hatte und suchte sich einen Platz am Fenster. An diesem sonnigen Septembermorgen bahnte sich der Bus seinen Weg über die hoffnungslos verstopfte Stadtautobahn. Zu ihrem Erstaunen führten diese und andere Straßen teilweise auf der Höhe der oberen Etagen von Mietshäusern vorbei, bildeten mehrere Stränge ober- und untereinander und waren alle samt und sonders so voll, dass es nur im Stop-and-Go-Verfahren langsam vorwärts ging. Sie betrachtete beeindruckt die Silhouette der sich über den Horizont hinaus ausdehnenden Millionenstadt, mit ihren zahllosen Hochhäusern, darunter etliche, die über 30 oder 40 Stockwerke hatten, selbst am hellen Tag blinkten die teils japanischen, teils englischen Leuchtreklamen an ihnen ununterbrochen. Leichter Nebel lag über der Bucht von Tokyo. Das Tosen des Verkehrs bildete einen nicht abreißenden Lärmteppich, den sie schon bald gar nicht mehr wahrnehmen sollte, er war ständiger Begleiter in dieser Metropole.
Die Autobahnbeschilderung für die Abfahrten war nur teilweise zusätzlich zu den Schriftzeichen mit Ortsnamen in „Roomaji“, der englischen Umschrift, versehen. Sie wollte hier wirklich kein Ausländer sein und am Steuer sitzen müssen. In Shinjuku spuckte sie der Bus auf den Bahnhofsvorplatz, der von einem unglaublichen Menschengewusel in alle Richtungen erfüllt war. Obwohl Birgit selbst eher klein war, erkannte sie ihren blonden Schopf sofort unter all den braunen und schwarzen Köpfen. Birgit begrüßte sie herzlich, mahnte jedoch sofort zur Eile, um an der Ecke den nächsten Bus in ihr Stadtviertel, Nishiwaseda, neben der berühmten Waseda-Universität gelegen, zu erreichen. Auf der Fahrt hierhin fuhren sie am Fuß manchen Skyscrapers vorbei, Silke wurde es schwindlig, wenn sie nach oben schaute. Überall waren Menschen, auf den Straßen, auf den schmalen Gehwegen, alle schienen es eilig zu haben. Ein Geschäft, Restaurant oder Spielsalon reihte sich an das andere. Mitunter waren auch pink leuchtende Reklamen von Nachtbars und Striptease-Lokalen zu sehen. Shinjuku war nicht nur ein wichtiges Geschäftszentrum, sondern auch eins der größten Vergnügungsviertel der Stadt. In Nishiwaseda angekommen, bahnten sie sich ihren Weg auf den schmalen Gehsteigen vorbei an überquellenden Müllsäcken und den Auslagen der Reis-, Fisch- und Gemüsehändler sowie der Werbung der Pachinko-Hallen, eine beliebte Glücksspielart in Japan, wo das Rasseln der kleinen Metallkügelchen von morgens bis abends zu hören war. Sie bogen in eine kleine Seitengasse zwischen den Häuschen in Holzbauweise ein, mit windschief quer über den Weg hängenden Elektroleitungen, und, typisch zu dieser Morgenstunde, den aus den Fenstern ragenden Futondecken.
Die Haustür stand offen, drinnen begrüßte sie die Herrin des Hauses, die Mutter einer Familie mit zwei halbwüchsigen Kindern, die auf der oberen Etage zwei Zimmer untervermieteten, darunter nun auch das ihrige. Im Treppenhaus waren natürlich die Schuhe auszuziehen und in Pantoffeln zu schlüpfen, von denen in jeder gängigen japanischen Größe ein Paar bereit stand. Die „Oku-san“ machte eine Bemerkung und sie und Birgit lachten. Birgit übersetzte ihr, dass die Vermieterin gemeint habe, dass sie, Silke, ja nun die Schlappen in der Herrengröße tragen müsse. „39“ war in Japan als Damenschuhgröße unüblich und, wie sie später feststellen sollte, auch kaum zu bekommen. Im Treppenhaus hingen unzählige, billige Plastik-Regenschirme. „Die braucht man hier im Sommer immer, du wirst sehen“, meinte Birgit. Silke nickte erschöpft und war froh, als sie ihre Koffer und Taschen in dem winzigen Zimmer erst einmal abstellen konnte.
Neun Monate in Japan vergingen wie im Flug. Sie erwachte an einem sonnenstrahlenden Sonntagmorgen in ihrem Vier-Matten-Zimmer in Nishiwaseda und fasste beim Brausen des Großstadtverkehrs durch ihr weit geöffnetes Fenster den Entschluss, der schon lange in ihr gärte: sie würde heute zum Takao-san, dem heiligen Berg am Westrand Tokyos, hinausfahren und die frische Bergluft, die Ruhe und die Abgeschiedenheit genießen. Schon längst war sie des Menschen- und Autogetümmels in dieser Millionenstadt, des ständigen Lärms, Gestanks und Lichterblitzens überdrüssig. Sie brauchte nach den Ereignissen der vergangenen Wochen einen klaren Kopf, um wichtige Entscheidungen für ihr Leben zu treffen. Ganz in Ruhe verzehrte sie ihr japanisches Frühstück, das heute aus einer Miso-Suppe, zwei Schälchen gekochtem Reis mit Streuwürze und sauer eingelegtem Gemüse bestand, packte ihren Rucksack, schnürte ihre Wanderstiefel und machte sich auf den Weg zur U-Bahn.
In Shinjuku, einem der größten Bahnhöfe der Stadt, stieg sie, sich inzwischen wie immer geschickt ihren Weg durch die hastenden Menschen bahnend, in den Zug der Chuoo-Linie, der sie schnell zu ihrem Ziel, Takaosanguchi, bringen sollte. Es war noch recht früh am Morgen und im Gegensatz zu den übervoll verstopften U-Bahnen während der werktäglichen Rush-Hour war die Bahn fast leer. Sie suchte sich einen Fensterplatz, legte die Kassette mit der Shakuhachi-Musik in ihren Walkman und verlor sich in Gedanken.
Sie dachte an die Reise im Zug nach Kyoto und Nara mit Guido, die so wenig erfreulich geendet hatte. Sie sah ihn noch vor sich, als sie ihn am Vorabend an dem kleinen Vorortbahnhof abgeholt hatte, mit seiner in dieser Umgebung fremdartig wirkenden, russischen Pelzmütze auf dem Kopf, wodurch er unter all den Japanern noch riesiger wirkte. Sie wollte wie immer nicht auffallen, „das Gesicht wahren“, wie der Japaner sagen würde, und riss ihm in einem ersten Impuls die Mütze vom Kopf, erst dann gab sie sich seinen Begrüßungsküssen und Umarmungen hin. Als sie später am Abend in dem Zimmer, das ihnen eine Freundin in Abwesenheit überlassen hatte – bei ihrer japanischen Familie war kein Herrenbesuch gestattet – ermattet von ihren leidenschaftlichen Umarmungen nebeneinander lagen, strich er ihr über den Oberschenkel und meinte: „Du hast etwas zugelegt, Mädel.“ Es klang kritisch, und kaum hatte sie diesen Kloß geschluckt, kam schon der nächste Satz wie eine Gewehrsalve aus seinem Mund und traf sie mitten ins Herz: „Weißt du, ich hatte im Herbst, kurz nach deiner Abreise, eine Affäre, aber schon nach einer Woche habe ich sie beendet, weil ich erkannt habe, wie sehr ich dich liebe.“ Toll, sollte sie sich jetzt über diese Entscheidung zu ihren Gunsten freuen und dankbar sein? Zynisch lachte sie auf, kam aber gar nicht erst zu Wort, als er fortfuhr: „Heirate mich, Liebste, wenn du wieder nach Deutschland zurück kehrst. Ich liebe dich.“ Sie kann sich nicht mehr an den Wortlaut ihrer Antwort erinnern, die sie verwirrt hingestottert hatte, im Grunde sagte sie, dass sie noch Zeit brauche, sich noch nicht sicher sei, sich noch zu jung fühle und auch erst ihr Studium beenden wolle. Damit war das Thema zunächst erledigt. Es stand aber auf ihrer weiteren, gemeinsamen Reise unsichtbar zwischen ihnen.
„Nächster Halt ist Nakano. Bitte passen Sie beim Öffnen der Türen auf.“ Die Lautsprecherdurchsage riss sie aus ihren Träumen. Es stiegen einige Familien mit fröhlichen, aber nicht lärmenden Kindern ein – in Japan wird man schon früh zur Rücksichtnahme auf andere erzogen – sowie einige rüstige Rentner in Wanderkleidung mit Gehstöcken. Diese waren lauter als die Kinder und öffneten schnell ihre Rucksäcke, aus denen sie unter großem Geschrei und Gelächter ihre Obentoo-Pakete (kleine Imbisse wie unser Butterbrot, nur natürlich bestehend aus Reisbällchen mit Algen, Fisch, Ei und Gemüse) sowie eisgekühlte Sakefläschchen auspackten und sich gegenseitig fleißig einschenkten. Auch ihr boten sie davon an, sie lehnte jedoch dankend ab.
Bald fingen sie auch mit Japans liebstem Volkssport an, und begannen, Volkslieder und Schlager zu singen. „Anatawa Amerika-jin desuka?“ sprachen sie sie an. „Iie, Doitsujin desu“ antwortete sie knapp (Sind Sie Amerikanerin? – Nein, Deutsche). „Are, doitsujin desuyo!“ (Super, eine Deutsche !) johlte ein Senior und es kam, was kommen musste : er intonierte ton- und textsicher von der ersten bis zur letzten Strophe das Lied von der Lorelei. Sie lächelte und klatschte höflich. Da sie nun natürlich ebenso zum Gesang aufgefordert wurde, sang sie „der Mond ist aufgegangen“, das einzige Lied, das sie von vorn bis hinten auswendig kannte: Bald stimmten auch hier fröhlich die Japaner sogar mehrstimmig ein. Sie dachte bei sich, dass sie doch eigentlich ein recht liebenswertes Völkchen waren, das den zunächst stets misstrauisch beäugten „Langnasen“ im Grunde eine große Gastfreundschaft entgegenbrachte.
So oft fühlte sie sich einsam und ausgeschlossen in Tokyo, auch wenn sie sonntags mit dem „Sensei“ (Meister, Lehrer), einem Geschäftsführer im Ruhestand, mit dem sie ihr Professor bekannt gemacht hatte, in Museen und Ausstellungen unterwegs war, oder abends mit ihren japanischen Kommilitonen in Kneipen und Bars. Stets hatte sie das Gefühl, nie wirklich dazu zu gehören, nur vorübergehender, exotischer Gast zu sein, dem man möglichst viel in seiner totalen Ahnungslosigkeit von der haushoch überlegenen japanischen Hoch- und Alltagskultur vermitteln müsse. Trotz jahrelangen Studiums bereits in Deutschland und intensiven Besuchen in japanischen Tempeln und Schreinen blieb ihr der Eindruck, dass sie immer nur eine Außenbetrachtung erreichen könnte, nicht wirklich in die Geheimnisse des Lebens in Japan eintauchen könne. Auch wenn sie noch so viele japanische Leckereien probierte, ganz authentisch in einem winzigen Zimmer auf dem Boden schlief und im öffentlichen Badehaus badete, millionenschwere Teeschalen oder Rollbilder ehrfürchtig betrachtete, im Schrein in die Hände klatschte und wirklich zu einem Shintoo-Gott betete, die Schuhe beim Betreten des Hauses auszog und die Stäbchen nicht im Reis stecken ließ: sie blieb eine Fremde. Sie war hier nicht in den Kindergarten und zur Schule gegangen, hatte nicht ihr Leben lang in einer Art größerem Schuhkarton gelebt ohne Zentralheizung, hatte weder dieselben Verhaltensweisen noch dasselbe Wissen anerzogen bekommen wie die Menschen hier, hatte nicht die Aufnahmehölle der japanischen Universitäten durchlitten, und musste sich auch noch nie – wie in ihrem Alter für Japanerinnen durchaus üblich – dem peinlichen Verfahren des O-Miai (Heiratsanbahnung durch Heiratsvermittler) mit dem Treffen unzähliger mehr oder minder ansehnlicher oder sympathischer, ebenso verkrampfter Heiratskandidaten unterziehen.
Vor allem hatte sie nicht gelernt, japanisch zu denken, d.h. statt vom „Ich“ ausgehend die Welt zu betrachten und was sie ihr böte, stets zuerst an die Gemeinschaft zu denken: an die Erwartungen der Familie, in der Schule, an der Universität, im Stadtviertel und später im Beruf. Wurde man, was selten geschah, zu einer japanischen Familie nach Hause eingeladen, begrüßte man die Gastgeber mit dem Standardsatz „O-jama-shimasu“ (ich mache Ihnen Umstände), während diese einen stets mit „irrashaimase“ (herzlich willkommen) begrüßten. Jemand anderem nur keine Umstände zu bereiten, niemanden das Gesicht verlieren zu lassen, war das allererste Gesetz hier. Was zählten da persönlicher Erfolg und die im Westen so hoch gelobte Selbstverwirklichung, wenn es der Familie, der Nachbarschaft, der Firma dadurch nicht gut ging?
„Nächster Halt ist Tachikawa. Bitte passen Sie auf“. Wieder wurde sie von der Lautsprecherdurchsage aus ihren Gedanken gerissen. Die Gruppe der Rentner stieg hier aus und winkte ihr fröhlich zum Abschied zu. Sie wirkten so entspannt und zufrieden in ihrer Gemeinschaft; und auch die Eltern, die noch im Abteil geblieben waren, kümmerten sich hingebungsvoll um ihre Kinder. So ernst ihr Leben später in der Schule werden würde, zuhause wurden die japanischen Kinder maßlos verwöhnt und mit großer Sanftmut und Geduld erzogen. Die Väter freuten sich offensichtlich, einmal Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können, denn die meisten waren von ihren Wohnungen in den Vororten von morgens um fünf oder sechs bis spät nachts abwesend, da sie neben den Überstunden auch noch regelmäßig an Geschäftsessen oder Besäufnissen mit Kollegen teilnehmen mussten. Manche verbrachten die Nacht gleich in einer der Bars im Vergnügungsviertel, wo die Bardame „mama-san“ (ehrenwerte Mama) ihnen Partnerin-Ersatz, Mutter-Ersatz und Geliebte gleichermaßen war. Nebenfrauen hatten in Japan schließlich eine lange Tradition. Die Ehefrauen tolerierten das in der Regel, Hauptsache, der Mann gab ihnen am Monatsanfang den Umschlag mit dem Gehalt (das immer noch bei vielen Firmen bar ausgezahlt wurde), die Frau händigte ihm dann sein Taschengeld aus und verwaltete ansonsten völlig selbstständig die Finanzen der Familie.
Dafür wiederum wurde von den Frauen, auch wenn sie studiert hatten und eine höhere Position als die einer Sekretärin oder Buchhalterin bekleideten, erwartet, dass sie bereits mit der Eheschließung ihren Arbeitsvertrag kündigten, denn nun stand ja bald der erwünschte Nachwuchs an und sie würden ja durch den Mann versorgt. Auch dies waren wieder Dinge, die ihr fremd blieben und mit ihrer eigenen Lebensplanung überhaupt nicht zusammen gingen.
Ihre Gedanken sprangen nun wieder zurück zu der Reise mit Guido und zu dem, was am Vorabend ihrer Reise zwischen ihnen vorgefallen war. Schon am nächsten Tag, bei der Fahrt im ratternden Bummelzug nach Kyoto, war er gereizt und nicht humorvoll wie sonst, besonders wenn sie über ihre immer stärker werdenden Bauchschmerzen und Übelkeit klagte. In Kyoto angekommen übergab sie sich erst einmal auf den Bordstein, wonach er angewidert die Mundwinkel verzog und sie nur zu mehr Eile anhielt, da sie sich noch mit einem Professor zum Frühstück treffen sollten. Auch die folgenden Tage spürte sie seine latente Feindseligkeit und litt weiter unter Schmerzen und Erbrechen. Als sie die Nacht in einem Kloster in der Nähe des Wallfahrtsorts Ise verbrachten, bekam sie Fieber und Schüttelfrost, bis sogar der verständnislose Guido schließlich den Herbergsvater rief, der ihren Bauch abtastete, „Mootchoo!“ (Blinddarm) rief und sie sofort ins Auto packte und zum Krankenhaus fuhr. Als sie am nächsten Morgen nach der Operation erwachte, saß Guido an ihrem Bett und offenbarte ihr, dass er noch ein paar Tage ohne sie durch Japan reisen wolle, schließlich war er nicht den weiten Weg mit der Transsibirischen Eisenbahn gekommen, um die Zeit in einem Provinzkrankenhaus zu verbringen. Außerdem hatte er seinen großen Rucksack in Tokyo gelassen. Er wollte auf dem Rückweg noch einmal bei ihr vorbeikommen. Ihr standen die Tränen in den Augen, es war so Vieles noch ungesagt zwischen ihnen. Ein halbes Jahr lang hatte sie sich nach ihm gesehnt und oft unter Heimweh gelitten, nun verließ sie dieses kleine Stück Heimat schon wieder. Sie summte die Melodie von „dein ist mein ganzes Herz“ vor sich hin und küsste ihn matt, als er sich zu ihr herunter beugte. Bei diesen Erinnerungen liefen ihr die Tränen erneut übers Gesicht.
„Daijoobu desuka? Kawaisoo-na!“ (sind Sie in Ordnung? Sie Arme!) eine Mutter setzte ihr Kind vom Schoß, beugte sich zu ihr herüber und reichte ihr ein Taschentuch. Es war, wie in Japan üblich, ein Stofftaschentuch, sogar von Kenzo, mit einem zartgrünen Blumenmuster darauf. „Doomo arigatoo, anata wa totemo shinsetsu desu.“ (vielen Dank, Sie sind sehr freundlich) antwortete sie und wischte sich die Tränen ab. Die Mutter machte ihr Zeichen, dass sie das Taschentuch behalten solle und sie bedankte sich erneut.
„Nächster Halt ist Takao-sanguchi. Hier endet der Zug. Bitte alle ehrenwerten Fahrgäste auszusteigen“. Sie trat hinaus in die strahlende Sonne und atmete die gute, frische Bergluft ein. Suchend blickte sie sich nach den Wegweisern um. Als sie das Schild mit den Schriftzeichen Takao-san (Takao-Berg) gefunden hatte, schulterte sie ihren Rucksack und stieg auf dem Schotterweg bergan. Bald führte der Weg in einen dichten Kiefernwald und ging in einen natürlichen Erdpfad über. Unterwegs überholte sie andere Wanderer, die alle paarweise oder grüppchenweise unterwegs waren. Mitunter waren auch wieder fröhliche Rentner darunter, die ihr verstohlen nachblickten. Ab und zu schnappte sie Wortfetzen auf, wie „tsuyoi, yo!“ (die ist aber stark), was ihr auf einmal nicht mehr freundlich sondern hämisch erschien, bezogen auf ihre Figur. Sie hatte tatsächlich im letzten halben Jahr 8 kg zugenommen. Vorher war sie noch ganz schlank gewesen. Wieder dachte sie an Guido und seine Äußerung am Vorabend ihrer Reise.
Aber diese unsichere Wahrnehmung ihrer Umgebung erinnerte sie auch zunehmend an die Probleme, die ihr in den letzten Wochen das Leben zur Hölle machten: ständig schnappte sie Wortfetzen in Japanisch auf, die aus dem Zusammenhang gerissen, schwer zu deuten waren, die sie aber stets als feindselig oder verächtlich gegen sich deutete. Besonders beschäftigte sie seitdem die Erkenntnis, dass sie trotz eines Intensiv-Sprachkurses an der Elite-Uni und fleißigem Lernen abends nach ihrem Job in einer japanisch-deutschen Handelsfirma immer noch nicht mühelos die japanische Schrift „lesen“ konnte, sondern nur mühevoll entziffern und sehr oft das Zeichenlexikon zu Hilfe nehmen musste. Auch ihre Ausdrucksweise in den schriftlichen Aufgaben an der Uni war immer noch nicht fehlerlos.
Wann hatten diese Selbstzweifel eigentlich angefangen? Es dämmerte ihr, als sie an den Besuch ihrer Mutter dachte. Dieser fand drei Wochen nach der Reise mit Guido statt. Sie hatte bei ihr in Tokyo übernachtet, wo sie natürlich an allem etwas auszusetzen hatte: ihr Zimmer sei zu unsauber und unaufgeräumt, der Boden zum Schlafen für ihren Rücken zu hart, sie bekomme davon Schmerzen; das Essen in den japanischen Restaurants beäugte sie stets misstrauisch und die Menschenmassen und den Lärm und Gestank fand sie ungesund und unerträglich. Gott sei Dank brachen sie nach wenigen Tagen zur Reise nach Kyoto, Nara und Ise auf, wo sie ihrer Mutter die kunsthistorischen und architektonischen Leckerbissen präsentieren wollte. Im früheren Katsura-Kaiserpalast in seinem minimalistischen Stil, der dem von ihr favorisierten Bauhaus-Stil Pate gestanden hatte, blühte ihre Mutter auf, und auch in den Tempeln stand sie mit leuchtenden Augen vor den Buddha-Statuen. Doch auch die Tochter beäugte ihre Mutter stets sehr kritisch, da sie Angst hatte, dass sie in ihrer Unwissenheit ein Tabu verletzen könnte. Entsetzt versuchte sie sie zum Beispiel daran zu hindern, ein Foto vom Allerheiligsten, dem Schrein der Sonnengöttin Amaterasu zu machen, der der Schrein der Kaiserfamilie war.
Später, bei einem Abendessen, stellte die Mutter ihr drängende Fragen, die sie schon damals nicht hören wollte: ob sie schon alles Material für ihre Magisterarbeit gesammelt habe, ob sie durch die Geschäftskontakte des Vaters, die er ihr vermittelt hatte, schon einen Arbeitsplatz nach dem Studium in Aussicht habe oder ob sie zumindest wisse, in welchem Bereich sie arbeiten wolle, und wie lange das Studium denn jetzt noch dauere. Keine zwei Wochen nach der Abreise der Mutter fing es dann an, dass sie Gesprächsfetzen und vermeintliche Blicke der Leute auf sich bezog. Inzwischen war ihre Telefonrechnung dank ihrer nächtlichen Krisengespräche mit Guido ins Astronomische gewachsen, und sie fühlte sich dank schlafloser Nächte und unentwegten Grübelns immer erschöpfter, ertrug kaum noch die volle U-Bahn in der Rush-Hour und die Menschenmassen, wo man ging und stand.
Ein Regentropfen traf ihre Stirn, sie sah auf und entdeckte, dass der Himmel sich düster bewölkt hatte. Durch ihre Grübelei hatte sie die sie umgebende Landschaft und die Wegbeschilderung gar nicht mehr beachtet. Sie holte eine Regenjacke aus ihrem Rucksack und orientierte sich an den Schildern mit Hilfe ihrer Karte. Dort war das Schild für jinja (Schrein) und sie bog rechts auf den Weg ein. Hier oben war es kaum noch bewaldet und sie wäre ungeschützt, falls das Unwetter heraufzöge. Sie beschleunigte ihren Schritt und traf beim ersten Donnergrollen bei dem Schrein ein.
Sie reinigte rituell am Wasserbecken Hände und Mund und trat vor den Schrein. Sie warf ein paar Münzen in den Schlitz am Boden und klatschte zweimal zum Gebet in die Hände. Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen und sie trat zur Seite, um anderen Betenden Platz zu machen. Sie trat an einen Stand mit Amuletten und Gebetszetteln und erwarb ein Amulett. Der Mönch, der es ihr verkaufte, sah sie nachdenklich an und fragte sie, ob er ihr helfen könne. Erst schüttelte sie den Kopf und ging weiter, doch da lief er hinter ihr her und überreichte ihr einen Gebetszettel. Ohne ihn zu lesen, fragte sie ihn auf einmal: „wie kann ich wissen, Sensei, welcher Weg zum Ziel führt, und ob ich es jemals erreichen werde?“ Er wies stumm auf den Zettel- dort stand: „jeder Weg führt zum Ziel, denn der Weg ist das Ziel“. Sie musste lächeln, dass er ihre Frage vorweg gewusst hatte, legte die Hände zusammen und verbeugte sich vor ihm. Er erwiderte die Verbeugung, lächelte, warf das Ende seines Gewands über die Schulter und schritt auf klappernden Holzsandalen davon.
Auf der ganzen Fahrt zurück nach Tokyo lächelte sie vor sich hin und dachte über die Schritte nach, die nun zu gehen waren. Nachts rief sie Guido an: „Ich komme nach Hause“. „Das ist gut so, na endlich“. Am nächsten Tag würde sie sehr viele Vorbereitungen treffen müssen. Sie hatte noch eine sehr, sehr weite Reise vor sich, weiter als die Entfernung zwischen Tokyo und Stuttgart.