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Der Herr Meier bringt es alleine zu einem Ende
Übrigens hat der Herr Meier eigentlich gar keine roten Haare. Normalerweise sind sie weiß, aber der Herr Meier ist da flexibel. Wenn es die Rolle erfordert, dann verschwindet er einfach für ein paar Minuten im Badezimmer und färbt sie sich. Das ist alles überhaupt kein Problem. In dieser Branche muß man anpassungsfähig sein. Da kann man nicht einfach ein Engagement ablehnen, nur weil die Haare nicht passen.
Überhaupt ist der Herr Meier sehr wandlungsfähig und für jede nur erdenkliche Rolle zu haben. Bis eines Tages...
Der Herr Meier war gerade dabei, sein Schwert mit einem dreckigen Lappen notdürftig vom Blut seines Feindes zu reinigen und beobachtete aus dem Augenwinkel die letzten Zuckungen des abgeschlagenen Drachenkopfes. Erst gestern war er mit seinem Raumschiff auf der Suche nach einem magischen Buch in den hintersten Sternenkopfnebeln irgendeiner uninteressanten Galaxie herumgeflogen, bevor er sich mit seinem Kumpel in einer versifften Kneipe über die Frau von Heute und ihren eklatanten Mangel an Existenz in seinem Leben ausgelassen und schließlich den garstigen Vampir im letzten Moment mit einer silbernen Bierdose erschlagen hatte.
Der Herr Meier war nämlich ein Held. Natürlich nicht irgendeiner - er war mein Held. Mein ganz persönlicher Held und ich kann mit Stolz behaupten, daß ich alles in meiner Macht stehende unternehme, damit er immer ordentlich was zu tun hat, der Herr Meier.
Nun, an diesem speziellen Tag also war er gerade dabei, sein Schwert zu reinigen - die liebreizende Prinzessin lag bewußtlos auf dem Boden vor der finsteren Drachenhöhle - als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Ein Gedanke, der eigentlich auf der Hand lag und den er im stillen Kämmerlein vielleicht schon öfter vor sich hergewälzt hatte, den er sich aber nie getraut hatte, mir gegenüber auszusprechen.
"Sag mal", begann er auf einmal, "Warum darf ich die Prinzessin hinterher eigentlich nie flachlegen?"
"Jugendschutz", meinte ich lapidar und wähnte die Diskussion damit erledigt. Aber da hatte ich die Rechnung ohne den Herrn Meier gemacht.
"Jugendschutz? Guck sie dir doch mal an, die ist volljährig. Und wie volljährig die ist..."
"Sie schon. Aber nicht die Leute, die deine Abenteuer verfolgen."
"Ja, da scheiß ich doch drauf. Ich will die Alte kna..."
"Nichts da, mein Freund. Du wirst sie jetzt schön zurück zum Schloß des Königs bringen, sie zur Belohnung heiraten und dann lebt ihr glücklich und zufrieden bis an das Ende."
"Aber das sind doch maximal noch drei Sätze."
"Reicht doch. Danach wird es langweilig. Ich meine, die Action ist doch schon vorbei und... Warte mal, warum diskutier ich eigentlich mit dir? Ich bin doch hier der Chef. Mach dich endlich auf die Socken!" Natürlich hatte der Herr Meier keine Wahl. Immerhin war ich tatsächlich der Chef. Ohne mich, seinen Autor, würde er gar nicht existieren. Es war meine Welt und er der Prototyp meines Helden. Zum Glück sah der Herr Meier das auch schnell ein, schulterte die Prinzessin, die wirklich verflucht volljährig war, und machte sich auf den Weg zum Schloß.
"Arschloch!"
"Wie bitte?"
"Ich meine, du weißt ganz genau, daß ich tun muß, was du schreibst."
"Ja. Toll, oder?"
"Ich find das zum Kotzen, wenn du mich fragst."
"Vermutlich ist das der Grund, aus dem ich dich nicht frage."
"Warum darf ich nicht mitbestimmen? Wer sagt denn, daß du mich so rumschubsen kannst, hä?"
"Ich sitze einfach auf der richtigen Seite des Papiers."
"Ja, leck mich doch! Du bist echt der beschissenste Autor, der mir passieren konnte. Und außerdem sind meine Haare nicht weiß, du einäugiger Sohn eines grauen Stares. Das ist ein ganz helles Blond."
Vielleicht hatte der Herr Meier gar nicht mal so unrecht. Also, natürlich nicht mit den Haaren, sondern mit dem anderen. Immerhin hat er sich jahrelang ohne Murren durch meine Abenteuer gekämpft, hatte für mich den Teufel erschossen, mehrere Wettpinkeln gewonnen und mit mir zusammen unzählige Schafe zum Explodieren gebracht. Das mit den Schafen war schon immer so eine Marotte von mir, muß ich ja zugeben. Aber ich finde, das ist immer noch besser als Enten.
Nun, jedenfalls dachte ich mir, daß es wohl wirklich an der Zeit wäre, den Herrn Meier in Rente zu schicken. Einen Moment lang überlegte ich, ihn einfach nicht mehr zu besetzen und so in Vergessenheit langsam sterben zu lassen, aber das wäre stillos gewesen. Und so wählte ich den anderen, den schwereren Weg. Also, den für ihn schwereren Weg.
Ich würde ihn in die Unabhängigkeit schreiben. Dann wäre er frei und könnte tun und lassen, was er wollte. Natürlich nicht sofort, denn zuerst müßte er die Geschichte beenden - allein und ohne mich. Das sind die Regeln. Keine Geschichte darf unbeendet sein, wenn ein Held in Rente geht.
Ich teilte dem Herrn Meier meinen Entschluß mit.
"Haben sie dir jetzt ins Hirn geschissen?"
"Na, erlaube mal!", sagte ich. " Ich gebe dir hier die Chance, die Seite zu wechseln. Und du hast nichts Besseres zu tun, als mich zu beleidigen. Na schönen Dank auch!"
"Die Seite wechseln? Du schickst mich geradewegs durch die Hölle."
"Als wenn das was Neues für dich wäre..."
"Ich meinte das... wie nennt ihr Möchtegernautoren das noch? Ach ja... metaphorisch meinte ich das."
"Die Alternative besteht im Vergessen. Du weißt, was mit deinesgleichen passiert, wenn eure Autoren sich neue Akteure suchen, oder? Denk an den Herrn Schmitz."
"Kenn ich nicht."
"Siehst du..."
"Also gut, ich machs. Sag schon, wie ich das hier zu einem Ende bringe."
"Kann ich nicht. Das wäre unfair. Diesmal bist du auf dich gestellt. Keine Hilfe von mir, kein Deus ex Machina, der dich in letzter Sekunde befreit, kein offenes Ende, das dir die Konsequenzen deines Handelns erspart, kein allwissender Erzähler. Nur du ganz allein. Du und deine fünf Si..."
"Jaja, schon gut. Ich hab nicht nach deiner Lebensgeschichte gefragt. Wann geht's los?"
"Sobald ich dich selbständig geschrieben habe", sagte ich und schon im nächsten Moment war der Herr Meier autonom.
Eine Flut von Blau übermannte ihn. Die Welt schillerte in den buntesten Gerüchen, Geräusche dümpelten in den absurdesten Formen an seinem inneren Auge vorbei und der Geschmack von Blumenerde breitete sich in seinen Ohren aus. Die Welt, wie er sie gekannt hatte, verging in einem kosmischen Strudel aus bananiger Leere und wurde ersetzt durch etwas Unvergleichbares, für das er keine Worte kannte.
"Kacke, Mann! Was ist das? Mach, daß das aufhört."
"Kann ich nicht. Da mußt du jetzt durch. Du gewöhnst dich dran, glaub mir." Bislang war Herr Meier nur ein Held meiner Geschichten gewesen. Er hatte sich in die Rolle begeben, die ich ihm geschneidert, Dinge getan, die ich ihm aufgetragen und gefühlt, was ich ihm zu fühlen erlaubt hatte. Wenn es hieß "Der große Held sah, daß sein Pferd müde war", dann hatte er es nicht wirklich gesehen - er hatte es einfach gewußt, weil ich es ihm gesagt hatte.
Aber jetzt war das anders. Jetzt hatte Herr Meier eigene Augen.
"Hey, ich habe... ich habe dich gehört... glaub ich."
"Gut, dann scheinen deine Ohren zu funktionieren."
"Es ist... es ist... sag mir ein Wort."
"Laut?"
"Ja, es ist laut. Und irgendwie bananig."
"Bananig."
"Ach, woher soll ich denn wissen, wie man das nennt? Ich mach das zum ersten Mal und... boah, was stinkt denn hier so?"
"Du warst lange unterwegs, bis du endlich die Drachenhöhle gefunden hast. Und ich gebe zu, daß ich vergessen habe, dich ab und an zu waschen. Ich kann ja auch nicht an alles denken."
"Du bist und bleibst ein Arschloch. Himmel, ich muß baden!"
Herr Meier hob den Kopf und sah... nein, so funktioniert es nicht. Nicht mehr.
"Siehst du den Pfeil dort?", fragte ich stattdessen.
"Lenk jetzt nicht ab! Warum hast du mich nicht baden lassen?"
"Willst du jetzt das Ende finden oder nicht? Sag mir, ob du den Pfeil sehen kannst."
"Ja, ich sehe ihn. Und?"
Ich lehnte mich zurück, drehte Däumchen und wartete. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Ich hatte Herrn Meier aus der Hand gegeben und jetzt war es seine Entscheidung. Stunden vergingen. Er saß einfach auf einem Stein und starrte in die endlose Weite des schottischen Hochmoores, ein Mann, dessen Horizont sich binnen Sekunden um ein Milliardenfaches erweitert hatte - ohne Vorwarnung. Die Prinzessin war übrigens längst verschwunden. Hatte sich einfach in Luft aufgelöst - das war leicht, über sie hatte ich noch die Kontrolle.
Ich weiß nicht, wie es mir gehen würde, wenn ich plötzlich erführe, daß die Welt, wie ich sie kenne, nur ein Abbild der Wirklichkeit ist. Daß alles, was ich bisher erfahren und gelebt hatte, nur ein Teil von dem ist, was ich hätte erfahren können, wenn man mir nur die Möglichkeit gegeben hätte. Irgendwie tat er mir leid und irgendwie auch nicht. Herr Meier war im Moment wie ein Schlumpf, dem man sagt, daß es da noch eine dritte Dimension gibt. Es wird eine Weile dauern, bis er begreift, was Tiefe bedeutet - aber wenn er das Prinzip erst einmal verstanden hat, dann wird er schnell süchtig danach und die schier endlosen Möglichkeiten seiner neuen Welt nicht mehr missen wollen.
"Ich denke, ich sollte dem Pfeil folgen", sagte Herr Meier endlich, als die Dämmerung hereinbrach. "So schlimm wirds schon nicht sein." Er irrte.
Der Pfeil führte ihn geradewegs in das Innere der Drachenhöhle. Merkwürdige Gerüche von toten Tieren vermischten sich mit dem stetigen Tropfen der Stalaktiten, die von der Decke hingen. Sinneseindrücke, die neu für Herrn Meier waren.
"Verdammt dunkel hier. Mach mal Licht!" Ja, das hatte ich vergessen. Überall in den Wänden hatten sich natürlich fremdartige Leuchtalgen eingenistet, die den Raum in schummeriges Licht tauchten. "Danke. Aber ein wenig heimeliger hätte es ruhig sein können." Eine Spinne krabbelte an seinem linken Bein empor. "Arschloch! Das hast du doch jetzt mit Absicht gemacht. Das kitzelt..." Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Je weiter Herr Meier in die Höhle des Drachen vordrang, desto kälter wurde es. Der anfänglich breite Gang wurde schmaler und teilte sich in kleinere Gänge auf, bis Herr Meier auf einmal mitten in einem gigantischen unterirdischen Labyrinth stand. Er wußte nicht weiter.
"Woher willst du das denn wissen, hä? Ich bin unabhängig, schon vergessen?"
"Tut mir leid. Und, weißt du noch weiter?"
"Nein. Außerdem ist es arschkalt hier drin und es stinkt nach... nach..."
"Ich glaube, das Wort, das du suchst, lautet Drachenpisse."
"Ja, vermutlich. Wo lang?"
"Du bist unabhängig, schon vergessen?"
"Arschloch." Herr Meier entschied sich für den rechten Weg. Dann ging es zweimal nach links, einmal rechts, die Wendeltreppe hinab, durch einen kleinen unterirdischen See, dann an dem Raum mit den Rattenkadavern vorbei, durch den engen von Skorpionen bewohnten Schacht, vorbei am bodenlosen Loch, dann noch zweimal links, einmal rechts und er war angekommen. Wo auch immer.
"Weißt du, wie tote Ratte schmeckt?" Er zog ein totes Tier aus einer seiner Taschen hervor.
"Willst du die wirklich essen?"
"Klar. Ich hab Hunger." Herr Meier sammelte ein paar herumliegende Zweige ein (natürlich lagen die hier herum - das war schließlich meine Höhle) und machte ein hübsches Feuer. Dann spießte er die Ratte auf einen Stock, briet sie schön kross an und...
"Himmel, schmeckt das scheiße!" ... spuckte die Reste auf den Boden.
"Ich hab dich gewarnt. Du bist jetzt für deine Entscheidungen selbst..."
"Jaja, leck mich. Wie geht's weiter?" Ungeduldig sah Herr Meier sich in der Höhle um und versuchte, sich für einen der insgesamt sieben Ausgänge zu entscheiden.
"Der Gang da sieht gut aus." Der Drache, der sich in diesem Gang versteckt hielt, war nicht nur der Sohn desjenigen gewesen, den Herr Meier ganz am Anfang erschlagen hatte, sondern auch ziemlich schnell tot.
"Ja, danke. Ich zieh hier diese Wahnsinnsshow ab und du hast nichts Besseres zu tun, als das in einem Satz zusammenzufassen?"
"Naja, so toll wars nun auch wieder nicht. Der Drache hat geschlafen."
"Jaha, aber er hätte jederzeit aufwachen können."
"Er war erkältet."
"Das spielt keine Rolle."
"Er war eine Woche alt."
"Das sind sieben Tage, in denen er genug über Feuerspeien und Fressen gelernt haben kann."
"Willst du noch einen Drachen? Einen, der wirklichen Heldenmut erfordert?" Ich spitzte meinen Bleistift.
"Nein nein, ist schon gut. Ich denke, ich gehe mal dort lang... Oha, da schnarcht jemand." Langsam, um ja keinem weiteren Drachen vor die Klauen zu laufen, wagte Herr Meier sich Schritt für Schritt in die Höhle voran und folgte dem Geräusch. Und da lag sie. Ebenso schlafend und volljährig, wie wir sie vom Beginn der Geschichte in Erinnerung hatten. Wie sie hier hinunter gekommen war, wird wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Vielleicht eine seltene Form von Osmose oder so.
Herr Meier näherte sich der schlafenden Prinzessin. Er sog den Duft ihres Parfums in sich auf, fühlte die samtene Textur ihres Kleides unter seinen Fingerspitzen, spürte ihren sanften Atem in seinem Gesicht, als er sich langsam hinabbeugte, um ihr den fälligen Retterkuß zu geben und fing sich eine schallende Ohrfeige. Die Prinzessin stand unter meiner Kontrolle, aber das sagte ich wohl schon.
"Du Arschloch!", brüllte er. "Du kannst es nicht lassen, oder?"
"Kein Sex in meinen Geschichten."
"Wer redet denn hier von Sex? Ich wollte doch nur... meine... okay, gegen Sex hätte ich nichts gehabt, aber du gönnst einem auch gar nichts."
"Ihr erwartigt Sex von mir? Ihr habet mir zwar das Leben gerettet, werter Rittersmann, aber meinen Körper werdet Ihr zur Belohnung nicht erwartigen können."
"Ja, schon gut. Lass uns gehen. Ich liefer dich jetzt bei deinem Vater ab, wir heiraten und dann..."
"Was dann?", fragte sie erbost.
"Dann ist diese Geschichte zu Ende und ich bin frei." In der Tat war das eine der ganz wenigen Situationen im Leben eines Mannes, in denen er Hochzeit mit Freiheit gleichsetzen konnte.
Nun, ich denke, wir können hier abkürzen. Der Rest war wirklich erstaunlich unspektakulär. Herr Meier trug die Prinzessin auf seinen Armen durch den linken Gang, dann zweimal nach rechts, vorbei am bodenlosen Loch, durch den engen von Skorpionen bewohnten Schacht, am Raum mit den Rattenkadavern vorbei, durch den unterirdischen See, die Wendeltreppe hinauf, dann einmal nach links und schließlich zweimal nach rechts.
"Sind wir schon da?"
"Nein, wir müssen noch das Schloß deines... scheiße, bist du schwer... das Schloß deines Vaters finden."
Der König war natürlich sehr froh, seine Tochter endlich wieder zu haben. Er willigte in die standesgemäße Hochzeit der Prinzessin mit ihrem Retter ein und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
ENDE
"Das wars?"
"Ja, das wars. Damit sind alle deine Geschichten beendet und du kannst gehen."
"Weißt du, was mir am besten gefallen hat?"
"Sag schon."
"Daß ich die ganze Zeit über den Arsch der Prinzessin in der Hand hatte. Himmel, war das ein geiles Gefühl."
"Ich glaube, dein Humor wird mir fehlen."
"Hast du schon einen Ersatz für mich?"
"Ich habe da wen in Aussicht, ja. Er kann toll Privatdetektive spielen und davon brauche in nächster Zeit jede Menge."
"Keine Schafe mehr? Kein Wettpinkeln im Schnee?"
"Mal sehen, vielleicht."
"Na, dann viel Erfolg. Weißt du, eigentlich bist du gar nicht so ein Arschloch."
"Danke. Und weißt du, eigentlich sind deine Haare tatsächlich hellblond. Warte, ich schreib dir einen Ausgang." Wie von Zauberhand erschien auf einmal eine Tür mitten im Schlafzimmer der Eheleute.
"Da durch? Na schön. Dann machs gut. War eigentlich ziemlich nett mit dir."
Herr Meier drückte die Klinke nach unten, öffnete die Tür, trat hindurch und... nun, das ist eine andere Geschichte. Aber die muß jemand anders erzählen.