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Der Himmel wird rot
Wenn die Mutter morgens die Vorhänge zur Seite schiebt, steht gewöhnlich alles schon an seinem Platz. Der Kirschbaum, der Schuppen, die Berge und das Dorf. Kurz zuvor stellen sich nämlich alle ganz schnell dahin, wo sie hingehören. Denn alle wissen, wie wichtig es ist, dass jeder rechtzeitig an seinem Platz steht, weil die Mutter sonst durcheinander kommt. Aber manchmal schaffen es der Kirschbaum, der Schuppen, die Berge oder das Dorf nicht rechtzeitig, und dann kommt die Mutter ganz schlimm durcheinander. Immer wenn das geschieht, sagt sie: Oh Gott!, und ihre Augen drehen sich nach innen und sie fasst sich an den Kopf und kommt ins Wanken, und der Vater muss den Doktor rufen.
Nach der Spritze schläft sie ein. Wenn sie aufwacht, ist alles wieder gut, weil alle Zeit genug hatten, sich wieder da hinzustellen, wo sie hingehören, und die Mutter lächelt.
Den Sonntag erkennt man am Kirchenglockenläuten. Die Glocken singen dann: Der Himmel wird rot, der Himmel wird, rot, die Kleine ist tot, keine Butter, kein Brot, die Kleine ist tot, die Kleine ist tot. Der Himmel wird rot.
Nach dem großen Fest, als die Kleine zu Grabe getragen wurde, war der Himmel wirklich rot. Aber kurz vorher hat sie noch einmal die Augen aufgeschlagen und es hieß: So geht das aber nicht, tot ist tot, die Beerdigung ist bezahlt, alles ist vorbereitet, die Trauergäste haben sich darauf eingestellt. Hier kann nicht einfach jeder machen, was er will. Wo kommen wir denn da hin? Und man hat ihr die Augen wieder zugedrückt, und dann fielen die Psalme aus der Bibel und irgendjemand hat einen Besen geholt.
Draußen ist Papas Bürste zu hören, mit der er vor dem Fenster seine Schuhe auf Hochglanz poliert. Wenn die Bürste zu hören ist und die Glocken singen, weiß das Kind, dass Sonntag ist und dass es überlebt hat. Die verlorenen Seelen sind jetzt verschwunden. Sie schrumpften zusammen, wurden zu Staub und haben sich unter den Teppich verkrochen. Der Sonntag ist viel kürzer als andere Tage.
Und am Abend, wenn die Vorhänge zugezogen werden und der Tag ausgesperrt wird, kommen die Seelen wieder hervor und wachsen in den Himmel. Dann schleichen Gestalten durch das Zimmer und das Kind weiß, dass es ihnen nur entkommen kann, wenn es schneller läuft als der eigene Schatten. Weil das nicht geht, liegt es ganz still da und beobachtet die durchsichtigen Kugeln, in denen unbekannte Tiere durchs Zimmer schweben. Und es sieht die Geheimschrift auf den Wänden, die leuchtende Geheimschrift, die die Dinge beim Namen nennt. So wie die junge Nachbarin in ihren schwarzen Netzstrümpfen die Dinge immer beim Namen nannte. Immer wieder und wieder nannte sie die Dinge beim Namen, bis der Vater nachts zu ihr schlich. Und je öfter er das tat, desto stolzer wurde sie. Und je stolzer sie wurde, desto kürzer wurden die Röcke. Und je kürzer die Röcke wurden, desto lauter nannte sie die Dinge beim Namen. Der Vater aber nannte nie ihren Namen, er sagte immer nur meine Kleine. Und die Mutter wurde krank und weinte und wollte nicht mehr leben. Das Kind weiß das, weil die Mutter durch die Wände zu hören war in diesen Netzstrumpfnächten. Lieber Gott, ich will nicht mehr leben, wenn nur das Kind nicht wär.
Und dann weinte auch das Kind, weil die unbekannten Tiere in den durchsichtigen Kugeln starben und die Gestalten mit stumpfen Werkzeugen schlechte Träume in den kleinen Kinderkopf meißelten und weil die Geheimschrift an der Wand sagte: Du bist schuld. Du bist schuld. Du bist schuld.
Das Kind hat etwas herausgefunden. Der Kirschbaum, der Schuppen, die Berge und das Dorf achten darauf, ob die Mutter auch ihre Tabletten nimmt. Wenn ja, stellen sich alle rechtzeitig an ihren Platz. Wenn nicht, macht jeder, was er will und der Doktor muss kommen.
Damals, bei dem großen Fest, waren die Tabletten in der Handtasche. Das Kind saß unter dem Tisch. Die Mutter kam spät. Sie trug einen kurzen roten Rock und rote Netzstrümpfe und rote Lippen. Stolzes Rotwild. Die Meute nahm die Fährte auf. Platzhirsche machten Bemerkungen, wollten tanzen mit dem Wild, es jagen und erlegen. Aber der Vater ließ das nicht zu. Er tanzte die ganze Nacht mit der Mutter, ließ sie nicht mehr los und küsste sie immer wieder und wieder. Und seine Kleine weinte an der Theke und trank. Das Kind schlich zu ihr und legte ihr Mutters Tabletten hin. Die Kleine schluckte alle auf einmal und ging dann beten mit einer Flasche Schnaps. Am Tag darauf haben die Glocken gesungen: Der Himmel ist rot. Die Kleine ist tot.
Das Kind wacht auf. Alles steht an seinem Platz. Vor dem Fenster ist die Bürste zu hören.
Es ist Sonntag.