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Der himmlische Garten
Es war der Tag vor Heiligabend, und im Haus duftete es nach Tannennadeln.
Mama befestigte gerade die letzte Kugel am Baum, als Daniel die Kiste mit den goldenen Sternen entdeckte.
„Schau mal!“, rief er und lief mit der Schachtel zum ihr.
Mama nickte. „Ja, die hängen wir unten an die Zweige.“
„Vorsicht!“, rief Papa noch. Aber da war es schon passiert. Daniel stolperte über ein Spielzeugauto, und der Karton purzelte über den Boden.
Johannes sprang von der Eckbank und stampfte mit dem Fuß auf. „Jetzt sind sie kaputt! Kannst du nicht aufpassen?“
Daniel stand auf, und seine Stimme zitterte. "Ich wollte doch nur helfen!"
Mama nahm ihn seufzend in den Arm. „Es ist schon gut. Du bist eben unser Wilder!“
„Jetzt sind´s bloß noch Scherben!“, schimpfte Johannes. Sein Gesicht war so rot wie eine Christbaumkugel.
Papa stellte die Schachtel auf den Tisch und sah hinein. „Nichts kaputt, du Hitzkopf!“
Johannes schnaubte. Wenn Daniel nichts zerbrach, würde es Finn schon schaffen! Der saß nämlich schon unterm Baum und zog an den Engelsfiguren.
„Halt!“, sagte Mama und hob ihn auf den Arm. „Du bist noch zu klein zum Schmücken!“
Finn schüttelte den Kopf und quietschte, als wolle er „Nein“ sagen.
Johannes wollte wie ein böser Wolf knurren. Aber es klang mehr wie eine junge Katze. Und als Mama die Lichterkette anknipste, konnte er gar nicht mehr wütend sein. Es sah wirklich prächtig aus.
Er setzte sich und klaute ein Marmeladenplätzchen.
Während er aß, fiel sein Blick auf den alten Sessel am Fenster. Dort hatte Oma immer gesessen. Für einen Moment meinte er, noch den Duft ihres Tees zu riechen und das Rascheln der Zeitung zu hören.
Das Plätzchen schmeckte plötzlich nicht mehr. Er schluckte es hinunter, doch es kratzte im Hals.
„Papa“, fragte er, „Die Oma ist doch im Himmel, oder?“
Da wurde es still im Raum.
Finn biss in eine Holzfigur und machte lustige Geräusche. Aber Papa sagte nichts. Mama und Daniel vergaßen die Sterne, die sie aufhängen wollten.
Johannes begann mit den Füßen zu schaukeln. „Hab ich was Böses gesagt?“
Papa schüttelte langsam den Kopf. „Nein, nein, mein Großer. Wir haben jetzt nur alle an Oma gedacht.“
Johannes kniff die Augen zusammen, um nicht weinen zu müssen.
„Aber sie ist im Himmel, oder?“
Papa kratzte sich am Bart. „Ja, mein Großer, das ist sie.“
„Wie sieht es denn da aus?“
„Das weiß man nicht. Vielleicht wie ein Strand, an dem immer schönes Wetter ist.“
„Und feiert sie dort auch Weihnachten? Mit einem Christbaum?“
Papa lachte, und setzte Finn in die Wippe. „Ja, vielleicht hat sie sogar einen Christbaum. Und dann feiert sie mit Merle, unserem alten Kater.“
Daniel bekam große Augen. „Ist der auch bei ihr?“, fragte er.
„Natürlich ist er das“, sagte Mama. „Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Die Oma hat es schön im Himmel, und von dort oben kann sie uns gut sehen.“
Johannes wollte das gerne glauben. Aber als er abends im Bett lag, konnte er nicht einschlafen. Nebenan hörte man Daniel schnarchen, und das machte ihn fast neidisch. Er musste auch schlafen, schließlich kam morgen das Christkind.
Eigentlich sollte es ihm einen Ballon bringen, dachte er. Einen mit einem Korb darunter, groß genug, um darin zu stehen. Er würde sich am Rand festhalten und ganz hoch fliegen, bis zu Oma. Dann wüsste er, ob es ihr gut geht.
Seine Augen fielen immer wieder zu, doch plötzlich spürte er etwas.
Die Matratze bebte, als würde jemand daran ziehen. Alles begann zu schaukeln. Kissen, Decke und er selbst wurden durchgerüttelt.
„Daniel“, rief er, „Das Haus wackelt!“
Sein Bruder war sofort wach. Die Stimme klang erschrocken. „Ja! Ich glaube, ich fliege!“
Ein warmer Wind fegte durch das Zimmer. Und dann hob sich auch Johannes aus dem Bett. Das Fenster schwang von selbst auf, und sie flogen in die kalte Nacht. Unter ihnen glitzerte das Eis auf dne Dächern.
Daniel war dicht bei ihm und sah ihn mit großen Augen an. „Johannes, ich hab Angst!“
„Alles gut!“, antwortete er und nahm die Finger seines Bruders. „Ich passe auf dich auf!“
Daniel nickte und ließ die Hand nicht mehr los. „Warum fliegen wir?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das ein Zaubertrick?“ Er versuchte, den Mond zu entdecken, sah aber nur leuchtende Sterne.
„Oder wir dürfen Oma besuchen“, vermutete er.
Daniel klatschte in die Hände. „Das wäre schön! Aber warum darf Finn nicht mit?“
Sie suchten eifrig den Himmel ab, konnten den kleinen Bruder aber nicht entdecken.
„Wahrscheinlich kann er noch nicht fliegen“, sagte Johannes und wurde ruhiger. Sie würden Finn alles erzählen, wenn sie zurück waren!
Nach einiger Zeit strahlte ein großer, runder Stern vor ihnen. Er sah aus wie ein heller, gelber See. Und in der Mitte schien eine grüne Insel zu liegen.
„Sind das Bäume?“, fragte Daniel. Und tatsächlich entdeckten sie dort unten Äste, Blätter und dicke Wurzeln.
Ihre Haare flatterten im Wind, als sie hinabsausten. Eine große, weite Wiese mit Hügeln und unzähligen Blumen breitete sich vor ihnen aus.
Johannes packte seinen Bruder und schloss die Augen. Er wollte noch etwas rufen, aber dann purzelten sie durchs Gras. Daniel landete in einem Strauß dicker, roter Blumen, während Johannes mit den Knien auf der Erde bremste.
„Autsch!“, stöhnte er, „Landen müssen wir noch üben!“
„Ja, aber es hat Spaß gemacht!“, lachte Daniel und zupfte sich Blüten aus den Haaren. Neugierig blickten sie über die Wiese. Noch nie hatten sie so viele bunte Blumen gesehen. Manche reichten ihnen bis zum Kopf. Andere dagegen waren winzig. Daniel entdeckte Ameisen und Käfer, die über die Blätter wuselten. Schnell hüpfte er auf einen nahen Stein.
„Weißt du, wo wir sind?“
Johannes starrte hoch zu den Bäumen. Solche hatte er noch nie gesehen. Sie hatten bunte Blätter, die in der Sonne funkelten.
„Vielleicht ist das ein Dschungel“, murmelte er.
Daniels Augen wurden weit vor Schreck.
„Oh nein. Ob es hier wohl Tiger gibt?“
Und wie als Antwort hörten sie ein fröhliches, hohes „Miau!“
Beide zuckten zusammen. Ein kleiner Kater mit schwarz-weißem Fell und hellen Augen hüpfte zwischen ihre Beine. Die rosa Nase glänzte in seiner weißen Schnauze.
„Merle!“, riefen sie. Johannes nahm das Tier in die Arme und vergrub seine Nase im weichen Fell. Als er das gleichmäßige Schnurren hörte, musste er fast weinen. Auch Daniel hörte nicht mehr mit dem Streicheln auf.
„Lieber Merle! Wir haben dich wiedergefunden!“ Beide ließen ihren alten Kater gar nicht mehr los. Aber nach kurzer Zeit begann er zu strampeln und sprang ins Gras. Er lief ein paar Schritte, wendete den Kopf und maunzte laut.
„Er will, dass wir mitgehen!“, sagte Daniel und lief ihm nach. Als sie schon halb auf dem Hügel waren, begann auch Johannes zu rennen.
„Wartet auf mich!“ Keuchend folgte er ihnen auf einem schmalen Pfad.
Dort hingen lange, gelbe Ranken von den Ästen. Die Jungen mussten sie wie Vorhänge zur Seite schieben. Immer wieder drehte sich der Kater um und wartete.
„Er führt uns“, sagte Daniel, und Johannes nickte. „Ja, ich weiß auch, wohin!“ Sie sprangen über Wurzeln und Sträucher. Blütenstaub wurde aufgewirbelt, blau und rot. Sie husteten und niesten und waren deshalb froh, als Merle aus dem Wald heraushüpfte. Blätter raschelten unter ihren Schuhen, als sie ihm folgten.
Hoch am Himmel verbreitete die Sonne ein orangenes Licht. Ihre leuchtenden Strahlen glitzerten in einem kleinen Teich. Daneben führte ein gerader Steinweg zu einem Häuschen. Es hatte runde Fenster und eine rote Tür.Und dort saß sie. Ihr buschiges, graues Haar war gekämmt, und die blauen Augen leuchteten. Sie blickte nicht auf, weil sie gerade eine Birne naschte.
„Oma!“, riefen beide wie aus einem Mund. Und dann gab es kein Halten mehr. Beide sprangen auf die Bank und drückten die alte Frau richtig fest. Die Birne fiel auf den Boden, und Merle schnupperte neugierig daran.
Sie gab den beiden einen Kuss auf die Stirn. „Meine Enkel!“, lachte sie, „Mensch, seid ihr groß geworden!“
Daniel sprang glücklich auf ihren Schoß.
„Du bist ja gar nicht weg!“
„Fort?“, fragte sie und hob scherzend die Hände. „Nein, ich bin doch bloß hier in meinem Garten!“
Jetzt musste Johannes seine Frage stellen.
„Oma, geht es dir gut?“ Er sah sie genau an und bemerkte die rosigen Wangen. Sie war nicht krank und auch nicht älter. Und ihre Stimme war laut und kräftig.
„Mir geht’s wunderbar!“ Mit Daniel auf dem Arm erhob sie sich. Stark und gerade, ganz ohne ihren Buckel. „Mein Rücken tut nicht mehr weh! Ich hab richtig Kraft und kann sogar wieder hören.“
Und dann tanzte sie und wirbelte Daniel herum, dass er vor Freude quietschte. Johannes war so überrascht, dass sein Mund offenstand. So stark und munter war die Oma lange nicht gewesen!
Als sie sich wieder setzte, sprang Daniel aus ihren Armen und lief zu einer Blume.
„Ist hier auch das Christkind?“, fragte er, während er eine Biene verscheuchte.
„Meistens ist es in der Nähe“, antwortete Oma. „Aber jetzt an Weihnachten hat es viel zu tun.“
Johannes sprang vor Freude in die Luft. „Bringt es dir auch Geschenke?“
Oma winkte ab. „Ich brauche nicht mehr so viel. Ich hab meinen Garten und den Merle. Aber für euch hab ich noch was!“
Beide Jungen wurden sofort still und aufmerksam.
Ein Geschenk?“, flüsterte Daniel. „Schokolade?“
Oma hob geheimnisvoll den Zeigefinger. „Nein, etwas viel Besseres. Du, kleiner Wirbelwind, bekommst von mir einen Zauber.“
Daniel riss die Augen auf. „Einen Zauber?“
Oma nahm seine Hand und drückte sie sanft. „Einen Ruhezauber. Immer wenn es in dir ganz wild wird, bleibst du stehen und sprichst leise: eins … zwei … drei.“
Sie lächelte. „Bei drei legt sich die Unruhe, ganz von allein.“
Daniel nickte begeistert. Das konnte er! Er konnte sogar bis fünf zählen – der Zauber würde also ganz bestimmt funktionieren.
Oma sah Johannes an. „Dir schenke ich eine Art Medizin!“
Er streckte die Zunge heraus. „Aber die schmeckt nicht! Warum bekomme ich sowas?“
Sie streichelte beruhigend über seine Brust. „Du musst nichts schlucken. Es ist gegen deine Wut. Wenn du zornig bist, lege deine Hand hier hin. Atme ganz tief ein. Und dann wirst du spüren, wie dein Ärger verfliegt!“
Johannes fühlte sich, als würde er in eine kuschelige Decke gewickelt. Er legte den Kopf auf ihre Schulter und seufzte.
„Und was bekommt Finn?“, wollte er wissen.
Oma blickte zufrieden in den blauen Himmel. „Er hat sein Geschenk schon. Ihr werdet es sehen!“
Und dann vernahmen sie lautes Glockengeläut. Das Licht im Garten strahlte wie eine Kerzenflamme, und Oma lächelte. Die Jungen sahen ihre Zähne, die ganz gesund waren.
„Die Zeit läuft hier anders“, erklärte sie, „Ihr müsst jetzt nach Hause!“
Die Jungen drückten sich fest an sie.
„Kannst du nicht mit?“, fragte Daniel.
„Besuch uns doch!“, schluchzte Johannes.
Sie strich ihm tröstend über den Rücken. „Ich bin oft da. Ihr merkt es nur nicht immer.
Und wenn ihr mich besuchen wollt, könnt ihr mich in euren Träumen finden."
Sie wollten nicht fort, aber die Glocken wurden lauter, und das Licht heller. Sie mussten die Augen schließen, weil es so sehr blendete.
„Ich hab euch lieb!“, rief die Oma, und Johannes riss seine Lider mit aller Kraft auf.
Er lag in seinem Bett, und die Morgensonne schien durch das Fenster. Draußen läuteten ununterbrochen die Kirchenglocken.
Plötzlich sprang Daniel in sein Zimmer. „Ich hab von Oma geträumt!“
Johannes musste nicht antworten. Als sich ihre Blicke trafen, wussten sie, dass sie denselben Traum gehabt hatten.
Und als Mama herein kam, hielten sie sich glücklich in den Armen.
„Guten Morgen, Jungs!“, sagte sie, „Und frohe Weihnachten!“
Finn auf ihrem Arm begann vor Freude zu kreischen. Ein Sonnenstrahl fiel genau auf seine Finger. Es sah aus, als wolle er ihn festhalten. Dabei gluckste und lachte er. Mama sah ihm verwundert zu.
„Was machst du denn da?“
Daniel zeigte mit dem Finger auf das Licht. „Das ist sein Geschenk!“, rief er und drehte sich zu Johannes, der aufgeregt mit den Füßen trommelte.
„Ja, das ist von Oma!“ Seine Stimme überschlug sich fast.
Mama schüttelte den Kopf. Doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Papa herein. Seine Haare waren ganz zerzaust, und sein Gesicht verschlafen.
„Sagt mal, warum läuten denn jetzt die Kirchenglocken?“, brummte er, „Das machen sie doch sonst erst abends!“
Da sagte Finn sein erstes Wort: „Oma!“