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Der Humunculus

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07.06.2004
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Der Humunculus

Der Homunculus

Liebes Tagebuch,
heute waren wir im Laboratorium des Doktor Brainstorm, einem ganz außergewöhnlichen Menschen. So viel hatte ich schon von ihm gehört und gelesen, doch noch nie etwas von ihm gesehen und noch nie war ich ihm persönlich begegnet, so dass ich sehr aufgeregt war, als ich, der nur ein einfacher Student ist und dem noch so viele Semester fehlen, die Karte bekommen hatte, in der ich herzlich eingeladen worden war, einer Präsentation der neuen Erfindung des Doktor Brainstorm beizuwohnen. Oh, liebes Tagebuch, du kannst dir kaum vorstellen, wie entzückt ich war, wie hingerissen ich mich fühlte: ich, ein einfacher Student, war eingeladen worden zu Doktor Brainstorm! Nicht irgendeinem Menschen, sondern zu dem Doktor Brainstorm, meinem verehrten Doktor Brainstorm! Wie konnte das nur möglich sein? Ach, ich war begeistert!
Ärzte, Chemiker, Biochemiker und andere Gestalten der Fachwelt marschierten neugierig zum Raum des sagenumwobenen Doktors und unter ihnen auch ich. Nachdem wir durch die Tür getreten waren, eröffnete sich vor uns ein imposantes Bild. Inmitten dieses Raumes stand ein längliches Pult. Blubbern und Tropfen, ein fortdauerndes Zischen, das grübelnde Brummen eines Menschen fuhren uns in die Gehörgänge. Ein etwas saurer, gasiger Duft, dick und dunstig. Wärme presste und wir waren gezwungen, uns von den Mänteln zu befreien.
Auf dem Pult stand eine Vielzahl von Instrumenten und Gerätschaften: Ständer, die Gläser hielten; Reagenzgläser, gefüllt mit bunten Flüssigkeiten; Kolben, die mit einem Bunsenbrenner geheizt wurden, in denen der Inhalt kochend brodelte und dampfte; eine Vielzahl von Röhrchen, gebogen, doppelglasig, bunt; ein Mikroskop; eine Waage; und vieles andere, mit dem der Laie nichts anderes anzufangen wüsste, als es staunend zu betrachten und zuzugestehen, dass die Wissenschaft mitsamt seiner geheimnisvollen Mittel Großartiges zu vollbringen vermöge.
In einer anderen Ecke waren mehrere Käfige aufgestapelt, in denen sich Ratten ängstlich zusammendrängten; in einer anderen Ecke stand eine Art von Tisch, auf dem ein weit flächiges Labyrinth so montiert war, dass auf der einen Seite, dem Eingang, eine Box in das Labyrinth führte; hier sollte wohl das Versuchsobjekt, eine Ratte, hineingelegt werden. Diese Ratte sollte dann ihren Weg durch das Labyrinth zum Ausgang suchen, wieder eine Box; in diese Box war jedoch etwas Käse gelegt worden, eine Art Köder. Auf dieses Labyrinth war eine schwere Glasplatte gelegt worden, durch die zwar die Wege des Labyrinthes gesehen werden konnten, jedes Entweichen aus dem Labyrinth jedoch verhinderte. Ich war auf das Äußerste gespannt.
Neben dem Pult stierte ein Mensch grübelnd durch die Luft, der beachtliche Körperumfang war von einem sehr weiten, weißen mit bunten Farben befleckten Kittel umhüllt; graue Haare stoben ihm durchwühlt nach allen Seiten vom Kopf, als Zeugnis ungeheurer Denkarbeit; sein Gesicht war ganz gelb und übermüdet, das Gesicht eines denkenden Biochemikers, das viele Tage den Dünsten chemischer Reaktionen ausgesetzt gewesen sein, von Reaktion zu Reaktion einen immer gelberen Teint angenommen haben musste; ein Gesicht, das geradezu übermenschliche Denkprozeduren über sich ergehen lassen hatte, Prozeduren, die einfach so über es kamen; und so war Doktor Brainstorm auch bekannt dafür, dass er ein ganz außergewöhnlicher Denker war: so hatte er schon so manches Male gegen eine heranbrausende Gedankenflut zu kämpfen, so dass er überwältigt in Ohnmacht gefallen war.
Als wir alle eingetreten waren, erwachte Doktor Brainstorm aus seinen Gedanken und drehte sich uns zu. Stille kehrte ein.
„Um in media res zu gehen, liebe Freunde, ich will ihnen heute meine neuste Erfindung präsentieren, eine Erfindung, welche die Welt verändern wird.“ Und bedeutungsvoll schaute er von einem zum anderen, sein Blick traf auch meine Augen; schüchtern, voller Respekt und Demut wendete ich meinen Blick auf den Boden. „Diese Erfindung wird uns dem Ding an Sich näher bringen oder möglicherweise ganz enthüllen!“
Nachdrücklich und mit Schärfe hob er seinen Finger.
„Verstehen sie mich? Das Ding an sich! Hat die Menschheit nicht seit ihrer Existenz seine Suche immer nur nach der einen Sache ausgerichtet, nur immer in die eine Richtung gelenkt, um endlich alle Wahrheit finden, endlich hinter die Erscheinungen blicken, endlich Vollkommenheit finden zu können? Wollten wir nicht schon immer Gott oder den Göttern gleich sein? Wollten wir nicht schon immer unsterblich sein? Verstehen sie, was ich da sage? Ich meine wirkliche Unsterblichkeit! Ich meine ewige Bildung und Kultur! Ich meine ewige Stärke, das All, das Universum! Ich meine Zeus oder Gott oder wie immer sie ihn nennen wollen! Der Mensch ist Zeus! Der Mensch ist Gott! Der Mensch ist der Beherrscher des Universums!
Verstehen sie die Größe meiner Worte, liebe Freunde. Mit meiner Erfindung wird eines Tages alles möglich sein. Der Mensch wird dann über sich hinauswachsen können. Der Mensch wird durch meine Erfindung eines Tages seine Fesseln sprengen können, er wird frei sein von all den lästigen Zwängen, denen er unterworfen ist, frei, verstehen sie das?!
All sein Jammer wird dann zu Ende sein, all seine Schmerzen, all sein Grausen; er wird tatsächlich in der Lage sein, Wind und Wetter zu beherrschen, den Hunger aller Menschen zu stillen, Mord und Totschlag zu beenden, er wird wirklich kultiviert sein; Analphabetismus wird beseitigt, Dummheit wird besiegt, höhere Ziele werden uns einigen, ja wir werden frei sein; verstehen sie die Tragweite meiner Erfindung?“
Ein Murmeln und Staunen breitete sich unter uns aus. Wir hatten seine Worte akustisch sehr gut verstehen können, aber wir waren doch Ungläubige. Eine solche Möglichkeit wie sie von dem verehrten Doktor Brainstorm vorgetragen worden war, schien so abwegig, so völlig unmöglich. Mochte sein, dass der Verstand eines jeden einzelnen von uns zu klein war, um eine solche Möglichkeit überhaupt als möglich qualifizieren zu können, aber war das alles doch so unglaublich: ein vollkommener, gottgleicher Mensch?! Hier auf der Erde?
„Aber Professor, das ist doch völlig unmöglich“, entfuhr es einem, „der Mensch der so unvollkommen ist, das wissen wir doch alle, kann doch nicht etwas Vollkommenes schaffen, wie soll das gehen? Das ist doch ein Widerspruch in sich.“ Und er schüttelte verständnislos den Kopf.
„Gut, liebe Freunde, ich sehe, sie verstehen mich nicht oder bezweifeln eine solche Möglichkeit. Allerdings bemerke ich auch, dass von ihnen niemand eine solche Möglichkeit jemals ins Auge gefasst hat. Dabei ist es doch gerade die Wissenschaft, die alles, aber auch alles zunächst einmal als möglich annehmen muss. Denn das ist die Wissenschaft, sie muss optimistisch sein, sie muss Ideen haben, sie muss daran glauben, dass letztlich alle Handlungen und Ereignisse auf Naturgesetzen beruhen und dass diese Gesetze nur erst entdeckt werden müssen, um die Natur zu beherrschen. Aber sie sind doch alle Wissenschaftler, wo bleibt ihr Optimismus, verehrte Freunde? Wo ist ihr Optimismus geblieben?
Nun gut. Ich sehe ein, meine Erfindung wird schwerlich zu begreifen sein, wenn ich ihnen nicht noch nähere Angaben mache, wenn ich ihnen meine Erfindung nicht weiter darstelle und so will ich deutlicher werden, so will ich in aller Anschaulichkeit erklären.“
Er griff unter den Pult in ein Fach und nahm sich ein Paar Gummihandschuhe heraus. Diese streifte er sich über. Dann mühte er seinen schweren Körper hinüber, schnaufend und stöhnend, zur Ecke, wo die Käfige mit den Ratten standen. Er öffnete eine Käfigtür und zerrte eine Ratte heraus. Mit schlürfendem Schritt bewegte er sich mühsam zum Labyrinth. Er öffnete die Box am Eingang und steckte die Ratte hinein. Wir konnten beobachten, wie sich die Ratte ängstlich in eine Ecke drückte.
„Verehrte Herren, achten sie jetzt sorgfältig darauf, wie diese Ratte jetzt handeln wird. Diese Ratte hat seit Tagen nichts mehr zu Futtern bekommen. Sie hat also grausigen Hunger. Und sie sehen das Stück saftigen frischen Käses am Ausgang des Labyrinths. Die Ratte wird also dieses Stück Käse riechen und versuchen zum Ausgang des Labyrinths zu gelangen. Sie ist vielleicht noch ein paar Minuten ängstlich, ja, sie wird sich noch einige Zeit in die Ecke kauern, aber bald schon überwältigt sie dieser bohrende Hunger und ihr bleibt nichts anderes. Der Hunger wird ihre Angst überwältigen und...und... ja, sehen sie, sehen sie...“ Die Ratte machte sich bereits auf den Weg. Vorsicht prüfte sie hier, mal dort, dann geriet sie in eine Sackgasse, kehrte um, schnüffelte wieder, dann nahm sie wieder eine Fährte auf. Bewundernd und neugierig verfolgten wir ihre Schritte durch das Glas, nur eine kleine Weile dauerte es, dann hatte sie ihren Weg gefunden und hungrig stürzte sie sich auf das Stück Käse und in heftiger Gier schlang sie es herunter.
Analytisch zusammenfassend erklärte Doktor Brainstorm: „Sie haben folgendes gesehen, liebe Freunde: eine Ratte, hungrig und gierig ein Stück Käse zu erhaschen, suchte sich ihren Weg durch das Labyrinth. Sie handelte teils nach Trieben, teils nach Instinkt, teils aber auch nach einer ihr eigenen Vernunft. Ratten haben auch Vernunft müssen sie wissen, Ratten sind durchaus kluge Tiere. So lassen sich systematische Verhaltensweisen an ihnen beobachten; sie analysieren eine Situation, suchen nach einer Lösung, teils instinktiv, teils vernunftgemäß. Nehmen sie beispielsweise einen Giftköder. Ratten sind lernfähig. Sobald sie sehen, dass ein Tier ihrer Meute an einem bestimmten Köder und an einem bestimmten Gift zugrunde gegangen ist, so meiden die anderen Tiere diesen Köder und dieses Gift. Sie können es auslegen, wo sie wollen, die Ratten gehen nicht mehr an diesen Fraß. Die Schädlingsbekämpfung könnte ihnen ärgerlich ein Liedchen davon singen. Aber gerade diese Eigenschaften lassen diese Tiere hervorragende Versuchsobjekte sein.
Nun werden wir diesen Versuch noch einmal durchführen, nur mit einer kleinen Variation. Ich werde ein anderes Tier nehmen, dieses ist ja nun gesättigt und nutzlos; dem anderen Tier, wie sie gleich sehen werden, verehrtes Publikum, werde ich dann ein Serum spritzen.“
So nahm Doktor Brainstorm die gesättigte Ratte aus der Box im Ausgang heraus, sperrte sie in einen der Käfige und nahm eine neue Ratte heraus. Wie vom Donner gerührt war ich, als mich der Doktor ansprach, ob ich ein Stück Käse in die Box am Ausgang legen würde. Ich war in großer Verlegenheit, da ich doch nur ein bloßer Student war und so plötzlich vom hoch verehrten Doktor Brainstorm angesprochen und mit einer so großen Ehre betraut wurde. Natürlich eilte ich aber sogleich und tat, was der Doktor verlangt hatte. Während dieses Moments injizierte der Doktor mit einer vorbereiteten Spritze der Ratte das Serum. Da begann die Ratte mit einem Male heftig zu zappeln und wie wild zu quieken, fast wäre sie dem Doktor aus der Hand entflohen. Endlich aber schaffte er es, das völlig wild gewordene Tier in die Box am Eingang zu drücken.
Jetzt geschah etwas sehr Wunderliches. Wie irre sprang die Ratte in ihrer Box auf und ab. Sie schien den Käseduft wahrzunehmen und stürzte wie besessen los. Dabei quiekte und schrie sie fortlaufend, hüpfte und stieß heftig gegen die Glasscheibe. Sie stürzte weiter vor und hämmerte gegen die Wände, schien die Hindernisse gar nicht wahrzunehmen. Wir verfolgten ihren Weg. Erste Prellungen und Wunden verbeulten ihren Pelz, schon wischte sie ihr Blut gegen die Wände und die Glasscheibe, immer wieder waren diese dumpfen Schläge gegen die harte Scheibe zu hören, dieses Quieken voller Schmerz und Gier und schließlich, kurz bevor sie den Käse erreicht hatte, fiel die Ratte tot zusammen.
Ein Staunen verbreitete sich unter den Zuschauern. Es wurde geflüstert. Man wollte kaum den eigenen Augen trauen. Was war denn das gewesen? Was war in diesem Serum, dass eine Ratte nach dessen Injektion derartig jede Fassung verlor, dass man hätte meinen können, ihre Vernunft, ja, ihr kompletter Verstandesapparat wäre ihr abhanden gekommen, ausgelöscht worden? Wie konnte ein solcher Vorgang erklärt werden? Was bezweckte der Doktor mit dieser Zurschaustellung?
Etwas müde nahm der Doktor das tote Vieh am Schwanz aus der Box und warf es aus zwei Meter Entfernung mit Schwung in einen Mülleimer. Wegen dieses geschickten Wurfes konnten einige Zuschauer nicht umhin, ein freudiges Pfeifen von sich zu geben. Ich aber war Tierversuche noch nicht gewohnt und mich überkam, als ich das Tier in den Mülleimer plumpsen hörte, heftiges Mitleid. Immerhin war das Tier kurz zuvor noch ein lebendiges Wesen gewesen, das warm und auch süß zu betrachten war. Ich erinnerte mich an mein Meerschweinchen zu Hause, das ich sehr lieb gewonnen hatte und ein tiefer innerer Schmerz durchstieß mich, als ich daran dachte, auch meinem Tier könnte zustoßen, was ich eben gerade noch hatte beobachten können.
„Was haben wir gesehen? Was ist mit der Ratte geschehen?“ fragte der Doktor mit einiger Bestimmtheit und einem Gesichtsausdruck, der hohe Ernsthaftigkeit und die Bedeutung des eben betrachteten Schauspiels verriet. „Wofür die erste Ratte noch Geduld und auch Überlegung übte, war die zweite Ratte derartig von ihrer Gier besessen, dass sie alle Vorsicht beiseite ließ und wie mit dem Kopf durch die Wand zum Köder eilte. Ja, meine Herren, hier haben wir einen bedeutenden Unterschied. Sie müssen verstehen, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Serum, das ich dem Tier gespritzt hatte, und seinem so gierigen Verhalten gibt. Ja, meine verehrten Gäste, hier gibt es eine Kausalität. Jetzt will ich auch erklären, um was für ein Serum es sich handelte, das ich ihr spritzte. Es war ein Serum, das ich erfunden habe, um der Ratte alle Vernunft zu rauben, von welcher sie unter normalen Umständen durchaus besitzt. Sie sagen, dieses könne auch mit einer Überdosis Koffein geschehen oder mit einer gezielten Schmerzzufügung und dies sei nichts Besonderes? Ach, wie sie sich irren! Sie haben meine Genialität noch nicht begriffen!“
Wieder nahm der Doktor eine Ratte aus dem Käfig. Wieder spritzte er diesem Tier das Serum. Wiederum hüpfte die Ratte wie verrückt durch das Labyrinth und wieder all das Blut, Gequieke, dann der Tod und schließlich der Mülleimer. Mir wurde übel. Was war nur mit mir? Ich musste mich doch eines Tages an diese Umstände gewöhnen können. Tierversuche waren notwendig, ohne Zweifel und doch konnte ich kaum dieses Gefühl des Mitleids ertragen, das ich mit den sterbenden Tieren empfand.
Zu meinem Schrecken nahm der Doktor nun zwei dieser Tiere und bemühte sich, ihnen das Serum zu injizieren, was nämlich einige Schwierigkeiten hervorrief, weil das erste gleich nach der Injektion verrückt spielte und der Doktor alle Mühe hatte, dem zweiten bei diesem Aufstand ebenfalls das Serum zu spritzen. Dennoch war dieses auch bald getan und er drückte beide Tiere in die Box. Diesmal geschah jedoch etwas anderes. Beide Tiere, von aller Vernunft verlassen, bissen sich so heftig, dass sie schwere Wunden davon trugen und schließlich aneinander festgebissen bleiben und tot nebeneinander auf den Boden sanken. Der Doktor nahm das tote Vieh aus der Box und warf es wieder aus Entfernung geschickt in den Mülleimer, ein dumpfes Plumpsen.
„Sie sehen, verehrte Freunde, dass diese Tiere auch nicht mehr an den Kameraden denken. Sie bekämpfen sich sogar gegenseitig, nur um selbst die Beute erhaschen zu können. Sie sind derartig von aller Gier, ja, ich möchte sagen, von aller Triebhaftigkeit überwältigt, dass sie nichts anderes als den Käse verlangen, selbst wenn sie das eigene Leben lassen müssten. Sie verlangen nur noch nach dem Stück Käse. Für dieses Stück Käse tun sie alles und merken darüber gar nicht, dass sie ihren Kameraden zerfleischen.“
Ein erneutes Staunen breitete sich in der Menge aus. Triebhaftigkeit, das war ein neues Wort und das Publikum begann zu versuchen, sich insbesondere den Zusammenhang zwischen dieser Versuchsreihe und dem Wort Triebhaftigkeit zu erklären, scheiterte jedoch.
Ich selbst hatte in diesem Moment nur noch heftigere Leiden durchzustehen und hätte ich nicht unter keinen Umständen die Autorität des Doktor Brainstorms angreifen mögen, zumal es für mich eine so besonders große Ehre bedeutete, Zuschauer und Gast dieses bedeutenden Menschen zu sein, dann wäre ich sicherlich hinausgeeilt, um mich zu übergeben. So musste ich mich jedoch beherrschen, obgleich mein Magen fortwährend blubberte und eigentümliche Töne von sich gab, mir auch ein wenig die Tränen kommen wollten. Und wieder nahm er zwei Ratten, und wieder das Serum, wieder der zerfleischende Kampf, Tod, ein ausgezeichneter Wurf und Plumpsen im Mülleimer. Es war einfach entsetzlich.
„So, meine Freunde, jetzt kommt die Überraschung. Ich werde nun einer Ratte ein anderes Serum injizieren. Dieses Serum ruft eine andere Wirkung hervor. Es nimmt der Ratte so gut wie jedes Triebverhalten und erhöht auf diese Weise ihre geistigen Fähigkeiten. Das ist eine Sensation, wenn sie richtig verstehen! Eine solche Wirkung hat noch kein Wissenschaftler jemals hervorbringen können!
Lassen sie sich das bitte noch einmal auf der Zunge zergehen. Ich nehme der Ratte so gut wie jegliches Triebverhalten. Ihr wird zwar das Verlangen nach dem Käse bleiben. Sie wird aber in der Lage sein, dieses Verlangen zu steuern und zurückzuhalten. Sehen sie genau hin, was ich damit meine. Sie werden erstaunt sein. So was gab es noch nie! Nun denn.“
Doktor Brainstorm nahm eine Ratte aus dem unteren Käfig, wo sich offensichtlich die Ratten befanden, die besonders lange gehungert hatten. Das Tier war dürr, bis auf die Knochen abgemagert und es keifte und quiekte und versuchte zu beißen, wohin es nur möglich war. Doktor Brainstorm musste sich in Acht nehmen. Dann setzte er die Spritze an, stach zu und drückte die Flüssigkeit in den kleinen Körper. Einen Moment dauerte es, dann schien sich die Ratte langsam zu beruhigen und der Doktor legte die Ratte in die Eingangsbox.
Zur tatsächlichen Überraschung aller Zuschauer passierte zunächst gar nichts, die Ratte blieb an Ort und Stelle liegen, sie schien zu sterben. Doch dann drehte sie sich vorsichtig ganz langsam auf den Rücken. Plötzlich begann die Ratte mit lautem, ganz jämmerlichem Quieken. Es war ein so furchtbares Quieken, ein so herzerbarmendes Quieken; ich wollte mir meine Ohren zu halten, Angstschweiß quellte aus meinen Poren, dieses furchtbare Quieken, ich konnte es nicht ertragen, dieses entsetzliche Quieken, mein Körper zitterte, Tränen rollten mir die Wangen herunter. Konnte diese Ratte das Quieken nicht beenden? Konnte ihr niemand das Stück Käse geben? Warum tat denn niemand etwas?
Die anderen Doktoren beobachteten begierig das Spektakel, die arme kleine vom Hunger geplagte Ratte, schauten, was weiter geschehen würde, neugierig, aufgeregt, enthusiastisch. Doch ich konnte dieses herzzerreißende Quieken nicht mehr ertragen. Ich konnte nicht mehr länger zusehen, wie sich die Ratte quälte. Es war einfach nur zu entsetzlich dieses Quieken mit anhören zu müssen, einfach nur tatenlos zuzusehen, wie es sich quälte, wie sehr es an seinem Hunger leiden musste.
Die anderen Zuschauer wollten mich noch festhalten, aber ich musste diese hungernde Ratte von ihren Qualen befreien, ich musste ihr helfen; so stieß ich jeden beiseite, der mich aufhalten wollte, schlug den einen und den anderen zu Boden, hechtete zum Tisch, öffnete endlich die Box und rasch führte ich die Ratte zum Käse, den sie dann auch sogleich eifrig verschlang.
Ein Sturm der Entrüstung brach los. Ich wurde beschimpft und gestoßen. Ich hätte den Versuch zunichte gemacht, ich habe den Doktor Brainstorm sabotieren wollen, ich habe bei der Vorführung nichts verloren, solle schnell das Weite suchen.
Das Schlimmste für mich war jedoch der Gedanke, dass ich für die Versuche des genialen Doktor Brainstorm offensichtlich ungeeignet sein musste. Ich hatte mich wie ein kleines Kind verhalten, der den Tierversuch ausgerechnet wegen Mitleids zunichte gemacht hatte. Mein Kopf errötete. Was hatte ich nur getan, warum hatte ich mich nur zu einer solchen Tollheit hinreißen lassen? Die anderen johlten und verspotteten mich lauthals und aller Spott kam über mich, direkt vor den Augen des sehr verehrten Doktor Brainstorm, der mich doch zuvor ehrenvoller Weise zu dieser Vorführung geladen hatte. Ich schämte mich so sehr, dass ich mich umdrehen und den Raum verlassen wollte.
Da aber hob der Doktor Brainstorm die Hand, befahl Ruhe und erklärte: „Sehen sie, meine Freunde? Sehen sie denn nicht, was vorgefallen ist? Sie werden doch wohl bemerkt haben, wie klug diese Ratte ist?“
Ein unverständiges Brummen ging durch unsere Menge.
„Diese Ratte, verehrte Freunde, ist die wohl klügste Ratte dieser existenten Welt. Sie hat nämlich mithilfe ihrer erstaunlichen Vernunft zielgerichtet den erheblichsten Nachteil ausgenutzt, mit dem die Natur den Menschen wohl oder übel ausgestattet hat. Verstehen sie doch diese Genialität, die in dieser Ratte steckt. Diese Ratte hat nichts weiter getan, als unser unauslöschliches Mitleid auszunutzen, nichts weiter, unser Mitleid, das bei dem einen oder anderen noch ausgeprägt ist. Wie teuflisch genial der Verstand dieser Ratte doch arbeitet, wie gerissen dieses Vieh mit einem Male geworden ist, um an sein Futter zu gelangen. Dort, wo es nicht mehr triebhaft handelt, prägt sich eine ungeheurere Vernunft. Die Ratte analysierte ihre Situation, die Umstände, die sie umgaben, bis ins kleinste Detail und folgerte, traf ein Urteil und eine Entscheidung, durch logische Überlegung, nicht etwa aus irgendeinem Zufall heraus, sondern mithilfe ihrer genialen Intelligenz. Dann schlug sie zu und handelte. Sie hat daher nichts weiter getan, als Mitleid zu erregen. Ihr Mitleid, verehrter junger Freund.“
Er nickte mir lächelnd zu und wir alle konnten mit einem Male das Ausmaß, die Weite, die Sensation dieser einmaligen Erfindung begreifen. Wie konnte es möglich sein, wie konnte es bei Gott nur möglich sein, die Schöpfung derartig zu manipulieren? Wie konnte es möglich sein, dass ein Mensch, der so unvollkommen war, zu so einer genialen Erfindung gelangen konnte, welche die Welt auf phantastische Weise verändern würde? Die Ratte entwickelte Intelligenz, indem ihr Triebverhalten getilgt oder zumindest auf ein Minimum beschränkt wurde. Welch eine großgeistige Erfindung, dieses Serum, welch ein genialer Geniestreich.
Wir konnten nun noch alle beobachten, wie die Ratte bereits versuchte, sich einigermaßen zivil im Labyrinth einzurichten. Wir konnten sogar sehen, dass sie plötzlich lernte, auf ihren Hinterbeinen zu stehen und wie sie aus ihren Augen verständig und durchaus klar auf uns blickte. War das etwa ein Lächeln? Ein Grinsen? Sie wurde übermütig, ich konnte das genau sehen, sie schien uns alle auszulachen.
„Verehrte Freunde, nun schließen sie schon ihre Münder, wir sind doch noch längst nicht am Ziel meiner Vorstellung und meinen Erklärungen angelangt. Die Intelligenz einer Ratte zu erhöhen ist zwar eine großartige Leistung. Aber wer will schon eine intelligente Ratte.“ Der Doktor nahm die intelligente Ratte aus der Box, die sich um eine einigermaßen würdevolle Position bemühte, und schlug sie mehrmals mit dem Kopf auf die Tischkante bis sie tot war. Schließlich warf er sie in den Mülleimer.
„Nein, verehrte Freunde, Ratten, die intelligent sind, wollen wir nicht. Ich hoffe, dass sie allmählich die Dimension verstehen, in der ich denke. Wir wollen einen Menschen, dem der Trieb so gut als ausgetilgt ist, der mit so hoher Verstandes- und Vernunftgabe ausgerüstet ist, dass er endlich das Ding an sich erblicken, der hinter die Erscheinungen unserer Welt sehen kann, sie verstehen jetzt? Ja, wir müssen ein menschliches Wesen hervorbringen, das schon bei Geburt nur noch Vernunft hat. Ja, ich gehe sogar noch weiter: bei dem wir sicher wissen, dass schon mit seiner Zeugung nicht allein seine außerordentlichen geistigen Fähigkeiten vorherbestimmt sind, sondern ebenso seine Hautfarbe, seine Religion, seine zukünftige Gesundheit, sein Lebenslauf, seine Erfolge und seine Niederlagen, eben alles, was wir als den Menschen der Zukunft verstehen, einen genialen Menschen, einen Gott. Diese Möglichkeit ergibt sich natürlich nur durch die Manipulation von Genen. Und ich habe“, stolz blickte der Doktor in die Runde, „ja, ich habe das erste Embryo geschaffen, dessen Gene in solcher Weise manipuliert sind, dass sicher davon auszugehen ist,“ seine Stimme erhob sich laut mit leichtem Überschlag, „dass es keine Triebe mehr haben wird, die auf irgendeine Weise die Arbeit der Vernunft beeinträchtigen können.“ Rasch wackelte er zum Pult und hob, durch diesen grandiosen Erfolg in einen totalen Euphorismus versetzt, ein gülden blinkendes Reagenzglas in die Höhe: „Ja, meine Freunde, hier ist er, unser Homunculus!“

Ein großer Vorsatz scheint am Anfang toll;
Doch wollen wir des Zufalls künftig lachen,
Und so ein Hirn, das trefflich denken soll,
Wird künftig auch ein Denker machen.
Das Glas erklingt von lieblicher Gewalt,
Es trübt, es klärt sich: also muß es werden!
Ich seh in zierlicher Gestalt
Ein einzigartiges Männlein sich gebärden.
Was wollen wir, was will die Welt nunmehr?
(Goethe, Faust 2, II. Akt, im Laboratorium)

 
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Hi,

meine Meinung zur Geschichte: Naja. Die Idee finde ich gut und philosophisch interessant. Auch das Ende (Pointe) hat mir gefallen. Die Handlung und Erzählweise empfand ich jedoch weitensgehend als ziemlich zäh, weil vieles mehrmals erklärt, wiederholt und "aufgeplustert" wurde. Ich mache mir jetzt mal die Mühe und gehe chronologisch vor.

so dass ich sehr aufgeregt war, als ich, der nur ein einfacher Student ist und dem noch so viele Semester fehlen, die Karte bekommen hatte,
Wie Chrétien schon erwähnt hat, will man wirklich wissen, warum der Ich-Erzähler eine Karte bekommen hat, obwohl das so ungewöhnlich zu sein scheint. In gewisser Weise erhöht das die Spannung. Am Ende war ich leider enttäuscht, weil diese Frage nicht beantwortet wurde.
Dann beschreibst du den Dr. Brainstorm (Name wirkt unglaubwürdig, oder war das gewollt?) und sein Labor so, wie es in zehntausenden Filmen und Comics vorkommt: Ein Mann mit grauen, zur Seite abstehenden Haaren (eben ein Einstein-Klon), in einem Labor mit vielen geheimnisvollen bunt gefüllten Röhrchen. Das fand ich extrem klischeehaft und langweilig. Warum nicht mal was anderes?
Zudem reicht es, einmal zu sagen, dass er ein außergewöhnlicher Mensch ist. Aber im Text kommen alle paar Sätze Beschreibungen vor wie: verehrten Doktor Brainstorm, hoch verehrt, genialen, sehr verehrten, einem ganz außergewöhnlichen Menschen, ganz außergewöhnlicher Denker usw...

Nun stellt der Doktor sein Rattenexperiment vor. Wie üblich soll die Ratte durch ein Labyrinth laufen, und wird mit Käse gelockt (weil Ratten ja so gerne Käse mögen ;)). Von solchen Experimenten hat man schon häufig gehört, und das Gefühl des Klischeehaften wird bestärkt.
Der Doktor beginnt zu Reden, und will gar nicht mehr aufhören. Ich empfand seine sehr langen, erklärende und ausschweifende Monologe, mit etlichen rhetorischen Fragen gespickt, sehr zäh, und ich musste mich beim Lesen durchbeißen. Auch wenn es zum Charakter des Doktors passt, ergeht es dem Leser bestimmt nicht anders als einem Studenten in der Vorlesung, der vom endlosen Vortrag gelangweilt wird. Und langweilen sollte man den Leser ja nicht.
Dann werden mehrere recht ähnliche Versuche demonstriert und vom Brainstorm ausschweifend erläutert --> Langeweile.
Interessant wurde es nur an Stellen, wo wirklich was unerwartetes passierte, z.B. als ein hochmütiges Grinsen im "Gesicht" der Ratte zu erkennen war. :thumbsup:

Aufgeplustert beschrieben fand ich das Mitleid des Ich-Erzählers:

Ich aber war Tierversuche noch nicht gewohnt und mich überkam, als ich das Tier in den Mülleimer plumpsen hörte, heftiges Mitleid. Immerhin war das Tier kurz zuvor noch ein lebendiges Wesen gewesen, das warm und auch süß zu betrachten war. Ich erinnerte mich an mein Meerschweinchen zu Hause, das ich sehr lieb gewonnen hatte und ein tiefer innerer Schmerz durchstieß mich, als ich daran dachte, auch meinem Tier könnte zustoßen, was ich eben gerade noch hatte beobachten können.
Ich glaube man muss nicht erklären, warum man Mitleid mit einem willkürlich getötetem Tier hat (das mit dem Meerschweinchen würde ich weg lassen :D ).

Oder hier:

Doch ich konnte dieses herzzerreißende Quieken nicht mehr ertragen. Ich konnte nicht mehr länger zusehen, wie sich die Ratte quälte. Es war einfach nur zu entsetzlich dieses Quieken mit anhören zu müssen, einfach nur tatenlos zuzusehen, wie es sich quälte, wie sehr es an seinem Hunger leiden musste.

Was mich auch irgendwie störte war das Verhalten des Publikums. Ich weiß auch nicht, ob man ein Publikum verpersonifizieren kann, wie z.B. hier:
Ein erneutes Staunen breitete sich in der Menge aus. Triebhaftigkeit, das war ein neues Wort und das Publikum begann zu versuchen, sich insbesondere den Zusammenhang zwischen dieser Versuchsreihe und dem Wort Triebhaftigkeit zu erklären, scheiterte jedoch.
Begann wirklich das ganze Publikum, nach einem Zusammenhang zu suchen? Woher sollte der Ich-Erzähler das wissen?

Um zu einem Punkt zu kommen:
Die Idee der Geschichte ist gut. Man merkt, dass alles auf dieses eine Ende, die Erschaffung des Homunculus hinausläuft, aber leider geschieht das viel zu zäh.
Meiner Meinung nach könnte man den Text um die Hälfte kürzen, ohne dass wichtige Informationen verloren gehen. Packender und weniger quälend erzählt, würde die Geschichte mir gefallen, aber so bleibt leider ein Naja.

Viele Grüße,
Larvalis

 

Der Homunculus

Hallo,

vielen Dank, dass ihr meine kleine Geschichte durchgelesen habt. Ich werde einige der Verbesserungsvorschläge umsetzen.

Mich verwundert allerdings etwas, dass ihr nicht den satirischen Ton bemerkt habt.
Da gibt es den Doktor Brainstorm. Brain=Gehirn und storm=Sturm. Gehirnsturm.
Die Figur ist wohl mehr eine Übertreibung, eine Karikatur. Ebenso der Erzähler.
Der Student wurde wohl nur geladen, weil er noch so naiv ist und der Doktor einen Naivling benötigte, der überhaupt noch so was wie Mitleid empfinden kann.

Der Rattenversuch sollte einen durchaus hoch komplexen Vorgang banalisieren, nämlich die Erschaffung eines Menschen. Schon immer gab es Menschen, die sich über die Erschaffung, nicht über die Zeugung, eines Menschen lustig gemacht haben. Z.B Frankensteins Monster oder aber auch Goethe.

Ich weiß nicht, woran das liegt, dass diese Übertreibungen, die Karikaturen, für andere nicht lustig sind oder missverstanden werden.


Freundliche Grüße
Cipollo

 

Hallo,

Ja, der satirischen Ton ist mir leider nicht aufgefallen. Daher habe ich den Dr. Brainstorm und seine Versuche auch nicht als gewollte Karikaturen, sondern eher als klischeehaft wahrgenommen, und wie oben (vielleicht zu unrecht) kritisiert.

Der Student wurde wohl nur geladen, weil er noch so naiv ist und der Doktor einen Naivling benötigte, der überhaupt noch so was wie Mitleid empfinden kann
Ok, das ist natürlich eine Erklärung.

Schon immer gab es Menschen, die sich über die Erschaffung, nicht über die Zeugung, eines Menschen lustig gemacht haben
Da stellt sich mir die Frage, ob die Geschichte dann nicht eher eine Satire ist, da u.a. das Geschehen und die Charaktere (wie du geschrieben hast) als überspitzte Karikaturen gemeint sind.

Also bzgl. des satirischen Tones solltest du unbedingt noch andere Meinungen einholen. Oft ist es einfach nur wichtig, wie man einen Text liest.

Viele Grüße,
Larvalis

 

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