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Der Hund
Ich habe lange genug darüber nachgedacht, jetzt will ich es niederschreiben.
Ich kam an dem Ort an. Ich hatte schon Angst zu spät zu sein, als ich noch auf der Autobahn war, aber ich schien gerade mit ein paar anderen Gästen anzutreffen die ich nicht kannte. Sowieso waren mir fast alle Leute fremd. Sie blinzelten einen dennoch mit dieser unerschrockenen Höflichkeit an. Alle schnitten sie die gleichen Grimassen, eine Mischung aus falschem Lächeln und starren Augenbraun, unter denen die Augen traurig funkelten. So sahen sie alle drein. Fast alle. In ihren schönen Anzügen und Kleidern. Es war ungewohnt.
Ich ging die schlichte Steintreppe des Geländes hinauf, während ich über meine Schultern blickte ob ich nicht doch schon wen kannte. Aber nein, vielleicht im Gebäude.
Es hatte sich eine Schlange gebildet, die in das Anwesen führte, der ich mich sogleich anschloss. Seichter Smalltalk zwischen unangenehmem Schweigen hallte an dem hölzernen Dach über uns wider. Ich war absichtlich gedankenversunken, in der Hoffnung nicht daran teilhaben zu müssen.
Wie wird dieses Ereignis ablaufen? Gibt es gewisse Regeln, die ich beachten muss, ohne dass sie erwähnt werden? Bestimmt. Ist doch immer so bei diesen gesellschaftlichen Panoptiken. Am besten ich halte mich an die anderen Leute.
Da rückte die Schlange weiter.
Bald gelang ich in den Raum hinein, der wie ein Schlund die vergehende Sonne aussperrte, so wie er die vorherigen Gespräche aussperrte. Es war plötzlich so still, so ernst. Ich stand am Anfang einer hohen, simplen, aber edlen Kammer, kaum durchleuchtet. Sie begrüßte einen mit einem einzigen kühlen Windhauch, der einen beim Eintreten an den Wangen kratzte.
Es war sehr groß hier, absichtlich zu groß. Dafür kaum etwas an dem sich verlorene Augenpaare festhalten konnten, außer dem für das sich alle anstellten. Er.
Wie im Marschschritt standen wir in einer Reihe die sich langsam, aber bestimmt, in eine Richtung begab. Bald schon konnte ich erkennen was am Ende geschah. Ein simples Ritual wie es schien. Jeder hielt sich daran, es glich einem skurrilen Tanz. Ich hatte jetzt zirka dreizehn Menschen Zeit, um es mir einzuprägen.
Auf ein Knie, das Linke. Kopf senken. Was macht er mit seiner Hand? Aber sie macht es anders. Ist das bei Frauen und Männern unterschiedlich? Nein er scheint es auch so zu machen wie sie. Noch zehn Gäste, dann bin ich dran. Also, Links Rechts. Alles klar.
Als ich an der Reihe war hatte ich das Gefühl der Raum fror ein. Ich weiß nicht mehr genau was dann passierte, aber ich vollzog den Tanz, ich hoffte zu seiner und aller Genüge. Es ging so schnell, ich kann mich kaum erinnern. Ich kann auch nicht mehr genau sagen wie er aussah. Sehr schön geschmückt. Ja bunt, alle Farben leuchteten um ihn herum in fröhlich chaotischer Vielfalt. Ich blickte aber nur einen Sekundenbrauchteil hin, dann drehte ich mich um, woraufhin ich den Ersten die Hand gab. Ich hatte sie bis dahin nur flüchtig bemerkt, aber sie standen still Spalier und begrüßten die Gäste, nachdem diese das kurze Ritual aufführten. Es gab fünf von den Ersten. Vier kannte ich nicht, ich hielt mich an den formellen Händedruck und zeigte ein entgeistertes Lächeln. Die fünfte der Ersten, sie kannte ich, wegen ihr war ich hier. Sie stach heraus wie ein Heizstrahler in einem Eispalast. Warm und gewohnt, doch auch in einer falschen Welt.
Ich wusste nicht wie ich mich zu verhalten hatte. Aber als ihr warmer Blick mich empfing, fühlte ich mich zum ersten Mal, seit meiner Ankunft an diesem fremden Ort, etwas aufgehobener. Ich umarmte sie wortlos und verschwand in den Hintergrund. Ich konnte nicht bleiben, die nächsten waren schon an der Reihe.
Ich stand nun, mit den anderen Wartenden, in einem halboffenen Nebenraum, von welchem die soeben stattfindende Anfangszeremonie zu beobachten war. Die wenigen Lichtstrahlen die sich in den restlichen Saal verirrt hatten, sahen sich hier von den Schattenmassen so überwältigt, dass wir, die Wartenden, mager und passiv in der Dunkelheit standen, wie ein Chor auf der Bühne kurz bevor das Rampenlicht uns aufdecken sollte.
Nicht viel später war auch der Letzte in der Schlange fertig. Die Gäste, nicht genau wissend was sie tun sollten, lösten sich in einzelne Trauben auf. Nun hatte ich Gelegenheit mit ihr zu sprechen. Es war ein flüchtiges Gespräch aber es gab mir Halt.
Kurz darauf betrat ein seltsam gekleideter Mann den Raum. Er trug allen Anschein nach eine zeremonielle Uniform. Man sah sofort, dass er die Gäste in weiterer Folge dirigieren würde.
Er bat uns ihm zu folgen. Stumm gehorchten wir.
Der angrenzende Saal hatte die leere Mächtigkeit einer Aula. Ich kniff meine Augen zusammen als mich das Tageslicht, welches durch die enormen Deckenfenster auf uns herabschien, unvorgewarnt überfiel. Das Interior war gewohnt schlicht, dennoch majestätisch. Die starken Holzträger und die Kirschholzfassade lenkten von dem simplen Fließenboden ab, der den Saal wie ein grauer Ozean überzog.
Schnell wurde mir klar, dass es sich um eine Art Theater handelte. Etliche Reihen an Stühlen standen parallel im Raum verteilt, alle in Richtung eines großen Podests gerichtet. Die Bühne.
Zombieartig nahmen wir Platz. Und obwohl keine Sitzordnung bekannt gegeben wurde, war jedem herdengleich sofort bewusst wo er sich zu positionieren hatte. Ich stand unangepasst da und beobachtete verwirrt die stille Choreografie der Platzwahl. Sie merkte das und winkte mich zu sich. Ein Platz in der zweiten Reihe blieb unangefochten frei. Anscheinend war jedem klar, dass ich hier zu sitzen hatte. Ich war ein Ehrengast. Es war dieser Moment als ich verstand, dass jeder hier wusste wer ich war, ohne dass ich wusste wer sie waren. Eine unheimlich einstudierte Dynamik.
Nun saßen wir da, starrten einheitlich auf den roten Vorhang, der den meisten Teil der Bühne verhüllte. Stille. Der Mann im Zeremoniengewand betrat die Bühne. Er hielt ein Buch in seinen Händen. Kein normales Buch, denn es war unpraktisch groß und besonders verziert. Es musste Teil des weiteren Ritus sein. Er stellte sich an einen schmalen Holzpult, schlug das Buch auf und begann zu sprechen. Wir horchten zu.
Ich kann mich nicht mehr erinnern was gesagt wurde. Doch seine Worte waren wie ein fremder Zauber, der über unsere Häupter glitt und die Welt da draußen in Vergessenheit geraten lies. Die Gäste standen so im Einklang mit der Vibration, der Energie, die dieser Mann da oben auf der Bühne uns auferlegte, dass manche sogar seicht zum Weinen begannen. Dieser Zauber, diese bescheidene Macht ergriff jeden im Saal. Jeden außer mir.
Denn nicht bald nachdem der Mann zu sprechen begonnen hatte, fiel mir eine bestimmte Absonderheit auf, die mir davor entgangen sein musste. Eine Fata Morgana schien sich vor meinen Augen plötzlich manifestiert zu haben. Es war ein Hund.
Links neben der ersten Reihe lag ein zotteliger Mischling mit grauem Fell, braun schwarzen Flecken und spitzen Ohren, die zurückgelegt auf seinem Kopf rasteten. Es war ein schöner Hund. Er war weder reinrassig noch besonders gepflegt, jedoch hatte er eine spezielle Aura. Er strömte einen Geschmack von Honig und Sonnenlicht aus und mir schien als sei er der König aller Streuner. Seine Ausstrahlung war erhaben, einzigartig und besaß eine uneigentliche Größe. Doch weniger einem König, glich er mehr einem Prinzen. Man erkannte seine verspielte Natur, genauso wie seine Jugendlichkeit, in seinen elegant frechen Bewegungen.
Mit großen Augen schaute auch er dem Mann zu, der oben auf der Bühne seine Sprüche tätigte. Nie konnte er sie verstehen, dachte ich mir. Nicht wie die restlichen Gäste war er in des Mannes Bann gezogen. Der Hund spürte dennoch, dass seine Aufmerksamkeit diesem seltsamen Wesen da oben zu gelten hatte, ohne die wahre Natur dieser fremdartigen Zusammenkunft um ihn herum zu kennen.
Bald schon war mein gesamtes Augenmerk auf dieses faszinierende Tier gerichtet. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, doch ich hörte dem Mann auf der Bühne längst nicht mehr zu. Seine Worte wurden zu einem dumpfen Unterton.
Ich fragte mich.
Darf er denn hier sein? Weiß er, wo er sich befand? Spürt er die Macht seiner Umgebung, den Spuk in den Ritualen von uns Menschen? Nahm er diese hin und verstand sie zu leugnen oder war sein Wesen außerwählt zur fröhlichen Ignoranz?
Und wie ich dasaß und meine Fragen ersann, kam mir die Antwort. Wie aus dem Nichts machte es plötzlich Sinn für mich in diesem Köter mehr als nur ein Tier zu sehen. Ich erkannte eine Entität, weiser als der älteste Mann, klüger als der trickreichste Gauner und liebender als die fürsorglichste Mutter. All das, hinter einem Schild aus zotteligem Fell und naiv neugierigem Blick. Ich war mir dessen zu diesem Augenblick völlig sicher. Woher stammte bloß diese Eingebung?
Auf einmal öffnete sich der Vorhang und ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Langsam glitten die blutroten Stoffmassen zur Seite und offenbarten ihn. Er, der wahre Grund für unser aller Eintreffen. Noch schöner geschmückt als zuvor, ruhte er in seinem Thron. Kalt und weise überblickte er uns Sterbliche, weder richtend noch wertend. Eine allmächtige Ruhe durchzog plötzlich die Atmosphäre des Raumes. Alle schwiegen. Wir starrten ihn nur an. Voller Respekt und Ehrfurcht. Und Angst. Denn er wusste mehr als jeder Mensch wissen konnte, ging weiter als jeder Mensch gehen konnte, sah den Anfang und das Ende.
Doch auch in diesem Moment musste ich wieder nach dem Hund sehen. Nahm er die Allmächtigkeit genauso wahr wie wir? Der Hund, er gähnte. Ich konnte es nicht glauben. Diese enorme Macht direkt vor seinen Augen schien völlig irrelevant. Doch in seinem Verhalten lag weder Arroganz oder Spott noch ein Mangel an Verständnis. Der Hund wusste was geschah und antwortete mit seiner eigenen Magie. Es war ein schamanischer Kontrast, eine Dualität göttlicher Instanzen, die sich da vor meinen Augen abspielte. Und ich war der Einzige dem sie auffiel.
Denn die Gäste waren versteinert im Anblick seines Daseins, sie weinten und zuckten. Ich schien befreit von dieser Bürde. Ich sah nur einen Machtkampf zweier Wesen, zweier Philosophien.
Nicht lange danach begann sich der Vorhang wieder zu schließen. Ruhe kehrte ein. Dann ergriff der Zeremonienmeister, der sich zuvor seines Anblicks abgewendet hatte, erneut das Wort. Er löste den Zauber, lies die Hypnose vergehen. Mir wurde das klar, denn ich war nie verzaubert, der Hund hatte mich geschützt, er hatte mich gelehrt mich zu wehren. Bis heute frage ich mich ob er nur für mich erschienen ist, oder ob er für jeden kam und es eines jeden Entscheidung war ihn wahrzunehmen, sich zu wehren. Manchmal frage ich mich auch ob ich mich hätte wehren sollen.
Wir marschierten aus dem Saal, doch ich ließ einen Teil von mir darin zurück. Der Hund lief stolz neben mir her, wie ein wachsamer Schutzpatron. Er hatte mich erkannt.
Draußen schien jetzt die Frühabendsonne. Wärme machte sich auf meinen Wangen breit.
Der Hund rannte fröhlich bellend in die anliegende Wiese und wälzte sich im Gras. Er spielte. Er spielte mit den Sonnenstrahlen und den Blumen und der Frühlingsbrise und er feierte seine Freiheit. Denn es war ihm egal was geschah und es war ihm egal was geschehen wird. Es war egal.
Mein Vater war tot und es war egal.