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- 22.12.2008
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Der Junge, Ich und der Alte
Die reine Schwere der Luft erdrückt. Die kunstvollen Fresken an der Decke, der persiche Teppich am Boden, die handgemalte, rot-schwarze Tapete. Alles mit viel Liebe zum Detail. Alles mit so viel zuviel. Und dazwischen alle drei. Davon einer ich, daneben der Junge und der Alte. Und alle die ein und dieselbe Person. Wir drei glänzen golden im Licht der Kerzen vom Kronleuchter an der Decke. Der Junge niest, nuschelt in seinen Taschen, findet ein Taschentuch und schneuzt sich die Nase. Hätte er sich doch die Hand vor den Mund gehalten. Wie ein feiner Nebel hängen die Wassertröpfchen über dem Tisch an dem wir uns versammelten. Der Junge ist mir bekannt. So habe ich mal ausgesehen. Der Alte hat sich bis jetzt noch nicht gerührt. Seine Augen sind trüb, sein Atem schwer. Seine beiden Hände liegen auf dem Tisch zu Fäusten geballt. Sie versprühen eine krampfhafte Energie, die in diesem Greis gebannt ist. Was ist bloss passiert? Ich kenne den doch auch? Das bin ich und ich und ich. Meine Mundwinkel zucken nach oben, ich schüttle meinen Kopf, schlage mit beiden Händen auf den massiven Eichenholztisch und schreie: "Ich werde es niemals schaffen!" Der Junge schreckt zurück, der Alte fängt an zu lachen. Zuerst verhalten, dann laut, bis ihm schliesslich die Tränen kommen. Plötzlich, im kleinsten Augenblick, bricht Totenstille über uns herein. Der Alte nimmt mich ins Visier fokusiert mich von Angesicht zu Angesicht. Die Runzeln auf seiner Stirn verwandeln sich in tiefe Furchen, sein Blick lässt mich erkalten. In seinen Augen steckt soviel Hass, soviel Verzweiflung, soviel Mut zum Untergang. Und er spricht: "Wir haben es nicht geschafft, wir sind an uns selbst gescheittert und du bist schuld." Jetzt erst bemerke ich, der Junge weint. Ich frage: "Was hast du?" Er schaut mich verstört an, in leisem Ton flüstert er mir zu: "Ich kenne euch nicht. Ich werde niemals so sein wie ihr." dann nach einer Pause: "Wieso bin ich überhaupt hier?" Gute Frage, denke ich. Helles Köpfchen. So war ich auch mal. Vieles ist passiert seit damals. Ich mustere den Jungen. Er hat rehbraune, leuchtende Augen. Meine Augen. Sowie meine Nase, meine roten Wangen, sogar die gleiche Asymmetrie mit der Zahnstellung. Verblüffend. "Wer seit ihr?" wimmert der Junge wieder los, "wieso bin ich hier?". "Wir sind offensichtlich du" brummt der Alte. Meine Gedanken werden zu Worten, "wir sind hier, das ist es wohl. Hier sind wir nunmal. Der wahrscheinlich einzige Grund. Viel mehr kann man dazu nicht sagen. Hier zu sein ist nicht falsch." Die Worte verhallen.
Die Atmosphäre erhellt sich. Die Szenerie wird in sanftes Weiss getaucht. Und wie von weit her dringt die wundersamste Musik zu uns. Da singen Stimmen in einer Sprache wie wir sie noch nie vernahmen. Sie singen laut und klar, unsere Herzen öffnen sich und jeder von uns drei erhebt sich wie von selbst, fängt an zu wippen und wir singen in dieser unausprechlichen Sprache die immer gleiche Zeile: "Sorge dich nicht solange du lebst, wenn du lebst." Da war meine Angst und meine Angst war da. Und ich sang: "Sorge dich nicht solange du lebst." Ich verstumme und höre den Jungen und den Alten wie sie für mich die Zeile im Chor beenden:"denn du lebst!" und ich spüre, dass ich immer noch lebe! Ich umarme den Jungen und sehe wie der Alte seit langem wieder sein Lachen gefunden hat. Da ist immer noch mein Leben. Und meine Angst zu scheitern, sie ist immer noch da. Aber zu wissen, dass es nicht darauf ankommt und das ich immer noch hier bin und dass es diese Angst ist die mich lähmt, verschafft mir diesen wunderbaren Augenblick einer ungetrübten Aussicht. Ich sehe den Alten, wie er seinen Stock schwingt und jetzt Arm in Arm, wie trunken, mit dem Jungen durch das Zimmer hüpft. Meine Vergangenheit, meine Zukunft und ich, diese innere Kraft, diese treibende Autorität. Dieser Moment, die wunderbare Herrlichkeit aller Existenz und die kurze Zeit die ich habe um am Himmelszelt meine Bahn zu ziehen um am Ende wie ein pyrotechnisches Wunderwerk meine ganze Funkenkraft für eine ewig lange Sekunde am Himmelsdach zu celebrieren um sofort wieder vom sanften Licht der Sterne aufgesogen zu werden. So ist die Ewigkeit dem Himmlischen und die Zeit den Menschen. Die Stimmen wie von weit her verstummen, der Junge und der Alte werden als Traumbilder zu Zerrbildern und verschwinden im Morgengrauen. Das Leben hat mich wieder!