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Der Köder im Spiel
Ich liege wach und warte darauf schlafen zu können. Der Schlaf ist etwas, das ich mir hart erarbeiten muss. Er kommt nicht einfach über mich, ich muss einen grausamen Marathon durchlaufen, bevor mein Bewusstsein langsam an Helligkeit verliert und in dunkle Tiefen gleiten darf. Dort vereinigt es sich, das Bewusstsein mit seinem Bruder Unbewusstes und zeugt Kinder der Nacht- Träume, Quellen der Inspiration, Orte ausgelebter Obsessionen.
„Was mache ich hier? Hallo!“
Aurel fuchtelt mit der Hand vor mir rum.
„Ist ja gut.“, fauche ich.
„Mit dem Kopf schon wieder in den Wolken? Welche Formel muss ich denn hier anwenden?“
„Frag nicht mich.“, sage ich und nehme meinen Stift, um irgendwas zu tun, und beginne das Datum rechts oben auf mein ansonsten leeres Blatt zu notieren.
Wie flüchtig blicke ich zur Seite, sehe ihn ihm Profil, angestrengt über die Aufgabe nachdenkend.
Blond und Blauäugig, ein verdammtes Klischee, immer lächelnd- Sunnyboy im verregneten Herbst.
„Ah, ich hab’s.“, sagt er, blickt auf, und schaut mich an, mit diesem breiten, weiße Zähne zeigenden Grinsen - du Arschloch.
„Immer diese gut gelaunten Menschen...“, sage ich grimmig und schaue ihn nicht mehr an.
„Ja, ist doch gut, oder nicht?“, fragt er, und sieht mich an, sodass ich es nicht ertrage, seinen Blick nicht zu erwidern.
Ich ringe mir ein gequältes Lächeln ab, leide darunter, immer den Genervten vor Aurel spielen zu müssen. Aber ich sollte es wirklich weiter tun.
„Komm schon. Immer positiv in den Tag gehen.“
„Bei dem Wetter?“ Es ist nicht das verdammte Wetter das mich stört, aber was soll ich ihm schon sagen.
Dann ist die Stunde vorbei, ich packe meine Sachen ein und mache mich ohne noch was zu sagen auf den Weg in eine Pause, die ich allein verbringe.
Es ist weniger so, dass es mich stört, keine Freunde zu haben, mehr sind es die anderen, und deren Mitleid oder Spott. Ist man allein, wird man schief angeguckt. Das ist es, was mich stört, kaum, dass ich niemanden zum Reden habe, was so nicht mal richtig ist: Ich habe mich. Und mit mir kann ich kontroverse Diskussionen führen. Ab und zu ein bisschen Schizophren, aber doch nie unangenehm.
Ich bin gar nicht fähig mich so, wie ich es mit mir alleine tue, mit anderen zu unterhalten. Ich werde unruhig, nervös und habe Angst zu stolpern, zu stolpern über verquerte Sätze und Argumente, werde hysterisch und kriege grundlose Lachanfälle, die ein Psychoanalytiker als Kompensation von… ja, von was auch immer deuten würde.
Manchmal ist es die Hölle. Die verdammte Hölle niemanden zu haben. Mit siebzehn noch nie geliebt worden zu sein, zu wissen, dass einen keiner in den Ferien und am Wochenende vermisst oder sehen will.
Aber ich gebe keinem die Schuld, auch nicht mir, es ist die ganze Situation: Ich passe nicht, aber sie passen auch nicht zu mir- Unglücklich, aber nicht zu ändern. Weitgehend wird man in Ruhe gelassen, manchmal dumme Sprüche, subtile Andeutungen, man weiß, dass sie dich meinen, aber mehr auch nicht. Ich komm klar.
Wie andere mich sehen, war mir auch klar- bis Aurel kam. Sunnyboy. Und dann kamen wir ins Gespräch miteinander. Beinahe ist mir so, als sähe jemand zum ersten Mal meine Brandmarkung als Außenseiter nicht.
Natürlich kommen mir Zweifel. Gesprächsfetzen, die ich aufschnappe, wenn er mit anderen redet. Es ist abgemacht. Irgendwas ist abgemacht, er soll sich mit mir anfreunden, die anderen haben ihm die Informationen gegeben, wie man mit mir umzugehen hat. Die Gemeinsamkeiten konnten gar keine echten sein. Das wäre zu viel gewesen. Seit dem gehe ich auf Abstand- etwas,das sein muss.
Sie sollen nicht denken, ich bekäme nicht mit, wie sie mich mit dem Köder Sunnyboy blenden und in die Falle locken wollen.
Wenn ich es ausspreche, und das Für und Wider meiner Verschwörungstheorie abwäge, gibt es Momente des Zweifelns aber: Wieso, wirklich, wieso sollte einer wie Aurel mit mir reden? Sich für mich interessieren? Und warum sollte es ihnen nicht einfallen, den dummen Jungen mal aufs Maul fliegen zu lassen, und zwar richtig. Und dann stehen sie alle um mich herum und lachen, wenn ich mir die Zähne ausgeschlagen habe.
Nein.
Die Pause ist vorbei.
Auch wenn ich Angst vor den Stunden habe, in denen Aurel neben mir sitzt, reizt mich etwas daran, und das ist es noch, was mir Unbehagen bereitet.
„Ich hab gestern einen ziemlich guten Film gesehen.“, sagt er, und ich nutze die Gelegenheit, sein Gesicht zu betrachten, während er erzählt.
Mein Blick fährt über seine Züge, es liegen Weichheit und Markanz dicht nebeneinander, er hat etwas vollkommene Güte versprechendes, gepaart mit einer unermesslichen Kraft- etwas erzengelhaftes.
„Schön dass nicht nur ich neben der Spur liege.“, sagt er lachend und sieht wieder nach vorne, „Hast es nicht so mit dem Zuhören, was?“, fügt er mir einen Seitenblick zuwerfend hinzu.
Meine Finger hinterlassen feuchte Spuren auf der Tischplatte. Mit dem Ärmel wische ich darüber, und lege meine Hände jetzt auf meinen aufgeschlagenen Block. Ohne den Ausführungen des Lehrers zu folgen, schaue ich an die Tafel. Formeln, Zahlen, Zeichen. Ich blicke auf meine Hände, die in einem Haufen zerknittertem Papier wühlen.
„Was machst du da?“, er sieht mich mit gerunzelten Brauen an, dieser Schönling.
Ich weiß, dass jetzt nur noch den Wahnsinnigen spielen hilft- so eskaliert alles, was ich anfange immer- ich muss einfach nur etwas vollkommen Unzusammenhängendes sagen.
Ich reiße die Augen weit auf. „ Offenbarung 20,1-20,2: Und ich sah einen Engel niedersteigen aus dem Himmel, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand. Er ergriff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und der Satan, und fesselte ihn auf tausend Jahre.“
Ich sehe ihn atemlos, warum auch immer mir die Luft jetzt fehlt, an und erstarre, als er mir mit der Hand auf die Schulter klopft. Ich fahre nach einem Moment herum und reiße alle zerknitterten Blätter und noch mehr aus dem Block, sodass die Klasse verstummt und sich alle nach mir umdrehen.
„Alles okay …“, japse ich und grinse wie dämlich. So dämlich, dass es schon dähmlich ist.
Ich werfe einen Blick neben mich, und er sieht mich an, als nehme er mir nicht übel, was ich tue. Im Gegensatz zu den andren, die genug von ähnlichen Eskapaden wie dieser haben.
Es ist im Sportunterricht. Mein persönliches, allwöchentliches Armageddon. Und die Könige der körperlichen Ertüchtigung kommen nur zusammen, um mich zu besiegen, mich wie das Tier, die Schlange in Ketten zu legen. Ketten der Scham, die mich lähmen und in meiner Handlungsfreiheit behindern. Ich hasse den Sportunterricht, verdammt.
Fitness- Das macht mein magerer Körper nicht mit. Im Gegensatz zu Sunnyboys Leib, der goldenen Sonne am Himmel der Schülerschaft.
Da steht er, sich dehnend, beugt sich mit dem Oberkörper vor, ist leicht verschwitzt und fährt sich im Aufrichten durch sein leicht wirres Lockenhaar, welches an den Schläfen feucht glänzt. Sein angestrengter und konzentrierter Blick, diese starken Hände, Arme, deren Muskeln bei Anspannung delikat anzusehen hervortreten- genauso muss er aussehen, wenn er mit jemandem schläft.
Ich drehe mich um und hinter mir steht Aurel.
„Hey!“, sagt er mit seinem Lächeln.
„Sag mal, bist du irgendwann auch mal schlecht gelaunt?“, frage ich grimmig und will weitergehen.
„Grade nicht.“, raunt er mir ins Ohr, und ich kann nicht sagen, wie er mir so schnell so nah gekommen ist. Ich blicke mir über die Schulter und sehe in Augen die sagen: „Spiel mit mir.“
„Du, Aurel…“, setze ich an und muss ihn sehr verwirrt ansehen, „Was soll das jetzt?“
Erst jetzt wir mir gewahr, dass wir in einem Wald sind. Da ist eine Lichtung mit einem Teich in der Mitte. Die symmetrische Anordnung der Bäume lässt vermuten, dass es sich hier nicht um einen Zufall handelt.
„Machen so was Landschaftsgärtner?“, frage ich, und will mich nach Aurel umdrehen, stelle jedoch fest, dass dieser nicht mehr hinter mir steht.
Eine Weile schaue ich in den Wald hinein und bin weiterhin fasziniert von der sich hier fortführenden Ordnung der Pflanzen.
Ob man in dem Teich schwimmen kann? Als ich mich umdrehe erschrecke ich mich, dass die Hand auf der Brust landet, unter der ich mein unregelmäßig schlagendes Herz spüre.
Da steht er:
Aurel- Rücken an Rücken mit -Aurel
Da steht er:
Sie sehen mich beide nicht an. Sie sind beschäftigt, einer knöpft sich sein Hemd zu, der andere auf.
Es sind diese teuren Hemden, bestimmt keine für dreißig Euro, nein, der Schnösel muss natürlich welche für hundertachtzig haben. Unglaubliche Preise, die ich im Leben nicht- beide blicken sie mich plötzlich an, von ihrer Handarbeit nicht ablassend. Ihre schönen Hände, die Finger, die einen Knopf nehmen und ihn sanft durch das Loch im Stoff gleiten lassen, herein und heraus.
Wunderschön die Brust, die sich bei dem einen offenbart, bei dem andren langsam unter dem Stoff verschwindet.
Sie sind synchron, vollkommen, sind gleichzeitig in der Mitte, nur fahren sie fort in entgegengesetzte Richtungen, die Richtung aus der sie kamen.
Von oben herab kommt der eine, der sich vor mir entblößt, er kommt vom Himmel herab, lässt mich sehen seine leicht braune und ebenso muskulöse Brust.
Aus der Hölle steigend, in den Himmel hinauf und sich mir verschließend kommt der andre, und ich begreife. Das ist der Aurel, der echte Aurel, der, welcher sich mir eigentlich entziehen möchte, der sich vor mir ekelt, aber den Freund spielen muss, um am Ende im Himmel des Lachens anzukommen.
Es ist eine Ambivalenz in diesem Spiel, das er mit mir spielt.
Sie kommen zum End und bewegen sich voneinander weg, da erkenne ich, dass sie genau in der Mitte der Distanz zwischen mir und dem Teich standen.
Der nackte Aurel schreitet auf mich zu, der sich mir Verschließende zum Teich.
Ihre Schritte wie ihre Bewegungen- immer gleichzeitig.
Er lächelt, er kommt mir immer näher, dieses Lächeln auf seinen Lippen, und über seine Schulter sehe ich kurz bevor er mich küsst, den anderen Aurel einen Sprung in den Teich ansetzend.
Dann spüre ich Wärme und höre das Eintauchen eines Körpers in Wasser.
Ich wache auf und weiß, dass alles jetzt ein Ende haben muss. Sie haben mich, sie haben ihr Ziel erreicht, aber ich werde es sie nicht wissen lassen.
Irgendwann redet er immer weniger mit mir. Sein Interesse und seine scheinbare anfängliche Begeisterung für mich verebben. Sie werden gemerkt haben, dass der Plan, wider ihrer Erwartungen, nicht aufgeht. Ich habe den Köder erkannt und schwimme an ihm vorbei. Nicht mit mir.
Nein.
Die Pause ist vorbei.