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Der kühle Freund
Schon lange stand der alte Kühlschrank an seinem angestammten Platz. Ein wenig rostig war er schon an seinen Rändern, auch etwas eingebeult im weiß lackierten Blech, das ihn einst gepflegt und attraktiv erscheinen ließ. Sein ehemals blanker Öffner abgegriffen und stumpf, die Dichtungen der Tür, fettig und porös schlossen seine Kälte schon lange nicht mehr richtig ein. Über eine tiefe, fette Schramme an der Tür hatte Toni ein Bild geklebt, seine Tochter hatte es gemalt, damals, als sie noch sehr klein war, gerade zur Schule gekommen. Ein dicker, wirklich sehr runder Mann in einer senkrecht stehenden Kiste war darauf zu sehen. Blau mit gelben Sternchen in den schütteren Haaren starrte er jeden Vorübergehenden mit frostiger Kälte an.
„Wie schön.“, sagte Toni zu seiner kleinen Tochter, „Wer ist das?“ Es lief ihm langsam eine eisige Gänsehaut über den Rücken, krabbelte seine Arme hinunter, stieg seinen Nacken hinauf, bis die kleinen, kringeligen Härchen sich dort aufstellten, als wollten sie ihm etwas Wärme schenken.
Nele lächelte ihren Vater an. „Du, Papi!“, rief sie. Dabei hatte sie ihn fest in Höhe seiner Oberschenkel umarmt, weiter reichte sie damals noch nicht herauf. Dann nahm sie seine große, kräftige Hand und gab ihm einen schmatzenden Kuss darauf. „Schön, nicht?“
„Ja, ähm, wirklich, sehr schön. In der Tat, Kleines.“ Toni nickte betroffen und versuchte ein zaghaftes Lächeln. „Danke dir, meine Süße.“
So also sieht sie mich, dachte er. Aber ich bin doch schlank und sportlich und nicht so ein Fettsack, wie der Kerl da auf dem Bild. Wie oft hatte er mit spitzem Finger spöttisch lächelnd auf diverse ziemlich dickliche Leute gezeigt und seiner kleinen Nele bedeutet: „Ätzend, nicht wahr? Wie kann man nur so undiszipliniert sein, ich glaubs ja nicht. So etwas könnte mir nie passieren, ist ja ekelhaft!“
Nele schaute ihren Vater misstrauisch an. „Doch, das bist du wirklich, ehrlich. Auch wenn es dir noch nicht so ähnlich sieht. Kannst du aber ruhig glauben Papi, das wird noch.“
„Ist schon gut, mein Kind, ich finde deine Zeichnung wirklich sehr schön. Doch sag mir eines: Warum bin ich so dick?“
„Er hat es mir gesagt!“, antwortete die Kleine und hatte keck mit ihrem dünnen spitzen Finger auf die Kühlschranktür gezeigt.
Kinder! dachte Toni und ein breites Lächeln entstand in seinem Gesicht. Woher nehmen sie nur ihre Fantasie?
Die Jahre vergingen, Nele war schon lange groß, war ausgeflogen und managte ihr eigenes Leben. So lebteToni schon seit geraumer Zeit allein in seiner Wohnung und hatte schon seit Langem das Kühlschrankbildgespräch vergessen. Immer noch klebte das Bild auf der Tür des alten Frosters, ein klein wenig vom Zahn der Zeit angenagt, jedoch merkwürdiger Weise mit ungebrochen leuchtenden Farben. Mitunter hatte Toni das Gefühl, die Augen des Dickerchens in der Kiste verfolgten ihn. Er schüttelte dann den Kopf, zuckte mit den Schultern und beachtete es nicht weiter. Bis – ja, bis eines Abends der Dicke ihm zunickte. Toni stutzte. Noch mal und noch mal sah er auf den Mann, den seine Tochter ihm vor langer Zeit geschenkt hatte.
„Du hast Langeweile, nicht wahr?“ Toni sah ungläubig um sich. Hatte er etwa Halluzinationen? Doch nein, leise aber deutlich hörte er ein schadenfrohes Kichern aus dem Kühlschrank kommen.
„Ich glaub, ich werd bekloppt!“, murmelte er vor sich hin und schüttelte wieder kaum merklich seinen Kopf.
„Nein, trau dir und deinen Augen nur, Toni, alter Freund. Es stimmt schon: Ich spreche zu dir. Du bist genervt und langweilst dich, nicht wahr? Vergiss es, das brauchst du ganz gewiss nicht zu sein! Du hast mich, Toni, ich bin dein Freund. Komm, öffne mich. Ich werde dich verwöhnen. Denn niemand kann das so gut wie ich. Los mach schon, trau dich.“
Wie von magischen Kräften angezogen, griff Toni zum abgewetzten Öffner des Kühlschrankes und zog die Tür langsam auf. Leise saugend und schmatzend entstand erst ein kleiner Spalt, doch mutig entschloss Toni sich, es zu wagen und den Kühlschrank weit zu öffnen. Flackernd und holpernd begann die kleine Glühbirne matt zu leuchten, bis sie dann endlich strahlend helles Licht auf all die kühlen Kostbarkeiten im Innern des Schrankes warf.
„Ah ja, da ist ja noch der Käse von gestern!“, kicherte Toni, nahm ihn heraus und biss herzhaft in das handgroße Stück hinein.
„Hey, mach dir noch ein wenig Butter drauf, du kannst es dir ja leisten, so dünn wie du bist.“, raunte der Kühlschrank ihm zu. „Na los, das schmeckt viel besser.“
Toni nickte. „Toll!“, kicherte er in sich hinein, schmatzend und mampfend, und er schluckte den Käse schlingend und halb zerkaut hinunter. Lecker, dachte er, gar nicht schlecht. Er wunderte sich überhaupt nicht mehr über die Magie, die der alte Froster auf ihn ausübte, er genoss einfach das Aroma des würzigen Käses und den kühlen, milden Geschmack der Butter, die seine Zunge geschmeidig umgarnte.
„Wie kann es nur sein, dass du mit mir sprichst? Wer bist du?“, fragte der emsige Esser mit vollen Mund kauend und um sich her krümelnd.
„Ich bin dein Freund, der Geist des Kühlschranks.“, wisperte es leise aus dem Eisfach heraus. „Ich meine es sehr gut mit dir. Komm, ich habe noch Schokoladeneis für dich. Nimm es dir. Und schau nur, in der Tür steht eine Dose Sprühsahne. Äußerst delikat. Das geht bestimmt noch rein. Du bist ja sooo schlank, es schadet ganz sicher nicht.“
Toni zuckte mit den Schultern. Niemand war bei ihm, was sollte es also. Keiner würde ihn verwundert ansehen und sagen: „Hey, merk mal was! Dein Kühlschrank und du, ihr unterhaltet euch. Biste plemmplemm?“
Er ignorierte seine logischen Gedanken und stopfte Käse und Butter, Eis und Sahne in sich hinein, begoss das Ganze noch mit einem kühlen Bier, nickte zufrieden rülpsend und schloss dann die Tür. „Stimmt!“, sagte er laut, „Du bist mein Freund!“. Toni kicherte, räusperte sich noch einmal und ging dann schlafen. So gut hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Ein paar Tage später, Toni erinnerte sich immer noch verwundert lächelnd an sein in der Tat utopisches Erlebnis, konnte er ein klares, fröhliches Pfeifen hinter sich hören. Gerade war er durch die Küche gehastet, um sich noch rechtzeitig in seinen bequemen Fernsehsessel plumpsen zu lassen. Die Sportschau! Die wollte er auf keinen Fall verpassen.
Toni stutzte und sah sich um. Tatsächlich: Die dicken, wulstigen Lippen gespitzt, pfiff der Mann auf dem Kühlschrank hinter ihm her. Seine Augen hatte er demonstrativ zur Küchendecke gedreht, ganz genau sah Toni das verschmitzt listige Lächeln darin.
„Hey, seit wann pfeifst du hinter mir her? Du spinnst wohl, du kannst nicht pfeifen. Außerdem hab ich keine Zeit für dich, ich will die Sportschau sehen.“ Ein wenig verärgert, sehr ungläubig und doch zunehmend erstaunt polterte Toni das Bild an, obwohl es ihm im gleichen Atemzug peinlich war. Wer redet schon mit einem Bild am Kühlschrank?
„Na komm schon, sei nicht so spießig, mein Freund. Die bringen sowieso erst Eiskunstlauf, das interessiert dich eh nicht. Fußball und Formel eins haben noch zehn Minuten Zeit, also, komm schon, öffne mich! Ich habe den vollen Genuss für dich. Damit ist dein Sport noch viel besser zu genießen.“
Stimmt, dachte Toni, warum auch nicht! Beherzt öffnete er den Schrank. Erdbeeren! Na, die machen ja nicht dick. Ein wenig Sahne drauf vielleicht, das wäre bestimmt sehr lecker und wem täte es schon weh?
Toni konnte sich nicht daran erinnern, diese Köstlichkeit dort deponiert zu haben, doch was sollte es? Er spürte, wie ihm langsam der Speichel im Mund zusammen lief und schluckte.
„Sieh nur!“, raunte es aus dem Eisfach, „Eine dicke American Pizza mit Salami und Champignons. Darauf noch etwas Kräuterbutter und dann die Erdbeeren zum Nachtisch. Zier dich nicht, in der Mikrowelle geht das ganz schnell mit der Pizza, das merkt kaum einer.“
Unglaublich! Im Eisfach lag die dicke, fette Pizza und lächelte Toni zu. Es war wie ein Zwang, er musste diese Kalorienbombe einfach haben. Vier Minuten in die Welle, das passte, der Bericht über das Länderspiel würde nicht ohne ihn beginnen.
Sabbernd, mit zitternden Fingern, stand Toni vor dem Gerät, konnte kaum erwarten, dass die Pizza fertig würde.
„Nimm dir noch ein Bier mit!“, forderte der Kühlschrankgeist Toni auf. „Und schmeiß noch etwas Käse auf die Pizza, das schockt!“ Toni tat wie ihm geheißen, er konnte sich nicht gegen die Stimme aus dem Froster wehren, achselzuckend beschloss er, es als normal zu erachten, einen Kühlschrank zum Freund zu haben. Sein Freund tat ihm gut, das wusste er genau!
„Wie gut, dass ich allein bin.“, murmelte Toni vor sich hin und grinste. Schmatzend und mit Fett triefenden Fingern stopfte er die Pizza während der Sportschau in sich hinein, schnell kauend, schlingend, wer brauchte schon Messer und Gabel? Ab und zu spülte er mit einem Schluck Bier den halb zerkauten Brei herunter, ein herzhafter Rülpser entfuhr ihm hin und wieder, die kleinen Rinnsale, die aus seinen Mundwinkeln liefen, vermischt mit etwas, wirklich nur sehr wenig Käse, wischte er zufrieden mit dem Ärmel seiner Joggingjacke ab. Schnell noch die Erdbeeren: Prima! Es ging ihm wirklich sehr gut. „Noch ein Bier wäre nicht schlecht!“, kicherte er, stand aus dem Sessel auf, wischte die Pizzabröckchen von seiner Hose und sah ihnen mit Schulterzucken hinterher. Staubsauger? „Morgen ist ja auch noch ein Tag!“, dachte er satt und träge, die sind dann bestimmt auch noch da.“
„Oha!“ Direkt neben dem Bier stand ein Megapack Vanillepudding!
„Für dich, mein Freund, säuselte es aus den Tiefen des Schrankes. „Es soll dir an nichts fehlen. Ich mag dich!“
Toni schnappte sich den Pudding, und wie zufällig – die Packung konnte er gerade noch auf dem Puddingbecher transportieren – griff er einen Krabbencocktail mit verführerischem Mayonaisedressing: Der musste unbedingt auch noch verhaftet werden. Klar, nun erst recht noch ein Bier, Fisch sollte ja bekanntlich schwimmen, oder? Behäbig und voll Vorfreude auf diesen exzellenten Gaumenschmaus schlurfte Toni in sein Wohnzimmer. „Hmmmm... Fantastisch.“, murmelte er vor sich hin, als er mit noch halbvollen Mund auf dem Sofa einschlief.
Wer jetzt denkt, dass unser emsiger Esser ein schlechtes Gewissen hatte, der ist in der Tat im Irrtum. Toni genoss seine neue Freundschaft und pflegte sie von nun an mit gewissenhafter Zuverlässigkeit und Intensität. Es störte ihn nicht, dass seine Hosen enger und enger wurden, dass die Knöpfe seiner Hemden unter der Masse seines Bauches mit leisem Zischen aus den Knopflöchern sprangen, seine Jacketts sich in der Rückennaht dehnten und streckten, egal! „Eingelaufen“, sagte er sich und beschloss, den neuen, weiten Look für sich zu akzeptieren. „Ich bin doch nicht dick.“, sagte er sich jedes Mal, wenn er sich morgens nach seinen Futterorgien im Spiegel betrachtete.
Sein Freund, der Kühlschrank, lachte dazu: „Iss du nur, Toni, essen macht zufrieden, nicht wahr?“ Und Toni aß und aß und lebte voll schmackhaftem Genuss vor sich hin.
Bis – ja, bis ihm eines Tages ein dramatisches Übel widerfuhr. Ächzend hebelte er sich auf dem Parkplatz vor seinem Büro aus seinem Auto. Erleichtert zogen sich die Federn des Wagens leise knarrend zusammen. „Nun übertreibt man nicht, so schwer bin ich auch nicht!“, quetschte er gerade zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor, als ihn ein vorwitziger Frühlingssonnenstrahl die Nase kitzelte. Tränen schossen in Tonis Augen. „Hatschi!“ Mit brachialer Gewalt nieste er einen herzhaften, alles zerstörenden Nieser. Und noch ein mal: „Haaatschi!“ Dieser Nieser hatte so einen fatalen Einfluss auf die monumentalen, sich in alle Himmelsrichtungen ausbreitenden Massen Tonis, dass mit lautem „Rrrritsch!“, die Naht von Tonis Hose barst, explosionsartig verließen die Knöpfe am Bauch von Tonis Jackett ihren sicheren Platz, Tonis Hemd sprengte von oben bis unten mit unfreundlichem Klack-klack-klack auf und der stabile Knopf seiner Hose suchte leise sirrend und mit einem erstaunlichem Peng das Weite. Zielsicher landete er im Seitenspiegel des Autos und hinterließ ein sternförmiges Loch.
Stille. Toni sah sich um. Er sah an sich hinunter, schaute hinter sich und verzichtete darauf, mühselig auf allen Vieren kriechend, die Verschlüsse seiner Kleidung vom Boden zu klauben.
„Nichts wie weg hier!“, dachte er in Panik und quetschte sich hinter das Lenkrad. Ihm war, als sei er auf der Flucht. Das Büro musste heute einmal ohne ihn auskommen. Wie konnte es nur so weit kommen? Aus dem Rückspiegel blickte ihm während der Fahrt nach Hause ein dickes, feistes, wabbeliges Gesicht entgegen – mit Augen, die in welligen Fettmassen eingelagert nur noch Schlitze zu sein schienen. Fette Schweißperlen auf der Stirn, tragisch gerötete Wangen, Speichel mit etwas angetrocknetem Spiegelei vom Frühstück verzierten seine Mundwinkel: Wie konnte er nur so weit sinken?
Kurzatmig schnaufend wälzte er sich die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Er konnte das Pochen seines verfetteten Herzens in seinen Ohren rauschen hören. Bluppbumm, bluppbumm ...
Wo war denn bloß sein Wohnungsschlüssel? Hektisch wühlte er in den Tiefen seiner Hosentaschen herum, ah ja, da, zwischen zwei Speckröllchen eingequetscht, da war er ja. Heftig zog Toni an ihm, endlich hatte er ihn aus der Hose geborgen.
Sein direkter Weg führte zum Kühlschrank: „Verräter!“, schrie er den Dicken auf dem Bild an. „Du bist Schuld daran, dass ich fast platze. Von wegen Freund!“
Der Dicke auf dem Bild lachte hämisch. „Nana, disziplinier dich mal, alter Knabe. Hat dir doch gut gefallen, das kleine Spielchen, oder? Ich höre noch deine Worte: Wie kann man nur so undiszipliniert sein? Ha! Echt geil, wie viel Disziplin du aufgebracht hast!“
„Schnauze! Mit dir rede ich nicht mehr!“, rief er Wut entbrannt und trat mit aller Gewalt und maßlosem Zorn gegen die Kühlschranktür. Mit beiden Fäusten trommelte er gegen den alten Froster, schrie und kreischte und spuckte um sich.
Starke Hände griffen nach ihm und zwängten ihn in eine Hauszelt große Zwangsjacke. „Seit wann ist er so auffällig?“ fragten die Sanitäter einen Nachbarn, der Hilfe geholt hatte um den tobenden Toni vor einem Schlaganfall zu bewahren.
„Keine Ahnung, hab ihn lang nicht mehr gesehen. Und seit wann er mit dem Kühlschrank spricht? Ich weiß es nicht!“ Der Nachbar schaute betroffen um sich. Für einen kurzen Moment blieb sein Blick an einem Bild an der Kühlschranktür hängen. Ein dickes, freundliches Gesicht strahlte ihm unschuldig lächelnd entgegen.
Toni wurde, von mehreren Sanitätern begleitet, gefesselt auf der sich unter seinem massiven Gewicht knarrenden Trage, in ein Krankenhaus gebracht.
Der Kühlschrank jedoch zog mit saugendem Schmatzen seine Tür noch ein wenig fester an sich. „Cool bleiben!“, sagte er, „Es gibt noch so viele Tonis!“ und gähnte gelangweilt.