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Der Kampf mit dem Drachen

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31.03.2007
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Der Kampf mit dem Drachen

Der Ausgang eines jeden Duells, einer jeden Auseinandersetzung hängt nicht zuletzt von einer optimalen Vorbereitung ab; da müssen rechtzeitig eigene Schwächen umgangen und Stärken genutzt werden. Bereits im Vorfeld müssen möglichst günstige Startvoraussetzungen geschaffen werden; nichts darf dem Zufall überlassen bleiben, jede noch so unwahrscheinliche Möglichkeit, jeder noch so abwegige Zug des Gegners sollte erwartet und vorher zumindest einmal in Gedanken erwägt und gekontert werden.
In meinem Fall heißt das: Schon bei der Auswahl der Artikel, die ich im Laden zusammen suche, muß mit Blick auf ihre spätere Handhabung unbedingte Sorgfalt walten. Und eigentlich schon viel früher, denn über Sieg und Niederlage entscheidet bereits das Transportmittel, in dem ich meine Waren durch die Gänge trage. Früher habe ich den Fehler begangen, Joghurtbecher, Äpfel, Wurstpakete und Fruchtgummitüten lose in der Armbeuge aufeinander zu stapeln und selbst noch zwei freie Finger der stapelnden Hand mit irgend etwas, vielleicht einem Netz Zitronen oder einem Röllchen Magnesiumtabletten zu bestücken - mit dem blauäugigen Plan, später all das Eingekaufte an der Kasse direkt aus der Hand der Kassiererin in meinen Rucksack zu laden. Ein Vorhaben, das jedesmal kläglich gescheitert ist, ja von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Niemand, ich wiederhole niemand kann die Artikel so schnell und mit Rücksicht auf ihre Beschaffenheit und Empfindlichkeit in einen Rucksack stopfen, wie sie selbige über das Laufband schiebt und gleichzeitig den Scanner bedient. Sie, unsere unbarmherzige Gegnerin: Die Frau an der Kasse.
Oft habe ich auch, der ich lange ein erbitterter Gegner von spießigen Einkaufswagen war, vor oder im Laden einen passenden Karton gesucht, mit dessen Hilfe ich das Gewünschte und Gewählte sammelte und zur Kasse trug. Da jedoch auch Einkaufszettel meiner rebellischen Natur widersprechen und damit jeder Gang zum Discounter von gewisser Unwägbarkeit geprägt ist, reichte im unbändigen Kaufrausch aufgrund vieler, plötzlicher Einfälle die Kapazität des gewählten Kartons oft nicht aus, oder die mürbe Pappe löste sich bereits bei dem Gang zwischen den Regalen aus ihrer nachlässigen, weil nicht einer solchen Belastung zugedachten Verklebung. Natürlich endete das Einsortieren bei dem grausamen Zeitdruck, der unter den Blicken der Kassiererin und der anderen Kunden dabei stets entsteht, am Schluß des Laufbandes zum Disaster - kein Karton läßt sich innerhalb von fünfzehn Sekunden noch so bedacht und mit Rücksicht auf Quetsch- und Zerbrechbarkeit beladen, wie vorher während der entspannten Auswahl im Geschäft. Schlußendlich fand sich meistens meine Niederlage, d.h. meine kleinlaute Bitte, mir einen Augenblick Zeit zu gewähren - oder gar lautstarker, scherbenreicher Bruch und farbenfroher Ausfluß auf dem Ladenboden.
Mittlerweile weiß ich um die Ausbildung einer jeden Kassiererin, um ihre präzise Fingerfertigkeit und um ihr tägliches Training, das sie in all ihrer maschinellen Gefühllosigkeit zu einer übermächtigen Gegnerin mutieren läßt. Ihr windiger Komplize: Der Scanner, der nur selten streikt und jegliches Per-Hand-Eintippen der Vergangenheit angehören läßt, kurzum: Ein Team wie Hölle und Feuer, vor dem ich mich fühle wie ein Glühwürmchen vor der Sonne.
Diesmal aber bin ich vorbereitet: Ich habe das Geschäft mit einem Einkaufswagen betreten - dessen eine Rolle erwartungsgemäß blockiert und damit ein gerades oder womöglich lässiges einhändiges Schieben ausschließt und der, wie ich schon jetzt weiß, natürlich das zu seiner Auslöse notwendige 1 Euro-Stück nach Gebrauch nicht widerstandslos wieder hergeben wird. Schon frühzeitig habe ich sondiert, welche Kassen heute mit welchen Frauen belegt sind: Während ich nahe am Ein- bzw. Ausgang eine Palette H-Milch (3,5 % Fett) einlud, habe ich meinen Blick wie zufällig und scheinbar desinteressiert in die Runde geschwenkt und erkannt, daß jedes plexiglasbewehrte Häuschen mit erfahrenen Kräften, mit kampferprobten Scanner-Amazonen besetzt ist; keine Auszubildenden in Sicht - leider, denn diese sind stets schwache Gegner. Ich nehme für gewöhnlich gerne die längere Wartezeit an solchen Kassen in Kauf, wenn mir dabei nur mehr Zeit zum Einpacken bleibt. Zwar gebe ich mich dabei immer ungeduldig und genervt, wenn ein solch zittriges, unsicheres Persönchen die falschen Tasten drückt und dann mit fliehenden Fingern und flackerndem Blick die Hauptkassiererin, die Königin, ruft, doch insgeheim atme ich auf und nutze die Verschnaufpause, um währenddessen die letzten Artikel auf dem Band zu fixieren und nach ihrer Greifbarkeit einzuordnen. "Wir haben ja alle mal gelernt..." kommentiere ich noch manchmal gönnerhaft, während die Königin mit dem allmächtigen Kassen-Schlüssel ihrer Brut zu Hilfe eilt.
Neben der richtigen Zeit (ich empfehle einen Einkauf kurz vor Feierabend - hier verfügt die Kassiererin nicht mehr über den Elan und das Einsatzvermögen der frühen Morgenstunden) sollte natürlich bei der Auswahl der in den Wagen gelangenden Artikel ihre Notwendigkeit nicht vollends außer Acht gelassen werden, aber es gilt auf jeden Fall, nicht ausschließlich nach schnödem Bedarf einzukaufen! Denn keineswegs sollte die Ware z.B. handlich und greifbar sein. Sperrige Artikel wie Waschmittelpakete oder 15kg-Hundefutterbeutel eignen sich am besten, um den Fluss einer Kassiererin zu unterbrechen und einen wertvollen eigenen Vorsprung heraus zu arbeiten - für solche benötigt sie meist beide Hände und muß sich nicht selten aus ihrem Kabuff heraus über das Laufband lehnen. Nicht minder vorteilhaft: Scann-Codes, die nicht auf den ersten Blick zu finden sind; und wenn sie es doch sind, dann sollte man sie auf jeden Fall so auf dem Laufband platzieren, daß sie ihren Adleraugen verborgen bleiben und ein mehrmaliges - natürlich zeit(!)raubendes - Drehen und Wenden erfordern (oder, wenn möglich, das Verpackungsmaterial unter dem Code zerknittern oder mit dem Daumennagel beschädigen, um dem Scanner seine Aufgabe zu erschweren). Dergleichen auf meiner Seite: Kleines, nach Stückzahl zu berechnendes Obst, das der Kunde eigenhändig in Tüten sammelt, wie z.B. Kiwis oder Litschis - die stecke ich meistens unter dem Vorwand der Stabilität in gleich zwei, manchmal gar drei Plastikbeutel, so daß sie kaum noch zu erkennen und schwerlich zu zählen sind. Fragt mich dann die Kassiererin, ob ich ihr zufällig die Anzahl nennen könnte, verneine ich stets mit bedauerndem Kopfschütteln - und habe schon wieder ein paar Sekunden gewonnen, die sie benötigt, das Obst durch das Plastik zu ertasten und zu zählen.
Unbedingt zu vermeiden habe ich in den letzten Jahren viele gleiche Artikel gelernt - wie z.B. die erwähnte Palette H-Milch, die ich heute wirklich nur aus einer Notsituation heraus einkaufe. Hierbei kann nämlich die Kassiererin mit flinken Krallen eine Milchtüte aus dem Karton heraus fischen und scannen - um schon einen Atemzug später mir das ganze Paket zuzuschieben, mit dem ich mich dann noch abquäle, während sie bereits auf dem Band die nächsten Artikel heran rasen läßt. Noch schlimmer sieht es bei fünf gleichen Joghurts oder Gläsern mit identischer Nudelsoße aus; die lassen sich von ihr zwar mit einem einzigen Wisch auf die schmale Ablage hinter dem Laufband fegen, doch von mir nur mit allergrößter Verbissenheit einfangen und unbeschadet runter in den Wagen legen - ein klarer Fall von Eigentor.
Heute also will ich meinen Triumph genießen und habe dafür in der Vorbereitung alles Notwendige arrangiert: Der Einkaufswagen ist mit Bedacht bestückt worden, und schon Minuten, bevor ich mich in die Warteschlange an Kasse 2 einreihen werde, weiß ich, in welcher Reihenfolge ich die Artikel mit welcher Seite nach oben oder unten auf dem Laufband positionieren werde, damit ich sie nach dem Einscannen möglichst kontrolliert aus ihren Händen entgegen nehmen und wieder einladen kann. Ich habe längst durchgerechnet, wieviel ich bezahlen muß und habe einen zusammengefalteten Geldschein griffbereit in der Hosentasche, wo ich ihn innerhalb einer Sekunde herausziehen und einreichen kann. Obwohl draußen ein heftiger Dezembersturm Schwärme von riesigen Schneeflocken umher wirbeln läßt, trage ich nicht mehr als ein eng anliegendes Hemd, dessen Manschetten ich gegen meine sonstigen Gewohnheiten geschlossen habe - denn keinesfalls will ich mit weiten Ärmeln oder einer voluminösen Winterjacke am Einkaufswagen hängen bleiben oder versehentlich eine Flasche Orangensaft von der Ablage am Ende des Laufbandes stoßen. Nein, diese Blöße darf ich mir auf gar keinen Fall geben. Auch bei der Wahl meiner Schuhe habe ich Sorgfalt walten lassen und mich für ein Paar Laufschuhe mit rutschfesten Sohlen entschieden, die mir einen bestmöglichen Stand garantieren werden. Nicht zu vergessen das Reaktionstraining: Über den ganzen Nachmittag, den ich mir extra frei genommen habe, hat meine Frau, drei Schritte hinter mir stehend, diverse Gegenstände wie Bananen, Kochlöffel, Handbesen, Pizzakartons oder Mineralwasserflaschen wahllos nach mir geworfen und mich erst in letzter Sekunde per Zuruf vor den drohenden Treffern gewarnt. Für mich galt es dann stets, innerhalb eines Augenzwinkerns um 180 Grad herum zu wirbeln, das Wurfgeschoß zu fokussieren, richtig einzuschätzen und aufzufangen, bevor es mich getroffen hätte oder zu Boden geprallt wäre. Ich hoffe, daß die von einer verfehlten Keksdose verursachte Platzwunde über meinem rechten Auge und der verstauchte linke Zeigefinger mich heute nicht behindern werden - aber davon abgesehen, habe ich auch diesmal wieder eine ganz ausgezeichnete Quote zu verzeichnen gehabt.
Die dreadlockbewehrte Zottel-Liese vor mir, gehüllt in einen vermutlich selbst gestrickten Wollfetzen undefinierbarer Farbe irgendwo zwischen Eigelb und Erbrochenem, belädt das Laufband mit ihren Artikeln - in veganer Gewissenhaftigkeit natürlich kein Fleisch, keine Milch- oder Käseprodukte, sondern weitestgehend Obst und Gemüse, das sie wahrscheinlich aus Aversion gegen künstliches Verpackungsmaterial nicht einmal in den frei erhältlichen Plastikbeuteln gesammelt, sondern lose zur Kasse geschleppt hat - wo jetzt Birnen, Wurzeln, Kartoffeln und anderes Grünzeug unkontrolliert über das schwarze Gummi zu rollen beginnen. Ich muß zugeben, daß sie sich, vielleicht auch nur unbewußt, verläßlicher Tricks bedient; nichts haßt die Frau an der Kasse so sehr wie freie, ungebändigte Lebensmittel, die sie auch noch per Hand abwiegen muß. Wirklich, sehr geschickt.
Als ich erkenne, daß mein Einsatz in wenigen Augenblicken ansteht, beginnt - wie jedesmal - mein Herz zu rasen und buchstäblich bis in den Hals hinein zu schlagen. Der Puls pocht so heftig, daß ich befürchte, er könnte meine Armbanduhr vom Handgelenk sprengen. Plötzlich ist jede Feuchtigkeit, jeder Tropfen Speichel aus meinem Mundinneren gewichen - die Zunge nicht mehr als ein ausgedörrter Fremdkörper. Gleichzeitig werden meine Hände so feucht, daß ich kleine Schweißperlen in den Handtellern spüre - dieselben, die auf einmal auch aus meinen Achselhöhlen rinnen und im dünnen Hemdstoff versickern. Wie soll ich mit solchen Flutschfingern noch etwas kontrolliert greifen können, wie soll mir ein so trockener Mund gestatten, auf eine mögliche Frage der Kassiererin zu antworten, ohne mich an diesem staubigen Zungenlappen zu verschlucken und in einen an Peinlichkeit nicht zu übertreffenden Hustenkrampf auszubrechen?
Wie gesagt, ich bin vorbereitet: Gegen das Herzrasen kann ich zwar nichts unternehmen, aber für den Fall des trockenen Mundes pflege ich beim Einkaufen stets ein passendes Hustenbonbon mit mir zu führen, welches ich jetzt mit einer einzigen Bewegung aus der Hemdtasche ziehe, auswickele und zwischen den Lippen verschwinden lasse. Sofort nimmt die Speichelproduktion wieder ihre Arbeit auf. Und die Hände? Natürlich habe ich auch daran gedacht - das Paar neongelber Abwaschhandschuhe ist innerhalb eines Atemzuges aus dem Hosenbund gezogen und übergestriffen; nichts wird jetzt mehr aus meinen gummierten Fingern gleiten.
Und schon geht es los: Das Band bewegt sich und bietet endlich Platz für meinen Einkauf. Manch einer mag vielleicht denken, daß er sich bei dem Aufladen noch Zeit lassen könnte, aber weit gefehlt: In jedem Fall gilt zu vermeiden, mit halbvollem Einkaufswagen noch am Band zu stehen, während sie bereits vorne mit dem Scannen und Tippen beginnt und damit einen uneinholbaren Vorsprung heraus arbeiten kann. Während ich also die Partie mit zwei Päckchen Schwarzbrot eröffne, werfe ich einen scharfen Blick zu ihr und erkenne meine Gegnerin als eine auffallend fettleibige Person, die auf den ersten Blick wie in ihren Kittel und gleichfalls in das Kassenhäuschen hinein gestopft wirkt, von der ich jedoch aus früheren Begegnungen weiß, daß sie über jahrelange Kampferfahrung und eine erstaunliche Behendigkeit verfügt. Obgleich jeder ihrer formlosen Wurstfinger mit wenigstens zwei geschmacklosen, schweren Goldringen geschmückt ist und damit alles andere als flink erscheint, kann sie damit so schnell und präzise zugreifen, wie ein Adlerrüde ein flüchtendes Kaninchen packt. Als sich unsere Blicke für einen Sekundenbruchteil treffen und sie mich unter einem strähnchenbewehrten Pony anstiert, weiß ich nicht, ob auch sie mich wiedererkennt, aber uns beiden ist klar, daß dieser Kampf nur einen Sieger kennen wird.
Von Beginn an kämpft sie unfair: Zottel-Liese stopft noch das Wechselgeld in eine unsichtbare Falte ihres Eigelberbrochenen, während sie bereits nach dem Schwarzbrot grabscht - bevor ich vollständig ausgeladen und meinen Wagen nach vorne hinter das Laufband gerollt habe, wo sie eigentlich verpflichtet ist, erst zu kontrollieren, ob ich nicht etwa einen Artikel vergessen habe oder unbezahlt an ihr vorbei schummeln will. Einen Augenblick erwäge ich, sie lautstark auf dieses Versäumnis hinzuweisen, aber dann denke ich mir, daß mein Triumph ein doppelter sein wird, wenn ich sie trotz dieser unlauteren Mittel am Ende doch in die Knie zwingen kann.
Endlich habe ich auch die Rollmöpse, ein paar abgepackte Fertigfrikadellen und die Palette H-Milch auf das Band gewuchtet und kann meinen Wagen nach vorne schubsen, wo bereits das Schwarzbrot, zwei Tüten geschälter Mandeln und eine Dose Mais auf mich warten, gefährlich nahe an der Kante der Ablagefläche. Ich bringe mein Fahrzeug in Position, d.h. zwischen mich und das Kassenhäuschen, verfluche dabei innerlich im selben Maße das blockierende Rad, wie ich mich selbst für die Wahl meines Schuhwerks beglückwünsche und sammle auch schon die freigegebenen Artikel ein wie ein hungriger Krake, der in der Meerestiefe nach hilflosen Opfern greift.
Mir scheint, als quittiere meine Gegnerin gerade das widerspenstige Etikett an einem Becher Schokoladenpudding, welches der Scanner nicht anstandslos anerkennen und lesen will, mit einem unwilligen Knurren, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Jedenfalls findet sie zielsicher einen zweiten Becher, scannt diesen und schafft sich dieses Problem damit vom Hals - aber gewährt mir damit zwei wertvolle Sekunden, die ich nutze, vielleicht etwas übermütig, um meinen Blick kurz zu heben und die Kunden zu fixieren, die nach mir an der Reihe sind: Ein Paar, beide in den Fünfzigern; er mit hektischen roten Flecken im blassen Gesicht, vielleicht auch eine Art Ausschlag, sie dafür im Kontrast solariumgebräunt - und beide in identische Daunenjacken gehüllt, deren auf der Brust prangendes Markenemblem alleine schon so groß ist wie der Karton Kuchenboden, den die Frau gerade in der Hand hält - aber auf das Laufband zu legen zögert. Anscheinend ahnen die beiden, Zeuge welchen Duells sie gerade werden, auch wenn beide nicht unbedingt den Eindruck erwecken, besonders weit über das Stadium primater Intelligenz hinaus gelangt zu sein. Aber wenigstens meine gelben Handschuhe lassen sie wohl ahnen, was hier vorgeht - oder zumindest daß etwas vorgeht.
Doch ich habe keine Zeit, mich um sie zu kümmern, denn schon kommt die nächste Welle fertig gescannter Artikel auf mich zu gerollt: Schmierkäse, Ketchup, zwei Pakete Nudeln, Deoroller, Gummibärchen, ein Glas Nutella und eine Flasche Tomatensaft, die ich nur äußerst widerwillig eingepackt habe, auf deren regelmäßigen Genuss meine Frau jedoch schwört; angeblich macht sich der Gebrauch bei ihrem Teint bemerkbar. Zu dumm, daß gerade diese Flasche, geschubst von den Nudeln, an der Kante ins Kippen gerät und um ein Haar - was würde das für eine Sauerei anrichten! - zu Boden fällt. Gerade rechtzeitig fange ich sie noch auf, doch das Nachgreifen kostet mich einen wertvollen Augenblick, während dessen meine Gegnerin bereits das Klopapier und die Servietten nachschiebt. Okay, das war unüberlegt von mir; ich hätte ahnen müssen, daß sie hier zwei große Artikel relativ schnell abfertigen kann.
Dann: Als ich für einen Moment der Hektik anheim zu fallen drohe, gewährt mir ein im Vorfeld wohlüberlegter Schachzug eine kleine Verschnaufpause: Eine Handvoll lose auf dem Band rollender Einweg-Plastikflaschen, für die mir das Geschäft Rückpfand erstattet. Sie muß die Flaschen also aufsammeln und in einen großen Pappkarton hinter der Kasse werfen. Normalerweise könnte sie das im Sitzen, doch ich habe ihre dafür alles andere als geschaffenen Proportionen von Anfang an einkalkuliert und deshalb das Leergut an der äußersten, von ihr entferntesten Laufbandkante abgelegt, so daß sie sich vorbeugen muß. Ich gestehe, alles in allem kein schöner Zug von mir, zumal ich die Flaschen eigentlich zu Beginn oder an das Ende meiner Einkäufe hätte positionieren müssen, so wie es üblicherweise gehandhabt wird - aber wir befinden uns hier schließlich im Krieg, und da sind alle Waffen erlaubt. Innerlich ärgere ich mich, doch äußerlich bleiben meine Züge unbewegt, und höchstens jemand, der aus der Nähe beobachten könnte, wie ich unbeherrscht mein Bonbon in zwei Hälften zerbeiße, würde erkennen, wie sehr es mich aus dem Gleichgewicht bringt, daß meine Gegnerin schließlich die Flaschen, immer zwei auf einmal, in hohem Bogen über die Kasse zielsicher in den erwähnten Karton wirft - und sich dazu nicht, wie es die meisten ihrer Kolleginnen tun, vom Stuhl erhebt. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Weiter geht’s: Jetzt kommt das Obst, das ich in vorher beschriebener Weise im Plastik präpariert habe. Sie fragt gar nicht erst, ob ich wüßte, wieviele Kiwis ich eingesammelt habe, denn als erfahrene Kriegerin kennt sie meine Antwort bereits. Also ertastet sie die Anzahl mit der Fingerfertigkeit einer Blinden, selbst der eine Granny Smith-Apfel, den ich hinterhältig mit in den Beutel geschummelt habe, bringt sie nicht durcheinander - und wenn doch, dann läßt sie es sich nicht anmerken. Genauso rasch sind die Feigen gezählt, die Bananen abgewogen und die Sellerie hinterher geschoben. Sie ist gut, das muß ich widerstrebend zugeben.
Dann kommen wie Geschosse Hefewürfel, Katzenfutterdosen, Marmeladengläser, Wattestäbchen, Fleischwurst, Joghurtbecher, noch mehr Nudeln, zwei Flaschen Wein und ich weiß nicht, was noch alles heran gerast. Mehr instinktiv als überlegt greife ich blind nach den Packungen, Flaschen und Tüten und versuche mit zwischen den Lippen eingeklemmter Zunge und allmählich vollkommen durchnäßtem Hemdrücken die Artikel so im Wagen zu platzieren, daß später keine Druckstellen, aufgeplatzte Foliendeckel oder aufgerissene Mehltüten meine Hektik bestrafen können.
Ich weiß nicht, woher ich die Zeit nehme, zu erkennen, daß sich ein kleiner Junge zwischen den beiden Daunenjacken hindurch geschoben hat - oder hindurch geschoben wurde. Mit großen Augen verfolgt nun auch er, wie der Scanner in immer kürzeren Abständen piept und im selben Rhythmus meine Hände fliegen. Aus dem Augenwinkel glaube ich zu bemerken, daß der Verkehr an der Nebenkasse ins Stocken geraten und man auch dort auf uns aufmerksam geworden ist. Aber das wird wohl Einbildung sein.
Meine Gegnerin bewegt ihren unförmigen Kopf wie auf einem Drehgelenk; während sie noch einen oder gleich zwei Artikel auf einmal am Scanner entlang schiebt, sucht sie bereits auf dem Laufband den nächsten, denn sie weiß so gut wie ich, daß jedes Zögern, jeder Aufschub darüber entscheidet, wer dieses Feld heute als Sieger und wer als Verlierer verläßt. Ihre Ringe klappern über das Metall, der Stuhl, der unter ihrem massigen Leib verborgen bleibt, ächzt wie kurz vor dem Kollaps. Unsichtbar bewegt ihr Fuß das Pedal, mittels dessen sie das Laufband antreibt, und ich bin mir sicher, wenn sie über verschiedene Geschwindigkeitsstufen verfügen würde, hätte sie längst die allerhöchste gewählt.
In diesen Sekunden, in denen ich zwischen drei heran fliegenden Döschen Tomatenmark und einer sich wie wahnwitzig um die eigene Achse drehenden Flasche Olivenöl zum ersten Mal an meiner Überlegenheit zu zweifeln und gleichzeitig die womögliche Unbezwingbarkeit meiner Kontrahentin einzukalkulieren beginne, geschieht das Unfaßbare: Mein Handy klingelt! Gleichzeitig massiert der Vibrationsalarm meinen Hintern, wo es in der Gesäßtasche steckt. Nein, natürlich kann ich den Anruf jetzt nicht entgegennehmen - und wenn es meine eigene Mutter wäre, die anriefe, um mir mit letzter Kraft mitzuteilen, daß sie in ihrem Klappbett steckte und zu ersticken drohte. Auf gar keinen Fall werde ich mich darum kümmern!
Es klingelt; wieder und wieder. Gerade, als ich die zwei Sekunden wieder aufgeholt habe, die mich mein erstes Zögern und instinktives Greifen nach dem Handy gekostet haben, werde ich erneut aus dem Konzept gebracht: "Wollen Sie denn nicht wissen, wer Sie anruft?" fragt mich das fleckengesichtige Daunenmännchen mit provozierendem Unterton in der knarzenden Stimme, was nun endlich auch die Aufmerksamkeit aller anderen Kunden in der Schlange an Kasse 2 auf uns zieht. Gespräche verstummen, Hälse werden gereckt.
Sollte es tatsächlich möglich sein, daß die beiden mit ihr unter einer Decke stecken? Daß sie ihnen den Auftrag erteilt hat, mich bei Bedarf durcheinander zu bringen? Durchaus anzunehmen - aber in diese hinterhältige Falle werde ich nicht tappen. Also antworte ich, ohne ein weiteres Mal aufzublicken, lediglich mit einem verbissenen, schweigenden Kopfschütteln, während aus meiner linken Hand trotz Gummihandschuh ein Becher Kartoffelsalat rutscht. Doch zum Glück fällt er nicht auf den Boden, sondern in den Einkaufswagen, wo er relativ sicher auf dem Bund Weintrauben landet, das unter dieser unsanften Behandlung natürlich Schaden nimmt, um den ich mich jetzt aber nicht kümmern kann. Das sind eben Verluste, die ein jedes ernsthaft geführte Gefecht mit sich bringt.
Geräucherter Lachs, zwei Tafeln Schokolade, Fleischsalat, Toastbrot, ein Tetrapack Orangensaft und ein Glas Apfelmus sausen genauso schnell durch meine Finger wie die Taschentücher, das Senfglas und die Trockensalami. Längst nehme ich keine Rücksicht mehr auf eine geordnete Sortierung im Einkaufswagen; was zerbricht oder zerdrückt, werde ich halt anderswo ein zweites Mal einkaufen. Alles, was jetzt noch zählt, ist der Sieg!
Mittlerweile sind wir beide, mein unerbittliches Kassenwalroßmonster und ich, in das Zentrum aller Aufmerksamkeit gerückt: Der Betrieb an sämtlichen anderen Kassen ist eingestellt, Dutzende weit aufgerissener Augenpaare sind auf uns gerichtet; neben, vor und hinter uns. Wahrscheinlich haben uns sogar die Überwachungskameras ins Visier genommen. Selbst draußen auf dem Parkplatz drücken sich Menschen an der Scheibe die Nasen platt, um die Schlußphase dieses Duells mitzuerleben. Irgend jemand setzt zu einem Klatschen an, erst zaghaft, dann bestimmt. Andere fallen ein, nehmen den Rhythmus auf, beinahe drängend, bis der gesamte Laden unseren Kampf begleitet, wie eine Horde wilder Dschungelkrieger trommelnd eine Opferung in Szene setzt.
Ich bin schweißüberströmt, meine Herzschläge sind gar nicht mehr als einzelne zu erkennen, sondern rattern nur noch unkontrolliert in meiner Brust wie eine ungebremste Dampflok in Talfahrt. Schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen, die Beine zittern, und die zwei angelutschten Bonbonhälften fallen haltlos aus meinem Mund, als ich angestrengt nach Luft schnappe, um meine pfeifenden Lungen verzweifelt mit Nachschub zu füllen. Jetzt haben die anderen Kunden auch noch begonnen, im Rhythmus ihrer klatschenden Hände mit den Füßen aufzustampfen und "Hey, hey, hey, hey!" zu rufen. Meine Gegnerin läßt sich nichts anmerken, ihre Miene bleibt unbewegt - oder habe ich doch gerade den Anflug eines triumphierenden Grinsens auf ihren blitzenden Raubtierzähnen gesehen?
Die letzten Artikel kommen auf dem Band heran gerollt; ein großes Glas mit eingelegten Rollmöpsen, ein paar Müsliriegel, eingeschweißte Fertigfrikadellen... ich weiß nicht, ob das Deckenlicht flackert, oder mir das Bewußtsein schwindet. Meine Ohren tosen unter dem Lärm, den das Volk um uns herum veranstaltet. Aber jetzt entdecke ich endlich auch eine kleine Schweißperle auf der wulstigen Oberlippe meiner Gegnerin - das erste Zeichen von Schwäche! Also ist sie doch nicht unbesiegbar! Diese Erkenntnis gibt mir neue Kraft, die letzten Reserven zu mobilisieren; ich beiße noch einmal die Zähne zusammen, reiße ihr beinahe die Rollmöpse aus den Fingern und - lasse das Glas auf den Steinboden fallen!
Der Aufprall kommt mir ohrenbetäubend vor, wie Ur- und Endknall gleichzeitig. Während ich mich verzweifelt und in der aufkeimenden Erkenntnis meiner sicheren Niederlage nach den Scherben bücke, registriere ich ermattet, wie die anderen Kunden ihr Klatschen, Stampfen und Rufen einstellen.
In vollkommener Stille rutscht mein Fuß trotz Gummisohle auf einem Rollmops aus seinem sicheren Stand, ich verliere das Gleichgewicht, und obwohl ich mich noch mit einer blind nach hinten greifenden Hand am Plexiglasverschlag des anderen Kassenhäuschens festhalten will, schlage ich zu Boden, wobei mein Kinn zu allem Überfluß schmerzhaft auf die Kante des Einkaufswagens prallt. Mein Handy hört auf zu fiepen, der Scanner piept irgendwo über mir ein letztes Mal, und das Gesicht meiner Gegnerin taucht wie ein Ballon am Himmel auf, ihre Stimme seltsam verzerrt, die Worte zäh wie Brei und kaum zu verstehen: "Zahlen Sie bar oder mit Karte?"
Ich lasse mich zurück sinken – fast hätte ich es geschafft.

(August 2006)

 

Hi Pollenpeter,

ich kann den Stress, an der Kasse möglichst schnell Platz für die nachfolgenden Kunden machen zu wollen verstehen. Kassiererinnen habe ich deshalb trotzdem noch nie als Feind betrachtet. Aber so wie man sich diesen Stress aufgrund einer in die anderen fantasierten Erwartungshaltung selbst macht, so ist auch das natürlich eine Frage der eigenen Psyche.
Und da Einkaufswagen nun mal spießig sind, ist es doch auch spießig, anderen zum Gefallen rücksichtsvoll seine Einkäufe schnell fortzuräumen. Dein Prot ist also ein pseudoalternatives Weichei, der nicht zur kritischalternativen Lebenshaltung taugt: ein LBS-Spießer.
Das liest sich durchaus an einigen Stellen unterhaltsam, aber für diese dürftige Grundidee ist es viel zu lang gestreckt und auf Dauer ermüdend.
Abkürzungen wie bzw. gehören nicht in Geschichten. Auf Formulierungen zu achten hatte ich keine Lust, Fehler aufzulisten auch nicht.

Lieben Gruß, sim

 

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