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Der Kippensammler
1 – Der Beutel
Das kleine Beutelchen in seiner Hand füllte sich rasch. Da, schon wieder eine!
Behände griff er nach dem kleinen, gelben Stummel auf dem Bürgersteig, hob ihn auf und legte ihn in die Tüte. Das lief richtig gut heute!
Es ist ein Scheißjob, aber einer muss ihn ja tun, dachte Hans und lachte dabei vor sich hin.
Die Leute, die Hans schmunzelnd mit seinem Zigarettenmüllbeutel die Straße entlang gingen sehen, schauten ihn teils mitleidig und teils mit Abscheu an.
Dabei war er kein Penner, nein, Hans hatte einen festen Wohnsitz und eine kleine, aber zum Leben ausreichende Rente. Was ihn trieb war also nicht die Sucht nach Gratisnikotinresten.
Es war etwas anderes.
2- Der Sarg
Vor zwei Jahren stand Hans am frisch ausgehobenen Grab seiner Frau und sah zu, wie langsam der Sarg eingelassen wurde. Es war eine stille Beerdigung, außer Hans war niemand da. Sie hatten keine Freunde und auch keine Verwandten mehr. Als der Sarg den Boden berührte, wurde sich Hans schlagartig seiner nun eingetretenen Einsamkeit bewusst.
Was sollte er jetzt nur ohne seine Liese tun? Sie hatten alles zusammen gemacht, alles geteilt. Sie war die große Liebe seines Lebens, und jetzt war sie fort. Tot, eingesperrt, ins Erdreich verfrachtet.
Und nun? Die Nachbarn wegen falschem Parken anzeigen? Eine Weltreise machen? Eine Bank überfallen? Noch mal studieren? Oder einfach vorm Fernseher vegetieren bis es zu Ende war? Nein.
Als Hans damals den Friedhof endlich verließ, wusste er nur, dass er eine Aufgabe brauchte, irgendetwas das einen Sinn ergab und das Liese verstanden hätte.
3 – Das Regal
Völlig durchgefroren, aber mit sich und seinem Tagwerk zufrieden, schloss Hans seine Wohnungstür auf. Noch bevor er sich auszog ging er direkt zu seinem Archiv. Er nahm das Vorhängeschloss in die Hand und entriegelte es. Dann zog er die schwere Tür auf und machte sich an die Arbeit. Den Beutel mit Kippen schüttete er sorgfältig auf den Holztisch. Noch schnell das Vergrößerungsglas zurechtgerückt und schon konnte der Spaß losgehen. Doch halt!
Nicht so überhastet, mein Freund, dachte Hans. Mach es richtig.
Also stand Hans noch einmal auf, zog sich erstmal richtig aus und hängte alles ordentlich auf. Dann ging er in die Küche und machte sich einen schönen, heißen Kaffee.
Jetzt konnte es losgehen. Auch das Fernglas lag bereit, er hatte einen optimalen Blick aus dem Fenster.
Mal sehen. Der Lippenstift kommt mir direkt bekannt vor. Ja, das ist ganz bestimmt wieder Frau Krüger gewesen.
Eifrig sortierte er die Stummeln auf dem Tisch zu kleinen Grüppchen. Dann begann er die vorsortierten Zigarettenreste in das große Regal mit den Holzkästchen einzuordnen. Jedes Fach war sorgfältig mit einem Namensschild versehen.
Von Frau Krüger aus Haus 10 hatte er diesmal vier Stück gefunden. Herr Özlan von gegenüber kam sogar auf neun Zigaretten.
Als Hans schließlich seinen heutigen Fang erfolgreich in die Fächer eingeräumt hatte, war es auch schon dunkel. Er sah noch mal zum Abschluss durch das Fernglas und beobachtete schmunzelnd Lars, diesen Halbstarken aus Haus Nummer Fünf, wie dieser achtlos seine Kippe ins Gebüsch schnippste.
Da weiß ich ja, wo ich morgen suchen muss, dachte Hans und grinste schief.
Zufrieden stand er auf und ging zum Kühlschrank. Er nahm sich das Fertiggericht für Montag heraus, bereitete es in der Mikrowelle zu und verspeiste es in seinem Sessel. Dann legte er sich schlafen.
Gute Nacht, Liese, dachte er noch, bevor er wegdämmerte, ich vermisse dich so…