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Der Klang des Meeres

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08.07.2012
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Der Klang des Meeres

Aasen atmete schwer unter der Last seines Rucksacks. Er hob den Kopf und betrachtete die Ruine des Brandenburger Tors. Die Reste der zerschossenen Attika ragten düster in den farblosen Himmel. Das Sandsteinrelief, auf dem noch immer die Ahnen des Apollon gegen lüsterne Zentauren kämpften, hatte die Farbe von Asche angenommen.
Aasen wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und wandte sich nach Osten. Immer in Bewegung bleiben, dachte er. Es widersprach der Vernunft, hier ohne Deckung über freies Gelände zu spazieren.
Bei jedem Schritt knirschte der Schutt herabgestürzter Säulentrümmer unter seinen Stiefeln. Ein Hundekadaver, über dem die Fliegen schwärmten, lag vor dem Eingang des südlichen Torhauses und verpestete die Luft.
Dort, wo vor einigen Jahren das Hotel Adlon gestanden hatte, trat eine Gestalt in zerlumptem Mantel aus dem Schatten eines Mauerbogens. Aasen ließ den Riemen des G36 über die Schulter gleiten. Während sich der Fremde näherte, entsicherte er das Sturmgewehr.
"Deine Flinte wirst du nicht brauchen, Conrad. Ich bin es, Straver."
"Woher kennst du meinen Namen?"
"Nun, es ist mein Job, Leute zu kennen, nicht wahr?"
Aasen musterte den Mann. Die Beschreibung, die man ihm von Straver gegeben hatte, passte.
"Gehen wir zum Torhaus", sagte er schließlich. "Ich stehe nicht gern auf offenen Plätzen herum."
Straver bewegte sich nicht.
"Ich ziehe es vor, das Geschäft hier abzuwickeln."
Aasen fasste ihn scharf ins Auge. Als Straver die Lippen zusammenpresste, hob er das Gewehr. In diesem Moment bemerkte er in einer der glaslosen Höhlen der Hotelfassade eine Lichtreflektion. Aasen ging in die Knie, schlug an und feuerte zwei Mal.
Nachdem das Echo der Schüsse verhallt war, herrschte Stille auf dem Platz.
Straver wandte sich um, aber er hielt inne, als Aasen hinter ihm sagte: "Mach einen Schritt, und du fängst dir die nächste Kugel."
Straver hob die Hände. "Wenn du mich tötest, wirst du Marena niemals finden."


Sie zog die Vorhänge zurück. Sonnenlicht durchflutete das Zimmer und umspielte ihren nackten Körper mit einem weichen Schimmer. Aasen betrachtete sie vom Bett aus. Durch das geöffnete Fenster war das Rascheln von Palmenblättern zu hören. Marena wandte sich zu ihm um, warf den Kopf zurück und raffte das Haar im Nacken zusammen. Nachdem sie einen Zopf gebunden hatte, lächelte sie ihn an. "Was unternehmen wir heute?", fragte sie, die Hände in die Seiten gestützt.
"Wir frühstücken auf der Alameda. Danach gehen wir an den Strand."
Als Marena vor dem Schrank stand und ihre weiße Bluse vom Bügel nahm, sagte Aasen: "Zieh keinen BH drunter."
Beim Frühstück im Café unweit der Strandpromenade war Marena die Sensation des Vormittags. Sie amüsierte sich über die Blicke, die ihr von allen Seiten zugeworfen wurden. Ein älterer Herr verschüttete seinen Kaffee. Marena steckte sich eine Zigarette an, beugte sich zu Aasen herüber und flüsterte: "Du bist ein Schwein."
Etwas später lagen sie auf dem warmen Sand einer Bucht und beobachten die heranrollenden Wellen.
"Du verbringst jeden Tag im Wasser", sagte Marena plötzlich. "Und wenn du eine Woche frei hast, fährst du mit mir ans Meer."
"Wieso, gefällt es dir hier nicht?"
Marena setzte sich auf. Den Blick auf den in der Ferne verschwimmenden Horizont gerichtet sagte sie: "Ich liebe das Meer. Aber es wäre schön, mal etwas zu machen, das nichts zu tun hat mit …" Sie verstummte.
Aasen zog sie zu sich heran. "Küss mich", sagte er und betrachtete ihr Gesicht, das über ihm schwebte.


Straver stieß einen Schrei aus, kippte vorn über und stürzte mehrere Meter in die Tiefe. Stöhnend blieb er auf einem Schutthaufen liegen. Als er das Knarren von Stiefelleder hörte, öffnete er die Augen. Aasens Gestalt mit dem kantigen, kurzgeschorenen Schädel setzte sich scharf vor dem bleiernen Himmel ab.
"Beim nächsten Mal stoße ich dich aus dem zweiten Stock", sagte Aasen. "Dann aus dem dritten …"
Straver würgte. "Ich habe dir doch schon alles gesagt."
"Bisher waren es nur Lügen."
Aasen zeigte auf den toten Schützen, der ein paar Meter entfernt auf der Straße lag, zu seinen Füßen das Gewehr mit dem zerschossenen Zielfernrohr. "Ich habe immer noch nicht verstanden, weshalb dein Freund mich abknallen wollte."
Ächzend richtete Straver sich auf.
"Ich hätte mir genommen, was ich brauche und deine Leiche verschwinden lassen. Ein gutes Geschäft ..."
Aasen schüttelte den Kopf. "Blödsinn. Es gibt einen anderen Grund."
Als er sah, dass Straver trotzig die Kiefer aufeinanderpresste, sagte er: "Gut. Gehen wir rauf in den zweiten Stock."
"Nein, bitte …" Straver hob die Hände. In seinem vierschrötigen Gesicht stand die Furcht.
"Deine Marena", begann er mühsam, "ist jetzt Handelsware." Aasen sah ihn verständnislos an.
"Es gibt Frauen", fuhr Straver fort, "mit denen man ein Vermögen verdienen kann. Gesundes, frisches Fleisch, verstehst du?" Er wischte sich mit dem Ärmel des Mantels Blut von der Wange.
"Ja, und es schadet dem Geschäft, wenn irgendein durchgeknallter Vater oder Bruder bei einem Kunden auftaucht und rumballert."
Aasen spürte, wie sich die Welt um ihn herum verdunkelte.
"Das ist vor zwei Jahren nämlich passiert", sagte Straver. "Und seitdem hält Bischoff die Augen offen, um Typen wie dir zuvorzukommen."
"Unmöglich", stieß Aasen hervor. "Das muss eine Verwechslung sein."
"Er hätte gut bezahlt für deinen Tod."
Aasen fasste sich. "Wer ist dieser Bischoff? Ein Menschenhändler?"
Straver nickte. Dann hustete er und spuckte blutig aus. "Lässt du mich gehen, wenn ich dir sage, wo er seine Mädchen anbietet?"
"Und riskiere, dass du ihn warnst?"
"Ich weiß, wie du Bischoffs Bunker ungesehen betreten kannst. Ist diese Information nicht ein Leben wert?"
Aasen richtete die Mündung des Gewehrlaufs auf Straver. "Das werden wir gleich herausfinden."


Ohne den Blick von der untergehenden Sonne abzuwenden, setzte Marena das Glas an die Lippen und trank. In der Luft lag der Duft des Meeres.
Sie lehnte sich in ihrem Liegestuhl zurück und sagte: "Ich wünschte, das würde niemals enden."
"Leben ist mehr, als Mojito trinken und Sonnenuntergänge betrachten", sagte Aasen.
Das Chiringuito war beinahe leer. Der Wind, der in einer Böe von der Uferpromenade her über den Strand wehte, brachte Bossa Nova-Klänge mit. Dann wurde es wieder still bis auf das zeitlose Rauschen der Wellen.
"Ach ja", sagte Marena. "Und was genau?"
"Einer sinnvollen Aufgabe nachgehen …"
"Als Elitesoldat bei der Marine zum Beispiel?"
Aasen sah sie an. Ihre Haut hatte den Kupferton des Abends angenommen.
"Ja, zum Beispiel", antwortete er.
Marena stellte ihr Glas zwischen die beiden Liegestühle in den Sand und sprang auf. Hinter der geschwungenen Linie ihrer Hüften stand der Horizont in Flammen. Sie legte die Hände auf Aasens Schultern und beugte sich zu ihm herab, so dass ihre Brüste ihn beinahe berührten. Er spürte ihre Lippen an seinem Ohr.
"Ich hasse den Krieg", sagte sie leise, aber voller Nachdruck, richtete sich wieder auf und drehte sich zum Meer. Aasen beobachtete, wie sie in den versinkenden Feuerball lief.


Vor den Trümmern der ehemaligen BND-Zentrale patrouillierten Männer mit vollautomatischen Gewehren. Aasen hatte in einer Seitengasse der einstigen Chausseestraße Stellung bezogen und observierte das Gelände hinter den Stacheldrahtrollen durch das Zielfernrohr. Undenkbar, Marena in den Bordellen des Bunkers aufzuspüren - Aasen vermochte kaum, sie sich anders vorzustellen als in einem Badetanga, an den Stamm einer Palme gelehnt. Doch obwohl er Stravers Aussagen misstraute, wollte er dieser Spur eine Chance geben. Es war die einzige Spur, die ihm blieb.
Aasen klappte die Blenden des Zielfernrohrs zu und zog sich in einen geschützten Winkel zurück. Es roch nach schimmelndem Mauerwerk und Verwesung. Während er auf den Anbruch der Dämmerung wartete und nach Stechmücken schlug, dachte Aasen erstmals über eine Frage nach, der er jetzt nicht mehr ausweichen konnte: Falls es ihm gelingen sollte, Marena zu finden - was wollte er danach tun?
Europa, das war nun wüstes Land - ein Kontinent, in dessen Ruinenstädten Menschen massenhaft der Cholera zum Opfer fielen. Welche Zukunft gab es für Marena und ihn in dieser zerstörten Welt? Welche Zukunft gab es überhaupt für irgendeinen Menschen?
Seit drei Jahren kämpfte er sich durch die Landschaften der Apokalypse – es waren Jahre der Einsicht und der Erkenntnis gewesen. Aasen erinnerte sich an etwas, das er früher, scheinbar in einem anderen Leben, über das Dilemma der Weisheit gelesen hatte: Wenn wir sie endlich erlangen, nützt sie uns nichts mehr. War dieses ganze Unternehmen nicht lediglich eine sentimentale Geste, der Versuch, eine Welt zurückzugewinnen, die er – als sie noch existierte – geringgeschätzt hatte?
Aasen musste sich eingestehen, dass er Marena kaum kannte. Eine gemeinsame Woche in Berlin, zwei Tage in Kopenhagen und die wenigen anderen Treffen außerhalb Spaniens hatten in seinen Erinnerungen keine Spur hinterlassen. Marena, das war der andalusische Sommer am Strand. Marena, das war der Klang des Meeres.
Auf einer Zeltbahn, die innerhalb weniger Minuten von einer Ameisenkolonne überrannt wurde, breitete Aasen den Inhalt seines Rucksacks aus. Er plante, nur leichtes Gepäck mit in den Bunker nehmen. Neben dem in Kunststofffolie verpackten Vorrat an Brot, Dosenfleisch, Kartoffeln, Äpfeln und sonstigem Proviant schienen ihm die beiden schweren Sprengsätze und das Dutzend Handgranaten vorerst entbehrlich. Er legte zwei Granaten in den Munitionsbeutel, den er am Gürtel trug. Nachdem er ein spärliches Nachtmahl zu sich genommen hatte, verstaute er Proviant und Ausrüstung wieder im Rucksack und versteckte diesen unter den Bruchstücken einer Hofmauer. Dann blieb nur noch das Warten.
Es mochte zwei Stunden vor Mitternacht sein, als Aasen sich erhob. Hin und wieder fielen Schüsse in der Finsternis, und man konnte das Heulen von Wölfen hören – wenn es dunkel wurde, kamen die klugen Tiere aus den Wäldern und holten, was schwach, krank oder tot zwischen den Ruinen lag.
In der ganzen Stadt gab es keinen einzigen Kanaldeckel mehr. Gusseisen war zu wertvoll, als dass man es auf der Straße verrotten ließ. Aasen näherte sich dem Schacht und roch die Ausdünstungen der Kloake. Er schwang sich hinunter, und mit den Händen an der Wand entlangtastend machte er sich auf den Weg zum Bunker. Die Ammoniakschärfe trieb ihm Tränen in die Augen.
Von Straver wusste er, dass hier ein Wartungsgang abzweigte, der zu einem Regenüberlauf führte. Dieses Regenbecken diente Bischoffs Leuten als Nutzwasserspeicher. Straver hatte behauptet, das Gewölbe des Wasserspeichers mit seinen schwer einsehbaren Winkeln wäre ein idealer Durchschlupf in den Bunker, insbesondere weil der Zugang über die Kanalisation nur wenigen Leuten bekannt sei. Als Aasen das Feuerzeug aufschnappen ließ, glänzten die schwarzen Panzer flüchtender Kakerlaken im Schein der Flamme. Er betrachtete das Speicherbecken und begriff, dass er zum gegenüberliegenden Rand schwimmen musste.
Angewidert vom Geruch des faulenden Wassers ließ er sich in den Überlauf gleiten. Er hielt das Gewehr mit gestrecktem Arm trocken und war mit ein paar Zügen auf der anderen Seite.


Nicht nach unten sehen, dachte Aasen und hob den Kopf. Mit lockerem Schwung warf er den Arm nach vorn, fasste das Wasser und zog sich kraftvoll durch die Wellen. Er wusste, dass Marena am Leuchtturm auf ihn wartete, eine Stoppuhr in der Hand, während er sich die etwa vier Kilometer lange Strecke - immer in Sichtweite des Strandes - gegen Strömung und Dünung vorankämpfte.
Allein im Meer zu schwimmen, löste bei ihm noch immer ein Gefühl der Beklemmung aus. Drei Jahre Training bei der dänischen Marine hatten daran nicht viel geändert. Noch immer beschäftigten ihn Phantasien, in denen torpedoförmige Kreaturen aus der Tiefe emporstießen, um ihn zu packen und in die Dunkelheit zu ziehen.
Es war sinnlos, Marena zu bitten, in den Touristenläden des Ortes einen Einkaufsbummel zu machen oder den Vormittag über nach Cádiz zu fahren. Sie lehnte diese Vorschläge stets mit einem Kopfschütteln ab und bestand darauf, an der kleinen Klippe auf ihn zu warten.
Während Aasen durch die Gläser seiner Schwimmbrille in das unerbittliche Grünblau des Atlantiks starrte, sah er Marena, wie sie im Sand saß, die Augen mit einer Hand schirmte und über das Meer schaute. Neunzig Minuten waren viel Zeit, um ihren Widerwillen gegen das zu pflegen, wofür das Bild des weitentfernten Schwimmers im schwarzen Neopren in ihren Augen stehen mochte: Frømandskorpset.
Es nutzte nichts, mit ihr über Sinn und Zweck zu streiten. Sobald Aasen begann, ernsthafte Argumente aufzuzählen, schüttelte sie den Kopf, lächelte traurig und betrachtete ihn wie einen Jungen, der einfach nicht verstehen wollte.
Die letzten Minuten waren wie immer eine Strapaze. Der Anzug hatte die Haut an Hals und Schulter blutig gescheuert. Die Arme schmerzten, Lippen und Zunge brannten vom Salz der See. Als Aasen sich im hüfthohen Wasser auf die Füße stellte, die Brille abnahm und den Verschluss des Anzugs öffnete, kam Marena ihm entgegen. Sie rief etwas, das er nicht verstehen konnte. Stöhnend zog er die Haube vom Kopf.
"Was hast du gesagt?"
"Fünfundachtzig Minuten", sagte sie. "Bestzeit."


Der schmale Gang wurde nur von einem grünlichen Schimmer erhellt. Der Schrei verebbte in den Tiefen des Bunkers, und für einige Augenblicke kehrte die Stille zurück. Dann vernahm Aasen erneut ein Klagen und Jammern und dann ein scharfes Klatschen, wie von einem Schlag mit der flachen Hand.
Einen Fuß vor den anderen setzend schlich Aasen den Gang entlang, das G36 vor der Brust. Im Bunker herrschte Sauerstoffmangel, die Luft schmeckte schal und verbraucht. Er gelangte zu einem Schott, dessen Eisentür eine Handbreit offenstand. Geräuschlos öffnete er die Tür, und als er die Gestalt eines fetten, alten Mannes sah, der ihm den Rücken zuwandte, entsicherte er das Gewehr.
Das nackte Mädchen, das vor dem Alten auf einem Tisch lag, war sehr jung und schien bewusstlos zu sein. Aasen konnte das Gesicht der Kleinen nicht erkennen, denn ihr Kopf lag zur Seite gedreht. Ihr Körper bebte unter Stößen, doch ihre Arme hingen schlaff über die Tischkante herab.
Aasen sagte mit einer Stimme, die in der kleinen Zelle schauerlich klang: "Geh weg von ihr, du Schwein!"
Der Alte zuckte zusammen und drehte den Kopf nach ihm um. "Verdammte Scheiße!"
"Zieh deinen Schwanz raus, und geh da rüber!" Aasen wies mit einer Bewegung des Kinns zur anderen Seite der Zelle, wo ein schäbiges, asselverseuchtes Bett stand. "Setz dich da hin!"
Nachdem der Alte sich auf das Bett gesetzt hatte, trat Aasen an den Tisch und tastete nach der Halsschlagader der Kleinen. Sie lebte.
"Wirf die Decke rüber", sagte er und betrachtete das blasse Gesicht des Mädchens. Die Augenlider waren eitrig verklebt und entzündet. Aus den Mundwinkeln tröpfelte Blut. Nachdem Aasen das Mädchen zugedeckt hatte, richtete er das Gewehr auf den Alten.
"Ich suche eine Frau", sagte er.
"Tja, das ist der Grund, weshalb man hierher kommt."
"Ich suche eine bestimmte Frau", sagte Aasen. "Etwa zwanzig Jahre alt, schlank, langes schwarzes Haar… "
Der Alte lachte böse.
Aasen dachte an das, was ihm Straver gesagt hatte.
"Es ist eine besondere Frau, sehr teuer."
Der Alte schüttelte den Kopf. "Wenn ich mir eine teure Hure leisten könnte, würde ich dann eine halbtote Fixerin vögeln?"
Aasen überlegte einen Moment lang.
"Wo hält Bischoff die Frauen fest?", fragte er schließlich. "Leben sie hier im Bunker?"
Der Alte nickte. "Aber es ist unmöglich, in ihre Nähe zu gelangen, so weit ich weiß."
"Sie werden bewacht? Wie viele Männer?"
"Zu viele", sagte der Alte, und mit einem Blick auf das Sturmgewehr fügte er hinzu: "So wirst du es nicht schaffen."


"Ach so?" Marena sah Aasen mit hochgezogenen Augenbrauen an, und er musste lachen, so perfekt spielte sie die Überraschte. In dem winzigen Scharwachtturm roch es nach Stein und Meerwasser. Vor der nordwestlichen Bastionsspitze des Castillo de Santa Catalina rauschte blutrot der Atlantik. Brandungswellen klatschen unten gegen die Mauern der Festung.
"Deshalb sollte ich also heute den Rock anziehen?"
Aasen hatte ihr Höschen herabgestreift, drehte sie mit sanftem Nachdruck herum und drückte sie gegen die Brüstung des Zinnenfensters, so dass sie sich mit beiden Händen abstützen musste. Nachdem er noch einmal hinter sich geblickt hatte, um sicherzugehen, dass sie die einzigen Besucher auf dem Wehrplateau waren, schob er mit dem Knie ihre Schenkel auseinander und schlang einen Arm um ihre Taille. Als Marena kurz darauf unter seinen Stößen keuchte, flüsterte er ihr ins Ohr: "Ich wünschte, das würde niemals enden."
Später am Abend fuhren sie auf der Fernstraße von Cádiz nach Süden. Marena schaute aus dem Fenster auf die hinter dem Sandstrand schimmernde Schwärze der See. Der Fahrtwind zauste in ihrem Haar.
Aasen liebte diese Momente der Stille und des Friedens. Was die Ekstase betraf, die er empfand, wenn sie miteinander schliefen – kein Glückzustand sonst konnte damit konkurrieren. Doch die Augenblicke gemeinsamen Schweigens kamen der Glückseligkeit sehr nahe.
Marena schien zu wissen, wie Aasen fühlte, und welcher Teufel sie auch reiten mochte, sie legte es immer häufiger darauf an, ihn in diesen Momenten mit ihren Bedenken zu quälen.
"Vor einigen Wochen habe ich etwas über eure Einsätze in Afghanistan gelesen."
Aasen seufzte leise. "Machst du dir Sorgen, mir könnte etwas zustoßen?"
"Klar", sagte sie, das Gesicht zum Meer gewandt. "Aber das ist nicht alles."
Die Straße machte einen Bogen nach Osten. Aasen beschleunigte, und nun jagten sie über flaches, verdorrtes Land.
"Ich finde, wir Europäer haben dort nichts zu suchen", sagte Marena. "So, wie wir im Irak nichts zu suchen hatten und auch nicht in Vietnam."
"Die Amerikaner waren in Vietnam."
"Und davor die Franzosen."
Als sie San Fernando erreichten, stritten sie heftig.
"Ich habe dir mehrmals zu erklären versucht, dass jeder militärische Konflikt neu betrachtet und bewertet werden muss", sagte Aasen. "Es ist naiv, grundsätzlich gegen Krieg sein zu wollen. Da könnte man auch grundsätzlich gegen Selbstverteidigung sein."
"Als Soldat hast du doch gar nicht die Möglichkeit, die Bedeutung eines Einsatzes zu analysieren und zu bewerten", erwiderte Marena. "Du befolgst Befehle."
"Ich verstehe nicht, was du von mir erwartest. Willst du, dass ich meinen Dienst quittiere? Das ist verrückt."
"Ich will, dass du anfängst, über das nachzudenken, was du tust."
Aasen antwortete nicht. Es brauchte nicht Marenas Attacken, um sich zu fragen, welcher Wert seinem Beruf über das unmittelbare Hier und Jetzt hinaus zukam. Was hatte er bei den Kampfschwimmern gelernt? Er wusste, dass man sich niederwerfen musste, um einer über den Boden rollenden Handgranate zu entkommen, die ihre Splitter bei der Explosion in flach ansteigendem Winkel verteilte. Er wusste, dass ein Projektil seines Scharfschützengewehrs Null Komma Acht Sekunden lang unterwegs sein würde, um einen fünfhundert Meter entfernt gehenden Gegner zu erreichen. Er wusste, dass er deshalb neunzig Zentimeter vorhalten musste, um zu treffen. Aasen hatte gelernt, wie man aus einem Helikopter ins Meer sprang, wie man fünf Minuten lang den Atem anhielt und wie man einem Menschen in einer fließenden Bewegung das Genick brechen konnte. Was würde er mit diesem Wissen anfangen, wenn seine Dienstzeit beendet wäre?
Spät in der Nacht erreichten sie den Küstenort Barbate. Sie ließen den Wagen an der Promenade stehen und gingen hinunter zum Strand. Marena steckte sich eine Zigarette an und sagte: "Wusstest du, dass man hier jedes Jahr im Frühling Orcas sehen kann?"
Aasen spürte, wie ein Schauer an seiner Wirbelsäule empor lief.
"Wie ich hörte, stehlen sie den traditionellen Fischern die Thune von den Angelhaken."
Gegen seine Prinzipien sagte Aasen: "Gib mir einen Zug." Er nahm die Zigarette zwischen die Lippen, inhalierte und blies langsam den Rauch aus. Vor ihm glitzerte das nächtliche Meer, und es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich die Schwertfinne eines Orcas vorzustellen, die in der Finsternis das Wasser durchpflügte.


Als drei Schläge gegen die Tür hämmerten, drückte sich Aasen in einen Winkel am Ende der düsteren Empfangshalle. Kaum war die Tür geöffnet, dröhnte eine Bassstimme durch das Foyer: "Na, Hartmann, wie geht’s?"
Aasen beobachtete, wie sich eine mächtige Gestalt in langem Ledermantel hereinschob – Bischoff. Aasen presste die Lippen zusammen. Dass Bischoff hier auftauchte, war kein gutes Zeichen. Gewöhnlich schickte er die Frauen mit Begleitschutz zu den Kunden, ging selbst aber nicht mit. Das hatte Hartmann bestätigt.
Er klappte die Blenden des Zielfernrohrs hoch und sah sich Bischoff genauer an. Alles an diesem Mann schien sein Treiben als Menschenhändler zu illustrieren: die massige, bullengleiche Körperform, der breite Nacken, das flache Gesicht mit den wulstigen Lippen und den winzigen, grausamen Augen, die Bischoff hinter einer metallgefassten Brille verbarg.
Er schüttelte Hartmann die Hand und sagte: "Ich hoffe, du hast ein paar Minuten, bevor wir das Geschäft abhandeln."
Hartmann stand bleich vor ihm. Es war ihm anzusehen, dass Bischoffs Besuch ihn überraschte.
"Natürlich", sagte er zerstreut. "Setzen wir uns. Ich hole Wein. Oder lieber Wodka?"
Während Bischoff in die lederbezogenen Polster eines Sofas sank, das mit zwei Sesseln und einem schmalen Tisch in der Nähe des Eingangs stand und den einstigen Luxus des Hauses ahnen ließ, führten drei bewaffnete Männer eine Frau herein. Aasen schaute durch das Zielfernrohr. Kein Zweifel – das war Marena.
Bischoff wischte ein paar Ameisen vom Sofa, klopfte auf das Polster zu seiner Rechten, und Marena nahm neben ihm Platz. Ihr Make-Up konnte kaum kaschieren, wie stark sie abgenommen hatte. Trotz des Rouge auf den Wangen wirkte sie blass und ausgezehrt. Sie trug ein schwarzes Kleid, einen goldenen Armreif, und ihr Haar war zu einem Zopf gebunden, der ihr bis zur Taille reichte.
Zwei der Bewaffneten hatten die Halle wieder verlassen und die Tür hinter sich geschlossen. Der dritte Leibwächter zog sich ans andere Ende des Foyers zurück.
Hartmann klapperte währenddessen an einem altmodischen Servierwagen. Mit einem Tablett, auf dem Gläser und eine geöffnete Flasche Rotwein standen, trat er kurz darauf an den Tisch.
"Du lässt es dir ja gutgehen", sagte Bischoff und beobachtete, wie Hartmann einschenkte.
"Nun, ich genieße einige Privilegien", stammelte Hartmann. Er setzte sich Marena und Bischoff gegenüber in einen Sessel und erhob sein Glas. Sie tranken.
"Sicher fragst du dich, weshalb ich hier bin", sagte Bischoff, nachdem er sein Glas auf den Tisch gestellt und ein Bein über das andere geschlagen hatte.
"Wenn es um Geschäfte geht, da habe ich immer ein offenes Ohr", erwiderte Hartmann schwach.
Bischoff lächelte unergründlich.
"Nein", sagte er, "der Grund meines Besuchs ist privater Natur."
Aasen bemerkte, dass Hartmann Marena kaum beachtete. Die Rolle des Freiers, die Aasen für ihn erdacht hatte, spielte er schlecht.
"Du hast in den letzten zehn Monaten etwa zwei Dutzend Frauen bei mir geordert", sagte Bischoff, und seine rechte Hand strich sanft über Marenas Wange.
"Mag sein. Ich zähle nicht mit… "
Bischoffs Finger streichelten Marenas Hals.
"Ich rühme mich", sagte er, "den Geschmack meiner Kunden genau zu kennen."
Hartmann wurde unruhig. Er rutschte auf dem Polster seines Sessels herum und konnte die Füße kaum stillhalten.
"Bisher entsprachen alle Modelle, die du geordert hast, einem klaren Muster", fuhr Bischoff fort. Seine Hand spielte am Träger von Marenas Kleid. "Kleine Titten, blondes Haar."
Bischoff streifte den Träger herab und entblößte Marenas Brüste. Danach drapierte er mit Sorgfalt ihren Zopf, so dass er sich wie der Körper einer Mamba von ihrem Nacken herabschlängelte.
Bischoff ergriff erneut sein Weinglas, trank und sagte dann: "Wie du siehst, entspricht dieses Modell ganz und gar nicht deinen üblichen Vorlieben."
Hartmann wollte etwas erwidern, doch Bischoff hob ruckartig das Kinn und sagte: "Wie es der Zufall will, wurde wegen dieser Frau gestern ein Mann erschossen."
Hartmann sah ihn mit einem Ausdruck echter Verblüffung an. Bischoff betrachtete ihn und sagte: "Ja, der Mann hieß Straver. Du hast vielleicht von ihm gehört."
Hartmann nickte.
Bischoffs dunkle Hand strich über Marenas Brüste. Aasen beobachtete es ohne Regung. Die letzten drei Jahre hatten ihn verändert. Er hatte Menschen brennen gesehen, hatte in den am schlimmsten betroffenen Gebieten erlebt, wie Kinder ihre Lungen stückchenweise hervorwürgten und elendig erstickten. In den Städten schossen plündernde Milizen zum Spaß auf jeden, der ihnen über den Weg lief. In den Dörfern herrschte solche Not, dass einige Verzweifelte damit begannen, Menschenfleisch zu verzehren.
Aasens Gedächtnis barg erschütternde Bilder, wie die einer Vergewaltigung, bei der zehn Männer eine Frau und ihre minderjährige Tochter schändeten und danach in Stücke hackten – der Anblick von Bischoffs Hand auf den weißen Brüsten von Marena löste nichts in ihm aus.
Bischoff lehnte sich zurück und sagte mit einem Blick auf Marena: "Ein gewisser Aasen scheint sich sehr für diese Schönheit zu interessieren. Ein Mann aus der Vergangenheit. Ein Mann, der keine Zukunft hat, auch wenn er es noch nicht weiß."
Marena saß da, als ginge sie das alles nichts an. Von Zeit zu Zeit nippte sie am Wein, schlug ein Bein über das andere und lehnte sich wieder zurück in die Polster. Ihren Blicken ließ sich nicht entnehmen, ob sie verstand, was da gesprochen wurde, nicht einmal, ob sie überhaupt zuhörte. Es schien, als spielte ihr Körper die überlebensnotwendige Rolle, während ihre Gedanken in einer anderen Sphäre weilten. Die rot geschminkten Lippen lächelten das ewige Konkubinenlächeln - unbewegt, leer, freudlos.
"Da ich weiß, wie gut du dein Haus schützen lässt", meinte Bischoff, "sollte ich mir keine Sorgen machen."
"In der Tat", stimmte ihm Hartmann zu.
"Ich habe draußen fünf Männer gesehen, und ich nehme an, hier im Haus werden sicher weitere… "
"Du musst dir wirklich keine Sorgen machen", fiel ihm Hartmann ins Wort. "Hier kommt niemand ungesehen rein." Offenbar hatte die Neuigkeit von Stravers Tod Aasens Drohungen Nachdruck verliehen. Hartmann bewies jetzt jenen engagierten Opportunismus, dem er einen Großteil seines Reichtums verdankte.
"Es wäre verrückt anzunehmen, dieser Mann könnte hier auftauchen."
Bischoff betrachtete ihn aufmerksam.
"Und was meine ungewöhnliche Bestellung betrifft", fuhr Hartmann mit einem Blick auf Marena fort, "tja, ich wollte wohl einfach mal etwas Neues ausprobieren."
Ein Augenblick angespannter Stille folgte. Aus einem ihm unbekannten Grund befürchtete Aasen plötzlich, Bischoff könnte Marena etwas antun. Er hatte das Reflexvisier des G36 eingeschaltet. Der Rotpunkt glühte matt auf dem halbdurchlässigen Spiegel der Zieloptik und schob sich über Bischoffs Kopf. Aasen machte sich bereit, einen Feuerstoß abzugeben.
Bischoff erhob sich abrupt. "Wenn das so ist", sagte er, "gibt es hier für mich nichts mehr zu tun."
Er strich den Ärmel seines Mantels zurück und schaute auf die Uhr. "Wie immer, zwei Stunden?"
Hartmann nickte erleichtert. Er war aus dem Sessel geschnellt und reichte Bischoff die Hand. Als dieser seine Rechte hob, sah Aasen die Pistole. Ein Schuss krachte durch die Halle, und Hartmann kippte gerade nach hinten. Mit Getöse stürzte sein Körper auf den Cafétisch, Gläser klirrten, die Weinflasche fiel auf den gefliesten Boden und zerbrach mit einem Knall.


"Wunderbar", sagte Marena, und Aasen sah, dass ihre Augen glänzten. Auf dem mit Blumen und Girlanden geschmückten Platz beleuchteten unzählige Lampions eine anrührende Szene: Zu den Klängen einer Kapelle tanzten Männer, Frauen, Mädchen und Jungen. Sie bewegten sich im Kreis, in einer Stimmung feierlicher Heiterkeit, standen nach Drehungen und Volten einander in Paaren gegenüber und tanzten dann für eine kurze Weile jeweils zu zweit. Dabei traf Mädchen auf Greis, Knabe auf ehrwürdige Doña, Fischer auf Kellnerin, wie es der Zufall mischte.
In diesem Miteinander lag eine solch ungewöhnliche Zärtlichkeit, eine so verblüffende Natürlichkeit und Anmut, dass sich Marena und Aasen auf eine Bank setzten, um das Treiben der Fiesta zu beobachten.
Später in der Nacht, als sie einander in einem Restaurant bei Kaffee und Wein gegenübersaßen, sagte Marena: "Für mich ist das, was wir auf dem Platz gesehen haben, die Antwort auf die Sinnfrage."
Aasen sah sie überrascht an.
"Das Leben, das ich mir wünsche, hat viel von diesem Gefühl… " Sie suchte nach Worten. "Diese Menschen zu sehen, hat mich glücklich und traurig zugleich gemacht. Es war wunderbar, das zu sehen, und schrecklich, dabei eine Fremde zu bleiben."
Sie steckte sich eine Zigarette an, und Aasen bemerkte, dass ihre Hände zitterten.
"Vermisst du das in Berlin?"
Sie nickte. "Ja. In der Stadt wird es immer schlimmer. Irgendwann werden die Leute aufeinander schießen."


Vor dem Haus stotterten Sturmgewehre und Maschinenpistolen. Kurz darauf stürzten Bischoffs Männer in die Halle. Aasen zählte ein Dutzend Schwerbewaffnete. Sie trugen taktische Westen und hielten Sturmgewehre und Schrotflinten schussbereit vor der Brust.
"Fünf nach oben", kommandierte Bischoff. "Durchsucht das Haus, erledigt Hartmanns Leute und bringt mir Aasen! Ich weiß, dass er sich hier versteckt."
Die Männer zogen ab. Aasen beobachtete, wie sie sich gegenseitig sicherten. Das waren gut ausgebildete Söldner. In einem Feuergefecht gegen ein Dutzend dieser Männer hatte er allein keine Chance. Bischoffs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
"Habe ich dir erlaubt, dich anzuziehen?", hörte er ihn brüllen. Marena war aus ihrer Absenz erwacht, als Hartmanns Blut über das Schachmuster der Fliesen gespritzt war. Jetzt stand sie zitternd vor dem Sofa und nestelte an ihrem Kleid.
"Hände weg, habe ich gesagt!", schrie Bischoff noch einmal und versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht, so dass sie von der Wucht des Hiebes zu Boden geschleudert wurde und hinter dem Cafétisch liegen blieb.
Bleib unten, sagte Aasen leise, zog den Stift und ließ die Handgranate über das Schachbrettmuster rollen. Bischoff hörte das unheilvolle Klirren, fuhr herum und starrte auf die Granate, die einige Meter vor ihm eine letzte Drehung vollführte.
Aasen sah, wie Bischoff und seine Männer innerhalb eines Sekundenbruchteils von einem Stoß aus Licht, Qualm und Staub davon gefegt wurden. Die Explosion hatte ihn taub gemacht; bis auf ein sonderbares Rauschen herrschte Stille in der Halle. Aasen sprang auf die Beine, rannte zum Eingang des Foyers und zog unter Möbeltrümmern und Leichenteilen Marenas Körper hervor. Sie war bewusstlos, aber sie atmete.
Langsam kehrte sein Gehör zurück: In der oberen Etage fielen Schüsse. Bischoffs Söldner waren auf Hartmanns Männer gestoßen. Aasen ging zur Tür und spähte hinaus. Dann lud er Marena auf seine Schulter und schleppte sie aus dem Haus.


"Sind wir jetzt endlich da?", fragte Marena. "Mir ist heiß, und ich bin müde."
"Einen Augenblick noch." Aasen führte sie zum Rand des Steinbeckens. Das Rauschen war jetzt so laut, dass er seine Stimme hob, als er sagte: "Stell es dir erst vor, bevor du schaust."
Marena hielt einen Moment lang lächelnd inne, und Aasen sah, wie sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern bewegten.
Es war beinahe ein geheimer Ort. Touristen kamen nicht hierher, und auch Einheimische ließen sich nur selten blicken. Es mochte daran liegen, dass die Kaskaden in keinem Reiseführer erwähnt wurden und nur durch einen mühevollen Aufstieg zu erreichen waren – dieser einsame Platz schien aus der Zeit gefallen zu sein.
Marena öffnete die Augen und starrte auf das Wunder. Der Wildbach stürzte weiß und blendend über einen mehr als dreißig Meter hohen Katarakt herab, sammelte sich in mehreren Gumpen und floss dann in einer steinigen Rinne talwärts durch den Wald. Die Luft war erfüllt vom Klang der sprudelnden Becken und von der Frische zerstäubten Wassers.
"Los, lass uns reingehen", rief Aasen, warf seinen Rucksack und seine Kleider auf den Waldboden und ließ sich in das größte der steinernen Becken gleiten. Marena lachte, zog sich aus und folgte ihm.
Umschäumt vom gurgelnden Quellwasser bespritzten sie einander, lachten und spielten wie die Kinder.
Später am Nachmittag saßen sie beim Picknick auf einer Decke und betrachten den Wasserfall.
"Hier wäre ein idealer Platz für ein Haus", sagte Marena mit vollem Mund.
Aasen wackelte unentschieden mit Kopf. "Ich weiß nicht", sagte er. "Zu weit vom Strand entfernt."
"Hm, und wahrscheinlich würde uns auch niemand besuchen, wenn man dafür erst den Berg raufsteigen muss."
"Uns?", sagte Aasen und hob gespielt vorwurfsvoll die Brauen.
"Keine Angst", erwiderte Marena lachend. "Ich spinne nur rum."
Sie schwiegen, und in der Ruhe des Waldes stieg der Gedanke einer gemeinsamen Zukunft empor. Aasen hatte bisher nie über die Gründung einer Familie nachgedacht. Wenn aber doch, so ging es ihm durch den Sinn, während er Marena betrachtete, dann wäre sie die Richtige.


Aasen erwachte von einem scharfen Klicken – ein Magazin rastete ein, dann wurde eine Pistole durchgeladen. Er fuhr hoch und sah Marena im fahlen Schein des dämmernden Tages. Sie kauerte in einem Winkel des Raumes, den Lauf ihrer Pistole im Mund.
Er hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. In den Wochen nach Marenas Befreiung aus Bischoffs Gewalt war ihm klargeworden, dass sein Plan einen gravierenden Fehler aufwies: Er hatte sich nie gefragt, ob sie überhaupt befreit werden wollte.
Anfangs hegte er die Hoffnung, ihre Distanziertheit und dieses entnervende Schweigen wären lediglich Symptome einer vorübergehenden Verwirrung. Doch Monate vergingen, und Aasen verstand, dass Marena innerlich zerbrochen war. Sie redete nur, wenn er sie direkt ansprach, und selbst dann waren es nie mehr als ein paar Worte. Sie weinte nicht, sie lächelte nicht. Ihr Gesicht kannte nur den einen, immer gleichen Ausdruck – die Miene eines Menschen, der sich in sein Schicksal fügte.
Widerstandlos ließ sie sich von Aasen in die grundlegenden Techniken des Überlebens einweisen: Bewegung in offenem und verdecktem Gelände, Nahrungssuche, Waffengebrauch, Bau von Notunterkünften, Identifizieren von Feinden, Navigation, Wasseraufbereitung. Marena lernte, woran man ein gesundes Tier erkannte, wie man es erlegte, zerteilte und zubereitete. In den Städten existierten Märkte, auf denen Lebensmittel als Tauschware gegen Munition, Diesel oder Batterien angeboten wurden. Aasen zeigte Marena, worauf sie beim Handeln achten musste.
Ohne Interesse rekapitulierte sie die Prozeduren der Reinigung und Pflege von Gewehr und Pistole und übte sich im Schießen auf Flaschen und Blechbüchsen. Aasen brachte ihr bei, die Stellungen der Milizen zu umgehen, die überall im Land Stützpunkte errichtet hatten.
Doch über diesen gemeinsamen Aktivitäten lag schwer Marenas Schweigen, und ihr Unvermögen, sich aus der Erstarrung zu befreien, brachte Aasen beinahe um den Verstand. Da aber alles Zureden wirkungslos blieb und es auch nichts nützte, Marena zu drängen, verlebten die beiden ihre Tage in zermürbender Sprachlosigkeit.
So würde ihre gemeinsame Reise nun enden, mit der obszönen Geste einer tödlichen Fellatio.
Aasen senkte den Blick. "Warte bitte einen Moment. Ich möchte das nicht sehen."
Er erhob sich von der Lagerstatt, durchquerte den Raum und sagte: "Mein Bedarf an traurigen Bildern ist gedeckt, es reicht für drei Leben."
Als er die Tür erreichte, hörte er Marenas Stimme: "Du hast ernsthaft geglaubt, wenn du mich da raus holst, wird alles wieder gut." Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung. Aasen wandte sich um. Marena hatte die Waffe gesenkt und sah ihn an.
"Überleben ist das Wichtigste", sagte er.
"Nein", sagte Marena mit Tränen in den Augen. "Da irrst du dich."
Aasen setzte sich auf die Schwelle. "Ich verstehe dich nicht. Erkläre mir bitte, was du meinst."
Marena machte eine Geste, die den staubigen Raum, das zerfallene Haus, die Ruinen vor dem Fenster, die ganze zu Grunde gerichtete Welt zu umfassen schien. "Schau dir das hier an", sagte sie. "Du bringst mir bei, wie man einen Hund tötet, zerlegt und zubereitet. Du lehrst mich, Vergewaltigern eine Klinge in die Nieren zu stoßen. Glaubst du, das ist die Welt, in der ich leben will?"
"Es ist die einzige Welt, die uns bleibt. Mit meinen Fähigkeiten werden wir es schaffen."
"Was schaffen, Conrad? Du hast so viel Zeit auf das Training deiner Fähigkeiten verwendet und dabei übersehen, dass ein Leben, in dem man sie täglich anwenden muss, wertlos ist."
Aasen schüttelte den Kopf. "Das sehe ich aber nicht so."
"Worauf hoffst du, Conrad?"
Die beiden schwiegen eine Weile. Durch die Fensterlöcher strömte Brandgeruch, vermutlich räucherte eine Gang irgendwo in der Nähe ein Haus aus.
"Und wie ging es dir in den letzten Jahren?", sagte Aasen. "War das Leben als Bischoffs Sklavin besser?"
Marena sah ihn an, und getroffen von der schrecklichen Erkenntnis dieses Moments sagte sie: "Ja, dieses Leben war besser." Sie suchte nach Worten. "Wenn wir nicht bei Bischoffs Kunden waren, ließ man uns in Ruhe."
Aasen starrte sie ungläubig an.
Marena sagte: "Wir tranken, rauchten, nahmen Tabletten, haben für ein paar Stunden alles vergessen."
Aasen wollte etwas erwidern, doch Marena schüttelte den Kopf. "Geh jetzt bitte raus."
Als er auf die Straße trat, dachte er an ihre gemeinsame Zeit in Spanien. Er sah Marena still im Licht des Morgens am Fenster stehen, während sich hinter ihr Palmenblätter sanft bewegten. Einzigartige Details ihres Körpers – ein Muttermal an der Innenseite des Oberschenkels, die ovale Form der Brustwarzen, die pfirsichfarben schimmernde Vulva – standen jetzt so deutlich vor seinen Augen, als hätte er sie gerade eben erst betrachtet.
Er dachte an einen Nachmittag, den sie damit verbracht hatten, von einem Felsen ins Meer zu springen, erst aus Spaß, dann wie im Rausch. Er dachte an einen menschenleeren Strand in der Nähe von Tarifa, wo sich Marena - nackt bis auf eine Sonnenbrille – mit einer Zigarette zwischen den Lippen vor ihm in die Düne gelegt und masturbiert hatte, bis ein kräftiger Orgasmus ihr Becken wie ein Fieber schüttelte.
Aasen sah Marena ekstatisch tanzend bei der Feria de Agosto in Málaga, und er sah sie lachend auf einem Surfbrett balancieren, bei ihrem einzigen Versuch, das Wellenreiten zu lernen. Es waren Erinnerungen aus einem anderen Leben. Wie viel hätte er dafür gegeben, nur einen einzigen Tag lang in dieses Leben zurückzukehren.
Im dunstigen Licht des Morgens huschte ein Schatten durch die Trümmer. Aasen entsicherte und legte an, doch dann ließ er das Gewehr sinken. Der Wolf schaute ihn an und es war, als erblickte Aasen sich selbst in den Augen des Tiers.

 
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Hallo Jimmy,

das ist schon guter Stoff zum Nachdenken, den Du mir da gibst. Dafür bedanke ich mich, denn das bringt mich weiter. Trotzdem kann ich nicht anders, als in einigen Punkten glattweg zu widersprechen. Vielleicht ist es auch diese Bestimmtheit, mit der Du ein paar Aussagen immer wieder machst, die mich widersprechen lässt. Nur zum Verständnis:

1) Man soll in der wörtlichen Rede immer nur "sagen" verwenden. Falsch. An etlichen Beispielen konnte ich zeigen, dass auch der karge Hemmingway das nicht gemacht hat.
2) Man soll niemals eine Person von ihrem Äußeren her beschreiben. Falsch. Die Weltliteratur ist voll von charakterisierenden Personenbeschreibungen.
3) Elmore Leonard sagte, wenn es wie geschrieben klingt, schreib es neu. Falsch. Der Mann hat entweder keine Ahnung von Literatur oder er weiß nicht, wie Menschen wirklich sprechen.

Als Kind habe ich viel Zeit mit Elektronikbastelein verbracht, und eines meiner Projekte brachte ein Abhörmikrofon (mit Kabel, das meine Eltern natürlich entdeckten) hinter das Sofa im Wohnzimmer. Als Freunde meiner Eltern zu Besuch waren, hörte ich das Gespräch der Erwachsenen ab und protokollierte schriftlich mit. An diesem Nachmittag begriff ich zum ersten Mal, wie extrem sich die gesprochene Sprache von den Dialogen in Büchern und Filmen unterscheidet, und dass mit dem, was ich da protokolliert hatte, kein Leser etwas anfangen könnte.

Den meisten Dialogen in Buch und Film ist anzumerken, dass sie geschrieben wurden. Es geht dabei nicht nur um die vielen Versprecher der gesprochenen Alltagssprache, um die Unterbrechungen, Wortdreher, die häufig verwendeten platten Phrasen, das Genuschel, das Gebrumme, die Grammatikverhaspler, das ganze Kuddelmuddel, das man so täglich hört und von sich gibt. Es geht auch darum, dass reale Dialoge nur selten so auf den Punkt kommen, wie das ein Autor braucht, um eine Geschichte zu erzählen. Reale Dialoge verirren sich so oft, dass man den Leser nur ermüden würde, wenn man das eins zu eins seitenlang in den Text brächte. Absoluter Realismus ist unmöglich, und der entsprechende Versuch endet in einer Sackgasse.

Ich würde den drei Punkten als Empfehlungen zustimmen, nicht aber als eiserne Regeln. Vielleicht habe ich etwas nicht verstanden. Es ist ja eine Sache, wie man die Literatur der Vergangenheit bewertet und eine andere, wie man heute schreiben sollte. Lege ich Deine Regeln zugrunde, wären Mobby Dick, Die Liebe in Zeiten der Cholera, Der Spion der aus der Kälte kam Musterbeispiele für schlechte Literatur, Beispiele dafür, wie man nicht schreiben darf: Ausführliche Beschreibungen von Personen, Landschaften, Handwerkstechniken, langatmige Exkurse, Rückblenden, Reflexionen, Dialoge, so scharf wie eine Messerklinge (niemand kann so sprechen) usw. usf. Vielleicht beziehst Du Dich auf eine andere Literatur, auf die, die man Deiner Meinung nach jetzt schreiben sollte, denn die bereits bestehende kannst Du nicht meinen.

Beste Grüße
Achillus

 
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Nochmal ich,

es geht mir nicht darum, Recht zu behalten, oder Recht zu haben. Hier steht dein Text zur Diskussion, und es bleibt ja auch deiner, du entscheidest, was du damit tust. Was ich jedoch nicht ganz verstehen: Du machst da so eine vollkommen rationale Sache draus, widerlegst Argumente, vergleichst deinen Text mit Werken der Weltliteratur, die genauso verfahren haben - also, wenn du so eine genaue Vorstellung hast, die auch noch unwiderbringlich steht, die sich manifestiert hat, dann frage ich mich, was du hier eigentlich möchtest? Ich sage nicht: Schreibe den Text um, denn so ist er schlecht. Ich sage: Für mich würde er besser funktionieren, wenn du es versuchen würdest, ihm eine andere Ebene zu geben, ihn anders zu gestalten. Du musst das nicht tun. Du kannst sagen: Alles Schwachsinn. Gut. Niemand fordert dich auf dazu, es gibt keine Regeln. Ich äußere einfach nur eine Meinung, über die du nachdenken kannst, aus der du etwas Positives ziehen kannst. Dies hier ist kein Wettstreit im Argumentieren. Ich lasse mich da auch nicht drauf ein. Ich könnte jetzt X Beispiele bringen, in der Weltliteratur, wo genauso geschrieben wurde. Tue ich nicht. Hier geht es nicht um Weltliteratur, ich denke, da sind wir alle noch ein gehöriges Stück von entfernt, und so vermessen möchte ich nicht sein. Es geht um deinen Text, und ich empfinde es so, dass du diesen, so wie er ist, rechtfertigst. Das musst du gar nicht. Du kannst ja tun und lassen, was du möchtest. Du versuchst dann aber, mit Argumenten zu untermauern, dass du in der Sache Recht hast und auch behalten wirst, und ich finde das etwas konträr zum Anliegen dieser Seite, nämlich der freien Textkritik. Versteh mich nicht falsch: Ich bin hier, um weiterzukommen. Wenn ich eine Kritik kriege, dann beschäftigt mich das, und zwar sehr. Ich mache mir Gedanken, wie der Leser etwas aufnimmt, wie es ankommt, ob es guter Stil ist oder nicht, weil ich mir ziemlich sicher bin, kein vollendeter Autor zu sein. Noch lange nicht. Sonst wäre ich nicht hier, wir alle nicht.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Jimmy, danke, dass Du noch mal geantwortet hast. Mit dem letzten Post ist die Sache aufgeklärt.

Ich sage: Für mich würde er besser funktionieren, wenn du es versuchen würdest, ihm eine andere Ebene zu geben, ihn anders zu gestalten.

Das kann ich so natürlich annehmen und danke Dir dafür. Ich hatte es missverstanden, so als würdest Du über objektive Kriterien reden, die generell für Literatur allgemein oder Kurzgeschichten speziell gelten. Ich weiß jetzt, dass Du eher Deine persönlichen Vorlieben beschrieben hast.

Ich stimme Dir auch konkret auf den Text bezogen darin zu, dass sowohl Dialoge als auch Bilder noch lebendiger werden sollten.

Vielen Dank für Deine Zeit und Deine Hilfe.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

ich habe Deinen Text vor ein paar Tagen gelesen und er hat mir gut gefallen. Eigentlich lese ich so lange Texte nicht in Foren, aber Deinen wollte ich zu Ende lesen.

Du hast einen tollen Einstieg. Ich weiß gleich wo ich bin: Berlin. Und das es nichts mehr mit dem Berlin meiner Zeit zu tun haben kann. Das Bild der zerschossenen Attika und der Farbe der Asche ist toll!

Die Rückblenden stören überhaupt nicht! Ich finde die Übergänge gut und lese die Erinnerungen als Flucht in die Welt, die Aasen nicht wert schätzte, Marena verkörpert den Verlust, den er jetzt wahrnimmt.

Marena, das war der andalusische Sommer am Strand. Marena, das war der Klang des Meeres.

Der Text funktioniert ohne die Rückblendung nicht!

Was mir an den Übergängen gefallen hat, ist der Bezug von einer zur nächsten Szene:

Angewidert vom Geruch des faulenden Wassers ließ er sich in den Überlauf gleiten. Er hielt das Gewehr mit gestrecktem Arm trocken und war mit ein paar Zügen auf der anderen Seite.
Nicht nach unten sehen, dachte Aasen und hob den Kopf.

Aasen ging zur Tür und spähte hinaus. Dann lud er Marena auf seine Schulter und schleppte sie aus dem Haus.
"Sind wir jetzt endlich da?", fragte Marena. "Mir ist heiß, und ich bin müde."

Ich finde den Vorschlag von Dion gut, in den Rückblenden nicht nur die Liebesgeschichte abzuarbeiten, sondern auch darzustellen, was in der Welt eigentlich passiert ist. Marena erwähnt es nur einmal

Irgendwann werden die Leute aufeinander schießen

Das was ich jetzt schreibe, klingt vielleicht absurd, aber ich finde

"Ich finde, wir Europäer haben dort nichts zu suchen", sagte Marena. "So, wie wir im Irak nichts zu suchen hatten und auch nicht in Vietnam."
"Die Amerikaner waren in Vietnam."
"Und davor die Franzosen."
Als sie San Fernando erreichten, stritten sie heftig.

zu politisch. Ich fände es besser, wenn die apokalyptische Welt aus einem Werte-/Moralverlust heraus erklärt wird und nicht mit den Auslandeinsätzen. Zumal ich mich gefragt habe, was macht ein Kampfschwimmer in Afghanistan? Ich räume aber ein, dass mein militärisches Wissen gegen null geht.

Den Streit finde ich aber wichtig! Mein Vorschlag, die Szene auf den inneren Konflikt von Aasen aufbauen.

Es brauchte nicht Marenas Attacken, um sich zu fragen, welcher Wert seinem Beruf über das unmittelbare Hier und Jetzt hinaus zukam. Was hatte er bei den Kampfschwimmern gelernt? … Was würde er mit diesem Wissen anfangen, wenn seine Dienstzeit beendet wäre?

Denn all das was er in seiner Ausbildung zum Kampfschwimmer lernt, ist das Wissen, dass ihn in der zerstörten Welt leben lässt, er ist aber auch Teil der Zerstörung. Marena hätte ihre Haltung in der Szene nicht verloren.

In Bezug auf die apokalyptische Welt: Ich musste auch an The road von Cormac McCarthy denken. Ich will das nur erwähnen, weil in dem Buch die Welt (auch) irreparabel zerstört ist – vielleicht kennst Du das Buch ja? Nicht genannt wird, was die Welt so zerstört hat.

Es gibt Passagen, die haben mir richtig gut gefallen, hier nur ein kleiner Auszug: Der personifizierte Wind, der Marenas Haare zerzaust, das ist großartig.

Fahrtwind zauste in ihrem Haar

Als Marena erwähnt

“Hier wäre ein idealer Platz für ein Haus", sagte Marena mit vollem Mund.

finde ich Marena richtig toll. Ich würde auf gar keinen Fall so weit gehen und sie naiv nennen. Sie ist unkompliziert, das mag ich an Deiner Figur. Man könnte vielleicht so weit gehen, sie einfach zu nennen, aber nicht naiv. Nur Aasens Gedanken mit dem Kinder kriegen finde ich hier zuviel.

Zu Marenas Stimme:

Ich will, dass du anfängst, über das nachzudenken, was du tust.
Deshalb sollte ich also heute den Rock anziehen

Ich glaube nicht, das Marena das „so“ sagen würde, das ist zu verschachtelt. Die Sprache passt einfach nicht zu der Figur, die ich mir vorstelle.

Zieh keinen BH drunter.

Der "BH" sprengt alle Erotik. Ich fände es besser, wenn Aasen aus der Handlung - Marena zieht sich an - heraus sagen würde: "Lass ihn weg!"

Bei der Szene wird mir ganz klar, dass die beiden eine sexuelle Beziehung zueinander haben und es stört nicht, dass sie ansonsten so unterschiedlich sind. Für ihn ist Marena ein wahrgewordener Männertraum

Marena - nackt bis auf eine Sonnenbrille – mit einer Zigarette zwischen den Lippen vor ihm in die Düne gelegt und masturbiert hatte

und das ist auch das, was sie bleibt. Sie haben ja keine gemeinsame Zukunft – in guten wie in schlechten Tagen, deswegen passt das auch mit den Kindern nicht.

"Deshalb sollte ich also heute den Rock anziehen?"
Aasen hatte ihr Höschen herabgestreift

Hier fände ich ein Rückbezug auf den fehlenden BH gut. Oder aber die einfache Erwähnung, „deswegen der Rock“.

Das hatte Hartmann bestätigt.

Hier habe ich mich gefragt, wer ist Hartmann? Wenn Hartmann irgendwas bestätigt hätte, dann hätte Aasen ja mit ihm gesprochen, aber wann?

Jetzt noch zwei Kleinigkeiten:

Hundekadaver, über dem die Fliegen schwärmten
Wieso schwärmen und nicht schwirren? Ist Dir das zu gewöhnlich?

Hier fehlt ein „e“

Reisführer

Das waren meine Gedanken zu dem Text. Wie es ist, sobald der Text draußen ist, geht er in den Köpfen der Leser weiter und meine Anmerkungen sind nur meine Vorstellungen, die ich Dir schreiben wollte. Ich glaube Du hast lange an dem Text gearbeitet und das gefällt mir als Leser sehr. Danke für den Text.

Grüße, Nina

 
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Hallo Nina,

vielen Dank für Deinen Kommentar und Deine Hinweise. Ich mag das Lesen von umfangreicheren Texten im Forum auch nicht, weil mich das Hintergrundbild und die Seitenlinks stören. Deshalb kopiere längere Geschichten und wandle sie in ein PDF um. Vielleicht hilft Dir das auch.

Über den Einstieg habe ich lange nachgedacht und die ersten Zeilen dann bestimmt ein Dutzend mal überarbeitet. Ich wollte, genau wie Du es schreibst, dass man sofort weiß, dass es in Berlin spielt, aber auch, dass da etwas nicht stimmt (Ruine des Brandenburger Tors). Es war mir außerdem wichtig, Aasen gleich am Anfang anhand seiner Verhaltensweisen zu charakterisieren.

Die Rückblenden sind ein wesentliches Element der Geschichte. Ich sehe es so wie Du, dass die Geschichte ohne den zweiten Strang (Spanien) gar nicht funktioniert. Zumindest würde das den Schwerpunkt komplett verschieben.

Was die Übergänge betrifft, da haben sich manchmal ganz zufällig interessante Kombinationen ergeben. Ich fand das auch spannend und reizvoll, so plötzlich aus der Apokalypse in das milde Spanien zu wechseln und zurück.

Zur Frage der Erklärung der Apokalypse bin ich immer noch unschlüssig. Es kommen jetzt immer mehr Meinungen auch aus meinem Bekanntenkreis zu der Geschichte herein und die Mehrheit hält die Beschreibung der Ursachen für irrelevant. Das war ja auch meine ursprüngliche Idee. Ich habe zwar beim Schreiben eine vage Idee von diesen Entwicklungen, aber für die zentralen Fragen in der Geschichte spielen sie keine Rolle. Ich glaube, dass der Wunsch, die Ursachen zu erfahren einfach aus Neugier resultiert. Das verstehe ich natürlich, aber es ist nicht die Aufgabe eines Autors die Neugier des Leser zu befriedigen, sondern eine Geschichte stringent zu erzählen. Deshalb tendiere ich dazu, das nicht mitreinzunehmen.

Die Geschichte ist ohnehin für mich abgeschlossen. Ich freue mich trotzdem über Verbesserungsvorschläge, weil mir das zeigt, was man beim nächsten Projekt besser machen könnte, aber eine Geschichte umzuschreiben, ist oft schwieriger, als was Neues zu machen.

Zur politischen Diskussion zwischen Marena und Aasen. Du hast recht, so ganz passt es nicht zu Marena. Das Gespräch sollte nur zeigen, wie wenig Verständnis Marena für Aasens Beruf hat.

Die Kampfschwimmer der dänischen Marine (Frømandskorpset) waren ab 2001 zusammen mit anderen Spezialeinheiten in Afghanistan. Kampfschwimmer sind nicht nur Experten bei amphibischen Operationen, sie haben umfangreiche Kenntnisse in den Bereichen Sprengtechnik, Scharfschützenwesen, Ausheben von Posten usw. Deshalb kann man sie auch in einem Wüstenland einsetzen, obwohl das erst einmal eigenartig klingt.

Die Erzählung The Road kenne ich nicht. Aber es klingt spannend. Werde ich mir zulegen.

Nina, vielen Dank für Deine Hinweise. Über Deinen Kommentar und das Lob habe ich mich sehr gefreut.

Beste Grüße
Achillus

 

Der Wolf schaute ihn an und es war, als erblickte Aasen sich selbst in den Augen des Tiers.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schließt der Absatz übers „Asyl für Obdachlose“ in Adornos „Reflexionen über das beschädigte Leben“ [Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Aph. 19] und die an sich eine Idylle verheißende Überschrift vom Klang des Meeres,

lieber Achillus,

liest sich wie eine apokalyptische Bebilderung der Veröffentlichung von 1951, wobei – selbst für mich überraschend – Marena gegen Ende der Geschichte in ihrer Relativierung von guten und schlechten Lebensweisen das Zitat hätte aussprechen können. Über-Leben ist sicherlich Voraussetzung zu einem „richtigen“ Leben, aber nur nacktes Überleben kann kein richtiges sein und der Mensch wird dem Menschen wieder ein Wolf – ob er nun zuvor mit den Wölfen geheult hat oder als Einzelgänger/-kämpfer sich dem Rudel entgegenstellt. Schon der Name des Protagonisten ist eine Substantivierung des Verbs aasen, das hinwiederum aus dem Aas gebildet ist, uns heutigen der tote Körper, der Kadaver. Dabei fallen hierbei zwei Wörter zusammen: das uralte az, ahd. = Essen, Speise, Futter und as = Fleisch eines toten Körpers; Fleisch zur Verfütterung an Hund und Falken (vgl. auch altenglisch æs und æt). Bezeichneten die Gerber und Kürschner das Schaben des Fleisches von den Häuten als aasen, so hat es heute auch den Sinn der „Verschwendung“ an sich. Und Dein Vorblick auf eine vielleicht gar nicht so weit entfernte Zukunft zeigt eine solch „aasende“ Gesellschaft.

Gelegentliche Spuren von Flüchtigkeit sind zu erkennen, wie hier, wo das Personalpronomen und der Name des Prot gleichzeitig um den Satz ringen

Aasen näherte er sich dem Schacht und roch die Ausdünstungen der Kloake.

Die Ammoniakschärfe trieb ihm Tränen in die Augen.
Ist das farblose Ammoniak nicht immer stechend scharf (und besonders auch für die Nase)?

Gelegentlich, wie hier (bei Aufzählung gleichrangiger Adjektive) wäre ein Komma nachzutragen

…, und als er die Gestalt eines fetten[,] alten Mannes sah, …

Oder die Schreibweise zu korrigieren
Ihr Makeup konnte kaum kaschieren, …
Make-up

…, sagte Bischoff[,] nachdem er sein Glas auf den Tisch gestellt und ein Bein über das andere geschlagen hatte.

Sie redete nur, wenn er sie direkt ansprach[,] und selbst dann waren es nie mehr als ein paar Worte.

Schließlich stolper ich über ein nur verstörendes – vielleicht sogar gelungenes Bild - zweier wellenartiger und doch gegensätzlicher Bewegungen, die zudem zwei grundverschiedene Sinne ansprechen – Licht und Schall:
Doch über diesen gemeinsamen Aktivitäten lag wie ein böser Schatten Marenas Schweigen, …
An sich sind – ausgenommen in Mythos und Schattenspiel – Schatten stumm. Aber kann Schweigen das dunkle Abbild des Lauts sein? Im gleichen Absatz findet sich vielleicht die Lösung in der Aasen „zermürbenden“ Sprachlosigkeit. Marenas Schweigen lastet auf ihm, zerrt an seinen Nerven. Schweigen lässt sich zwar nicht in Gramm messen und vermag doch einen schwer zu belasten.

So viel oder wenig vom

Friedel -
der Dich bestimmt nicht zum letzten Mal besucht hat

 

Hallo Friedrichard, vielen Dank für Deinen Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe.

Das Adorno-Zitat geistert mir seit etlichen Jahren immer mal wieder durch den Kopf. Ich habe mich viele Male an der Kompromisslosigkeit dieser Äußerung gerieben. Man könnte eine Menge dafür und auch dagegen sagen, aber Marena in meiner Geschichte beschreibt Ansprüche an das Leben, die von der zerstörten Welt nicht mehr erfüllt werden können. Ich kann das auf der emotionalen Seite verstehen, aber ich tendiere eher zur Position Aasens: Überleben ist das Wichtigste – erst einmal zumindest. Alles andere wird sich finden.

Ist es nicht letztlich eine Unterstellung (Marenas), dass man in einer zerstörten Welt keinerlei Glück finden kann? Zerstörte Welten lassen sich möglicherweise wieder aufbauen. Auf ein Ende kommt ein neuer Anfang. Zu meinen, ein befriedigendes Leben sei nur möglich, wenn die Bedingungen x,y,z gesichert wären, geht für mein Verständnis an der Wirklichkeit vorbei: Die menschliche Spezies existiert seit 200.000 Jahren, und den größten Teil dieser Zeit haben ihre Vertreter mit Naturkräften gerungen und sich untereinander die Schädel eingeschlagen. Zu meinen, ein menschliches Leben sei unter primitiven Bedingungen unmöglich, ist wirklichkeitsfremd.

Sehr schön und aufschlussreich fand ich Deinen Hinweis zur Etymologie des Namens von Aasen.

Die von Dir genannten Fehler habe ich korrigiert, auch dafür dafür vielen Dank!

Beste Grüße
Achillus

 

Das Adorno-Zitat geistert mir seit etlichen Jahren immer mal wieder durch den Kopf.
neben dem Satz, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr geschrieben werden dürfe, das bekannteste Zitat ist und es dabei – wie beim Auschwitz Zitat, das genau lautet „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch", - auch schon mal falsch wiedergegeben wird, wenn’s dann auf einmal heißt „„Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, weil mancher nicht kapiert, dass es ein richtiges, selbstbestimmtes Leben und ein fremdbestimmtes – etwa zum Wohle der Wirtschaft – gibt.
Da bin ich nochmals,

lieber Achillus,

aber Deine Frage

Ist es nicht letztlich eine Unterstellung (Marenas), dass man in einer zerstörten Welt keinerlei Glück finden kann?,
zielt schon in die richtige Richtung, schließlich heißt der Aphorismus „Asyl für Obdachlose“ und ist wenig Jahre nach der Dialektik der Aufklärung geschrieben worden, die den Absturz der Aufklärung in Barbarei bis hin zur Apokalypse darstellt, vielleicht die von Dir beschriebene Welt. Allemal ist zu überleben Voraussetzung des Lebens überhaupt, aber der Kampf ums Dasein ist sicherlich kein Glücksmoment.
Selbstverständlich kannten unsere Vorfahren (wie auch der Homo sapiens neandertalensis und frühere) auch so was wie „Glück“. Von benachbarten Bantu, Buren und Briten sind seinerzeit die Buschleute vernichtet und / oder verdrängt worden. Die Kung – einer der überlebenden Stämme – hat sich in der Kalahari auf ein einfaches Leben als Wildbeuter eingerichtet und wehrt sich inzwischen gegen die aufdringlich schöne neue Welt der westlichen Zivilisation.

Archäologen haben eine (gotische) Inschrift aus dem 2. Jh. (also lange vor Ulfilas), die in unsern heutigen Buchstaben „auja“ lautet mit Glück übersetzt. Im 4. Jh. findet sich ein „audahafts“, wobei uns heutigen nicht schaudern muss, bedeutet es doch „beglückt, begnadigt, beseligt und selig“, aber es findet sich noch bis heute ein Wort, das neben dem Unglück auch Drangsal / Last / Mühe / Mühsal / Not / Werk das meint, was jeder ohne allzu große Fantasie da herauslesen kann: „arbaiþs“, Arbeit. Und noch das Nibelungenlied beklagt die „arebeit“ als das, was sie ist in ihrer ganzen Bedeutung.


Gruß und ein schönes Wochenende vom

Friedel

 

Hallo Friedrichard,

ich verstehe den Unterschied vom großen und vom kleinen F in dem Adorno-Zitat nicht. Für mich bestand die Aussage immer darin, dass ein Leben, bei dem die Grundbedingungen falsch sind, das heißt, ein Leben, das unfrei ist oder beschädigt ist oder das auf einer Lüge basiert, niemals ein gelingendes Leben werden kann.

In meiner Geschichte stehen sich ja das "leichte Leben" und der Kampf ums Überleben nach einer Apokalypse als exemplarische Fälle gegenüber. Aasen kritisiert an der entspannten Leichtigkeit der Spanienerlebnisse, dass ihnen der tiefere Sinn und das heißt für ihn die Aufgabe, die Herausforderung fehlt.

Unter den Bedingungen, die in der Dystopie herrschen, mangelt es nicht an Aufgaben und Herausforderungen, und Aasen kommt aufgrund seiner Ausbildung ganz gut zurecht. Dennoch vermisst er jetzt das frühere Leben, die Leichtigkeit.

Wenn man das vor dem Hintergrund des Adorno-Zitats anschaut, kann man durchaus sagen, dass es sehr schwierig ist, überhaupt festzustellen, worin das richtige Leben besteht oder bestehen sollte. Sind Unfreiheit, Niederlagen, leidhafte Erfahrungen, ja sogar Verkrüppelung und Beschädigung von Psyche und Körper nicht letztlich genau so Elemente des richtigen Lebens wie alle positiven Erfahrungen?

Vielen Dank für den historischen Exkurs, das finde ich sehr spannend.

Gruß Achillus

 

Nix zu danken,

lieber Achillus,

und auch nur ein kurzer Versuch auf Deine Frage

ich verstehe den Unterschied vom großen und vom kleinen F in dem Adorno-Zitat nicht.
indem ich Original und Fälschung gegenüberstelle
Es gibt kein richtiges Leben im falschen [Adorno] / Es gibt kein richtiges Leben im Falschen [sonstige]
, hoffend, dass die Unterschiede zwischen falschem Leben und dem globaleren Falschen aufscheint.

Bis bald

Friedel

 

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