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Der kleine Drache
Vor nicht allzu langer Zeit lebte ein kleiner Drache in den eisigen Bergen. Sein Vater hatte die Mutter bei dessen Geburt verlassen. Die Mutter hingegen befand sich meist nur abends in seiner Nähe, da ihre Aufgabe darin bestand, den Kleinen zu ernähren. Die Zeiten waren hart und der Beutefang wurde immer schwieriger.
Ein Schaudern überfiel den kleinen Drachen. Gefühle der Einsamkeit und Hilflosigkeit durchbohrten seine Seele. Gekränkt durch die Tatsache der eigenen Isolation, tappte er aus seiner Höhle. Die Sonne erstrahlte in ihrem schönsten Gelb. Weit und breit waren die Berge und Täler noch bedeckt mit Schnee. Der Frühling rückte immer näher, was er dem lauten Zwitschern der Vögel entnehmen konnte.
Der Drache versuchte seine Gefühle zu unterbinden, doch je mehr er dagegen ankämpfte, desto intensiver wurden sie. Zu dieser Zeit ahnte er noch nicht, dass das Leben ihn auf die wunderbarste Reise schicken würde, die es gab – die Reise zum eigenen Selbst...
Sein Magen knurrte, als ein Rabe angeflogen kam.
“Guten Tag, kleiner Drache“
“Hallo Rabe“, sagte er.
“Wer bist du?“
“Mein Name ist Capellus und ich komme von weit her“, antwortete der Rabe.
Eine kleine Träne entwich dem Auge des Drachen, bis er schließlich sagte: – “Schön dich zu sehen“.
“Warum bist du so traurig?“
“Ich fühle mich einsam...“.
Der Rabe schaute den Drachen mitleidig an und verriet ihm, dass auch er sich einsam fühle, aber im Laufe seines reich betagten Lebens, habe er gelernt, mit dem Schmerz umzugehen.
“Wie geht das? Bring es mir bei!“
“Habe Geduld, mein kleiner Freund. Akzeptiere die derzeitige Situation und kämpfe nicht dagegen an. Mach dir mal Gedanken darüber“, erwiderte der Rabe und setzte zum Abflug an.
Im Innersten seiner Seele fühlte der Drache eine gewisse Erleichterung. Der Mond löste die Sonne ab, und so betrat er seine Höhle. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Freundschaft geschlossen - eine ganz neue Erfahrung.
Als die Sonne am anderen Morgen erwachte, hörte er voller Erstaunen eine Stimme. Wer konnte das sein? Es war Capellus, sein Freund.
“Hast du gut geschlafen kleiner Drache?“
“Ja, antwortete dieser und ich hatte auch einen sehr schönen Traum“.
“Erzähl mir davon“.
“In meinem Traum bin ich geflogen“.
“Warum fliegst du jetzt nicht einfach – Drachen können doch fliegen?“
“Ich bin noch nie geflogen“.
“Das ist ganz einfach. Ich zeige es dir“, sagte Capellus.
Es begann die Zeit des Lernens. Capellus schilderte jedes erdenkliche Detail und der kleine Drache war ein gelehriger Schüler. Nach mehreren Tagen des eifrigen Übens, kam die Zeit, die Lüfte zu erobern. Zusammen mit Capellus, seinem Lehrmeister, hob der kleine Drache ab. Alles erschien ihm jetzt so einfach. Gefühle der Freiheit und Sicherheit überkamen ihn. Keine Gedanken, die sein Innerstes in einen Tropensturm verwandelten, brachten ihn aus der Fassung. Der Flügelschlag war regelmäßig und so kraftvoll, als ob der Drache bis an das Ende der Welt fliegen wollte.
Geblendet von allen neuen Erfahrungen, entging ihm, dass Capellus schon längere Zeit nicht mehr bei ihm weilte. Er beendete seinen Flug und beschloss, eine kurze Rast einzulegen. Ein Felsvorsprung auf einem Bergidyll, kurz vor einer Kleinstadt, bot sich dafür an. Der Drache wurde zum Beobachter des Treibens in diesem Örtchen.
Hohe Türme vernebelten den Horizont und, die Sonne kam vor lauter Qualm nur schwer zum Vorschein. Blecherne Kutschen auf vier Rädern brausten mit wildem Getöse durch den Ort. Zweibeinige Wesen – Erzählungen seiner Mutter zufolge – Menschen - liefen hektisch in ein quadratisches Gebilde, dessen Stimme “Leute kauft – der Preis ist heiß“ verkündete, um es danach vollbepackt wieder zu verlassen.
Für einen zwischenmenschlichen Austausch fehlte ihnen die Zeit. Ein kurzes “Hallo – wie geht’s“, konnte er mancherorts vernehmen. Kaum kamen diese Worte über deren Lippen, wurde die Unterhaltung bereits eingestellt. Sie schüttelten sich gegenseitig noch die Hände und eilten davon.
Am Ende der Kleinstadt ertönte ein schrilles Geräusch. Menschen in blauer und verschmutzter Bekleidung strömten aus, um diesen Ort schnellstmöglich in sämtliche Himmelsrichtungen zu verlassen.
Sein Blick galt einer Grünanlage. Vereinzelte Einwohner gönnten sich den Luxus der Ruhe. Sie ließen sich nieder und schauten auf den malerischen Brunnen in der Mitte. Manche dagegen meinten, dieses Idyll stören zu müssen, indem sie sehr angeregt mit einem Gegenstand sprachen, den sie in ihrer Hand hielten.
Der Drache schaute zum letzten Mal in die Gesichter der Menschen. Die Augen wirkten trüb und spiegelten ihre Anspannung wider.
Er verabschiedete sich von dem Ort des Geschehens. Zu Hause angekommen, ließ er das Erlebte Revue passieren.
Die Gedanken kreisten. Die Hast und die Aufgewühltheit der Menschen erschienen ihm seltsam. Fragen über Fragen zermalmten seinen Kopf. Welche Bestie hetzte sie? Hatte dieses Ungetüm ihre Seele bereits verschlungen? Wurden sie auf Lebenszeit zu ewiger Unrast verdammt oder gab es Hoffnung für sie? Wie können sie diesem Tumult entfliehen?
Verglich er die Kleinstadt mit seiner Höhle, so war er im Paradies angekommen. Weder Lärm noch Hektik quälten ihn.
Seine Einsamkeit fand zwar durch das Erlebte kein Ende, aber er lernte das Leben mit ganz anderen Augen zu sehen. Atemzug um Atemzug inhalierte er die Ruhe.