Der Knochensammler
Behutsam legte er den Rinderschädel auf den Arbeitstisch und begann, ihn mit Lack einzupinseln. Hatte er also doch noch ein nettes Souvenir aus seinem Argentinien-Urlaub mitbringen können. Aber der Schädel war weder eine billige Plastikkopie, noch ein bereits präpariertes Stück aus einem Andenkenladen. Er hatte ihn selbst gefunden, auf einem verwaistem, abgelegenem Feld. Das fleischlose Skelett des Tieres empfand er nicht als furchteinflößend oder widerlich, im Gegenteil. Knochengerüste faszinierten ihn, und aus nächster Nähe erst recht. Auf dem Rückweg kamen ihm ein paar Bauern entgegen. Sie schauten etwas verwundert beim Anblick des jungen Mannes, der einen Rinderschädel spazieren trug wie eine Wasserflasche, sagten jedoch nichts. Bei der Heimreise musste er am Zoll etwas lügen. Er behauptete, er hätte sich mit einem Bauern angefreundet, der ihm den Schädel überlassen hätte. Schließlich schrieb er gerade an einem veterinärmedizinischem Bericht, und Anschauungsmaterial konnte man nie genug haben. So konnte er auch das klären, und nun stand er hier im Keller seines Hauses, um den vergilbten Schädel zu einem attraktivem Dekorationsstück zu machen. Doch hier unten im Dämmerlicht, umgeben von Spinnenweben, die sich wie Fangnetze über die Decke zogen, wirkte der Schädel unheimlich. Der vordere Teil schien ein wehleidiges Klagen auszustoßen, die leeren Augenhöhlen blickten vorwurfsvoll zu ihm auf. Er blickte auf und sah sich um. Er hatte sich hier unten bereits ein makaberes Tiermuseum geschaffen. Hier und da lagen vereinzelte Knochen, die er mittlerweile keiner Gattung mehr zuordnen konnte, er konnte sie nur ungefähr anhand der Größe bestimmen. Vereinzelt gab es ein paar andere Tierschädel, die er ebenfalls mit Lack bearbeitet hatte, sodass sie nun im trüben Kellerlicht glänzten. Sein ganzer Stolz jedoch war das Skelett seiner alten Katze Minerva. Obwohl er das Tier geliebt hat, brachte er es fertig, es so zu sezieren, dass er an jeden Knochen kam, um das Gerüst wieder aufzubauen und aufzustellen. Er war sich bewusst: Als Außenstehender hätte er sich einen Perversen genannt. Es gibt Leute, die so sehr an ihren Tieren hängen, dass sie sie nach ihrem Tod ausstopfen lassen. Aber sie komplett auseinanderzunehmen hatte etwas sehr widerwärtiges. Aber bitte, was konnte er für seine Interessen? Und wenn sie schonmal da waren, mussten er sie auch ausleben. Das könnte natürlich jeder pädophile Vergewaltiger oder Pyromane auch sagen, nur war sein Tick nicht verboten und tat auch niemandem weh - nicht mehr. Er setzte seine Arbeit fort. Behutsam pinselte er den Lack um die Augenhöhlen rum. Verdammt, er wusste nicht warum, aber dieser blöde Schädel war unheimlicher als all seine anderen Sammlungsstücke. Nichtmal die Aktion mit Minerva hatte ihm so einen Schauer über den Rücken gejagt wie den, den er empfand, wenn er in diese leeren Höhlen und auf das langgezogene Maul blickte. Für einen Moment kam ihm ein idiotischer Gedanke. Ob die Weide, auf der das Skelett des Rindes lag, verflucht war? Ob der Schädel gleich grün leuchten und ihm einen Herzschlag verpassen würde? Er lachte freudlos auf. Klar, bestimmt. Und heute Nacht würde ihn dann der ruhelose Geist des Tieres holen. Er sah auf seine Uhr. Er war bei seiner Arbeit so in Gedanken versunken, dass es mittlerweile auf Mitternacht zuging. Zeit, den Schädel in ruhe zu lassen und ins Bett zu gehen. Vorsichtig fädelte er ein Band durch die Augenhöhle und hängte ihn zum trocknen unter die niedrige Decke. Er löschte das Licht, verließ den Raum und schlug die Tür etwas härter als gewollt zu. In der Dunkelheit schwang der Schädel durch den Luftzug sachte hin und her.
Die Leuchtanzeige seines Weckers zeigte halb vier morgens, als er wach wurde. Sein Hals war trocken, sein Gesicht verschwitzt. Offenbar hatte er mal wieder schlecht geträumt - das waren die unangenehmen Nebenwirkungen, wenn man sich das Sammeln und Bearbeiten von Skeletten oder zumindest Teilen davon zum Hobby machte. Er ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Während er an den Spülstein gelehnt das Glas in langsam Zügen austrank, blickte er zur Kellertür. Ihm gingen Gedanken durch den Kopf, die er bis heute nie gehabt hatte. Da unten stand das Skelett von Minerva, dort lagen einzelne Knochen von Hunden, Pferden und Hasen, und dort hing der Rinderschädel in der Luft, an dem der Lack trocknete. Was war an diesem Schädel, dass ihn so sehr verwirrte? Es war nur ein blöder, lebloser Knochen, ebenso wie alles andere, was in seiner Werkstatt stand und lag. Und dann wurde ihm bewusst: Er war allein hier im Haus mit all diesen grausigen Überresten. Wieder dachte er daran, wie er seine Katze sezierte. Wie er feuchte Gedärme und lebloses Fleisch aus dem Körper schnitt, um die Knochen freizulegen. Damals gingen ihm keine Bilder durch den Kopf von dem verspieltem Fellknäuel, das mit fünf Wochen zum ersten Mal seine Katzentoilette benutzte. Das auch im fortgeschrittenem Alter jede Nacht schnurrend auf sein Bett sprang, um sich seine Streicheleinheiten zu holen. Das stets ungeduldig um seinen Freßnapf schlich, kaum dass die letzte Mahlzeit beendet war. Und nun traf ihn all das wie eine Bombe. Er beugte sich über die Spüle und erbrach sich. Morgen kam das ganze Zeug aus dem Haus. Und dann würde er sich ein paar gute Bücher kaufen, ein Instrument erlernen oder das Nachtleben auskundschaften - egal was, hauptsache, ein auf Dauer psychisch zumutbareres Hobby. Durch diesen Entschluß etwas beruhigt, spülte er seine Kotze weg und wollte wieder ins Bett. Dann hörte er einen dumpfen Aufprall aus dem Keller. Nachdem der erste Schreck vorrüber war, wurde ihm bewusst: Sicher hatte das Band nicht gehalten, an dem der Schädel hing. Aber scheiß drauf, jetzt, wo er sein absurdes Hobby fürchten gelernt hatte, würde e rnicht mitten in der Nacht da runter gehen, um ihn wieder aufzuhängen. Das würd eer morgen tun. Und dann würde er den Schädel auch nicht wieder aufhängen, sondern direkt in den Müll verfrachten. Im Keller schabte es leise. Das bedenklichste war, dieses Schaben, das dann doch in ein Kratzen überging, kannte er zu gut. Es war das Geräusch, das Minerva immer verursachte, wenn sie vor einer verschlossenen Tür stand und sich so Einlass verschaffen wollte. Der Boden der Küche wurde pltötzlich um mehrere Grad kälter. Nein, so ein Blödsinn. Das war eine Ratte. Der herunterfallende Schädel hatte sie aufgeschreckt. Auch wenn er nichtmal sicher wusste, ob er tatsächlich Ratten im Keller hatte, musste es so sein. Alle anderen Erklärungen dafür gehörten in einen billigen Horrorfilm, aber nicht in seinen Keller. Das Kratzen wurde aufdringlicher, fordernder. Nun gut, er würde zumindest hinuntergehen, um das Rattenvieh zu erledigen. Das war ihm recht, solange der Körper des Tieres samt Knochen danach im Müll landete. Langsam öffnete er die Tür zum Keller und knipste auf der Treppe das Licht an. Es roch hier unten nach typischem Kellergeruch, vermischt mit trockenem Lack. Ein Geruch, den er trotz alledem immernoch angenehm fand. Das Kratzen war immernoch da, logischerweise nun auch lauter, aber keine Ratte war zu sehen. Dafür hörte er nun etwas anderes. Ein hohles Pfeifen. In etwa das Geräusch, das entsteht, wenn man in eine Flasche bläst. Möglich, dass hier irgendwo Wind durchzog. Das Geärusch kam, ebenso wie das Kratzen, aus seiner Werkstatt. Unschlüssig starrte er die Tür an. Zwei unheimliche Geräusche, und beide kamen aus dem unheimlichstem Raum in diesem Haus. Er gab sich eine mentale Ohrfeige. Da drin randaliert eine Ratte, und der Wind heult durch irgendeine Ritze, klarer Fall. Und nun gehe ich da rein und löse das Problem. Wenn nötig, vermeide ich es, die Knochen anzugucken, aber diese Kleinigkeiten bringen mich jetzt nicht um den Schlaf, verdammt. Er zog die Tür auf und tastete innen nach dem Lichtschalter. Auf dem Boden leuchtete etwas. Es waren zwei orangene Kreise. Von ihnen ging ein Heulen aus, dass ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Auf dem Boden vor ihm maunzte etwas leise, bevor es seine Krallen in seine nackten Waden schlug. Er sah langsam nach unten, schrie auf, und ließ den Verlust seines Verstandes einfach Überhand gewinnen.