Mitglied
- Beitritt
- 12.03.2020
- Beiträge
- 534
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Der Konstrukteur
Das Institut bestand aus drei Gebäuden. In einem Zimmer im Erdgeschoss saßen ein Junge und ein Mädchen auf einem alten Sofa. Eine Stehlampe verströmte grünes Licht, das an leuchtende Smaragde erinnerte.
„Ich muss dir was erzählen. Hast du schon von dem Neuen gehört?“, fragte das Mädchen von etwa zwölf Jahren.
„Nee, was ist denn mit dem?“, antwortete der vierzehnjährige Junge ohne Interesse. Seine schwarzen Haare glänzten grünlich im Licht der Stehlampe.
„Er ist einer von denen, du weißt schon. Aus den Geschichten.“
„Hör auf zu lügen, die gibt’s doch nicht in echt, Mary.“
„Doch, doch. Ich hab‘s gesehen. War direkt vor mir, die ganze Küche hat gewackelt. Und dann hab ich es eben gesehen.“
„Du redest Müll. Hör auf mich zu verarschen! Du weißt, dass ich das nicht mag. Verdammt.“
„Hamburg. Ich hab Hamburg gesehen, war direkt vor mir. Der Sandtorkai.“ Sie strich sich über ihre Haare, die durch ein rotes Haargummi zurückgebunden waren.
„Was redest du da?“
„Johnny, der Neue hat das gemacht. Vor mir hat alles geflimmert. Sogar der Hafen mit einem Feuerwehrboot war zu sehen. Hat sich wie in einem Film angefühlt. Nur, dass da kein Bildschirm war. Wirklich, ich red keinen Müll.“
„Scheiße, er hat das gemacht? Bist du dir ganz sicher?“ Johnny war aufgesprungen, drückte die Arme des Mädchens und schüttelte sie. „Bist du dir sicher, Mary?“
Sie nickte.
„Ich hab‘s selbst gesehen. Er hat Hamburg konstruiert vor meinen Augen. Ganz sicher.“
„Wo ist er?“, fragte Johnny.
Sie gingen einen Flur entlang, an zwei Türen vorbei hinein in ein großes Wohnzimmer. In der Ecke saß ein kleiner Junge mit schwarzen Haaren.
„Hey Billy, ich bin‘s, Mary.“
Der schwarzhaarige Junge drehte seinen Kopf und schaute Mary an. Er nickte kaum merklich. Ihr fielen seine blauen Augen mit dem Silberblick auf.
„Und das hier ist Johnny. Mein Bruder.“
„Hi, Billy“, sagte Johnny. Doch der Kopf von Billy drehte sich wieder zurück in seine ursprüngliche Position. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein. Johnny schaute Mary an und flüstere grimmig: „Der soll das gemacht haben? Niemals!“
„Doch, doch. Es war Hamburg. Warte, ich zeig’s dir.“ Sie trat einige Schritte näher an Billy heran. Dann kniete sie sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ich würd so gerne noch mal Hamburg sehen, das Feuerwehrboot. Meinst du das geht? Johnny hat’s mir eben nicht geglaubt, aber ich hab ihm gesagt, dass das sehr wohl Hamburg war. Wäre klasse, Billy.“
„Keine Lust“, sagte Billy tranceartig. „Bin müde.“
„Und wenn ich dir Kekse besorge? Die magst du doch so gern.“ Billys Augen leuchteten auf.
„Aber dann die ganze Packung. Hol die ganze und dann zeig ich's dir.“
Mary nickte. Sie stand auf, ging zu Johnny.
„Holst du die Kekse? Sind in der Küche, da wo Madame Tuskla sie immer versteckt.“
„Warum ich? Geh du doch. Du weißt wie Tuskla ist, wenn sie das merkt. Das ist doch alles Unsinn, Hamburg kann er nicht zeigen. Er ist kein Konstrukteur.“
„Dann geh ich eben!“
Mary ging aus dem Zimmer und bog nach rechts ab. Sie folgte ihrer Nase, es lag ein Duft nach gebackenem Brot in der Luft. Ihr fiel die Neonleuchte auf, die oben am Gang angebracht war, sie strahlte grünes Licht aus. Mary erreichte die Küche, öffnete die Tür spaltbreit. Eine dicke Frau mit einer Schürze stand vor dem Backofen – Madame Tuskla. Vor ihr lag braunes Backpapier, ihre Hände rührten in einer Schale.
Mary erkannte, dass sie so keine Chance hätte. Die Kekse waren direkt in dem Schrank über Madame Tusklas Kopf. Sie fluchte leise, rannte zurück in das Wohnzimmer. Johnny hatte sich in einen Sessel fallen lassen und schaute auf sein Handy. Billy saß noch immer geistesabwesend in der Ecke, so als würde er einen Film auf einem unsichtbaren Bildschirm schauen.
„Johnny, ich brauch dich. Musst die Tuskla ablenken. Komme nicht an die Kekse.“
„Ach, reg dich ab. Gucke gerade was. Das ist doch eh alles Unsinn.“
Mary riss Johnny das Handy aus der Hand.
„Hey, gib das zurück! Vedammt.“
„Fang mich doch“, sagte Mary und rannte los. Johnny hatte keine Wahl.
„Scheiße!“, stieß er hervor und lief los. Er holte sie kurz vor der Küche ein. Energisch legte er Mary die Hände um den Bauch und schwenkte sie zur Seite.
„Mein Handy. Gib mir mein Handy!“ Mary ließ es über den Boden gleiten, es flog gegen die Küchentür. Johnny verstummte.
„Bist du verrückt? Jetzt kommt die Tuskla“, sagte er leise. Die Tür öffnete sich und Madame Tuskla kam heraus.
„Was ist denn hier los?“, fragte sie ungeduldig.
Mary schaute sie aus unschuldigen Kinderaugen an und erklärte ihr die Situation. "Weil wir so schnell waren, ist es den ganzen Weg zur Küchentür gerutscht.“
„Na so was“, sagte sie streng und hob das Handy hoch.
„Ist es kaputt?“, fragte Johnny besorgt.
„Mit diesen Dingern kenne ich mich nicht aus, aber diese Rumtollerei geht so nicht! Was habt ihr euch denn dabei gedacht, im Flur rumzurennen! Los ihr beiden, wir gehen zum Direktor!“
„Aber, Madame Tuskla, ich bin doch schuld. Der Johnny kann da ja nichts für. Ich geh mich sofort entschuldigen. Der Johnny wollte mich ja beruhigen. Ich nehm das auf mich, ja?“
Johnny nickte zustimmend, dabei entging ihm jedoch der Blick von Mary nicht.
„Bitte, Madame Tuskla“, sagte Mary, als sie noch immer ernst blickte. „Johnny kann ja aufpassen, dass in der Küche nichts anbrennt.“
„Na gut, aber wehe du naschst vom Teig. Das ist alles abgewogen und wenn auch nur ein Gramm fehlt, dann gibt es einen Brief. Verstehen wir uns?“
„Jawohl!“
„Gut. Und du kommst jetzt mit mir. Rumrennen gibt es hier nicht. Das Handy nehme ich mit.“
Nach der Ermahnung des Direktors, bei der Mary artig genickt und sich entschuldigt hatte, ging sie zurück in das Wohnzimmer. Dann gab sie Johnny das Handy zurück.
"Hat es geklappt?“
„Ich sag dir eins, wenn du mich angelogen hast mit Hamburg, dann geht’s dir an den Kragen! Was zum Teufel hat dich da geritten?“
„Gib mir die Kekse. Dann zeig ich’s dir.“ Er gab sie ihr und dann ging sie wieder in die Ecke, wo Billy noch immer verträumt saß. Es schien, als hätte er sich nicht bewegt.
Vorsichtig berührte Mary ihn.
„Hey, Billy aufwachen. Kekse.“
Er öffnete die Augen wieder so, als würde er aus einer tiefen Trance erwachen.
„Danke, Mary.“ Doch als er die Hand danach ausstreckte, zog sie die Schachtel zurück.
„Zeig mir erst Hamburg, dann geb ich sie dir.“
„Dann komm.“
Billy atmete tief aus, drehte die Hände im Kreis. Langsam, fast behutsam bewegte er seinen Körper im Kreis. Dann immer schneller und schneller, bis er Mary an einen Derwisch erinnerte. Er drehte und drehte, währenddessen fing sich die Luft an zu verändern. Sie bewegte sich kreisend, folgte seinen Händen und plötzlich entstand ein grauer Tornado in Miniaturformat. Mary und Johnny schauten gebannt auf diesen Miniaturtornado, der sich ausbreitete und an Größe gewann. Er umfing die drei Kinder, umhüllte sie vollständig und dann begannen die Bilder.
Johnny kam es vor, als wäre er in einem 4D-Kino. Er bewegte sich über die Brücke in Richtung des Kaiserkais. Dann bog er nach rechts ab in Richtung Sandtorkai, sah das Feuerwehrboot im Wasser liegen. Über ihm kreischten Möwen, der Wind fuhr ihm durch die Haare. Und dann vergaß er, dass das nicht die Realität war. Seine Gedanken lösten sich auf, er befand sich im Hier und Jetzt. Die Möwen sind zu laut, dachte er. Als er nach oben schaute, waren die Möwen verschwunden. Er fröstelte und bekam eine Gänsehaut. Was war das hier? Das konnte doch nicht wahr sein? Das Feuerwehrboot war viel zu klein. Auch die Farbe stimmte nicht. Es sollte Rot anstatt Orange sein. Vor seinen Augen vergrößerte sich das Boot, die Bemalung veränderte sich so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er fühlte sich mächtig, hatte zum ersten Mal eine Idee davon, was ein schöpferischer Prozess wirklich bedeutete. Ich will, dass das Bürogebäude vor mir angestrahlt wird von der Sonne. Es soll reflektieren und in allen Farben leuchten. Johnny lächelte. Erst dann fiel ihm auf, dass außer ihm keine Menschenseele unterwegs war. Es war alles leer. Merkwürdig. Ich kann mich nicht einmal an meinen eigenen Namen erinnern. Was will ich eigentlich? Wo will ich hin? Ich weiß es nicht. Ihn überkam Wut. Ich will, dass alle Fenster des Bürogebäudes explodieren. Die Fenster zersprangen mit einem lauten Knall, das gesamte Gebäude begann einzustürzen. Seine Wut verstärkte sich. Jetzt stieg Hass in ihm auf, Hass auf diese Welt. Im nächsten Augenblick zerplatzte das Feuerwehrboot in tausend Stücke, als hätte jemand eine Bombe darin gezündet. Die Straße vor ihm bekam Risse, der Asphalt zersprang als wäre er aus Glas. Alles um ihn herum schien zu zittern, die Stimmen in seinem Kopf schrien jetzt umso lauter. Dann umgab ihn Dunkelheit und er sank in eine tiefe Bewusstlosigkeit.
Als er wieder aufwachte sah er Marys weinendes Gesicht über sich. Sie hatte ein Glas Wasser, das sie ihm versuchte einzuflößen.
„Lass das, Mary“, sagte er zitternd.
„Johnny, was ist passiert? Dachte du wärst tot. Hatte so eine Sorge um dich. Oh, Johnny! Irgendwas muss schief gegangen sein.“
„Was meinst du? Ich kann mich nicht erinnern.“
„Billy hat Hamburg konstruiert, aber ich konnte dich nicht sehen. Und dann hat Billy die Augen verdreht und sich gegen den Kopf geschlagen. Hat dabei die ganze Zeit geschrien und ich bin gar nicht richtig in den Film gekommen wie sonst. Muss irgendwas passiert sein. Und dann ist Madame Tuskla reingekommen. Hat Billy in den Arm genommen, eine Pille rausgeholt und sie dir in den Mund getan. Madame Tuskla hat gemeint, dass du in Gefahr bist. Oh Johnny, ich hatte solche Sorgen.“
Langsam erinnerte Johnny sich an das, was passiert war. Das Feuerwehrboot, das vor seinen Augen zerplatzt war und der Riss in der Straße.
„Hat sie noch was gesagt?“
„Ja, aber das kann ich dir nicht sagen.“
„Mensch jetzt mach doch nicht so ’nen Aufstand. Was war?“
„Johnny, du bist, du bist ein Skarabäus. Das hat sie gesagt. Und sie hat den Sonnengott erwähnt, aber ich hab's nicht verstanden.“
Ein ungläubiger Blick trat in Johnnys Augen. Seine Schultern begannen zu zucken, kurz darauf sein gesamter Körper.
„Nein! Das kann nicht sein.“ Tränen liefen ihm jetzt über das Gesicht. „Weißt du was das heißt, Mary?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Die werden mich wegbringen.“
„Aber warum denn? Du hast doch nichts gemacht.“
„Weißt du, was ein Skarabäus ist?“
Sie schüttelte den Kopf.
Johnny atmete aus, versuchte sich zu beruhigen. Dann sagte er: „Ein Skarabäus gehört zu den Göttlichen. Leute, die in den Visionen anderer gestalten können. Die sind nicht erwünscht. Die alten Druiden waren dafür bekannt, den Skarabäus zu bevorzugen. Um sich besser in die Köpfe der anderen einzugraben, und … ihnen wehzutun. Das kann nicht sein.“ Er vergrub das Gesicht in seinen Händen.
„Mary, die werden mich holen. Hast du gesehen, was das für eine Pille war?"
Mary schüttelte den Kopf.
"Hab nur gesehen, dass sie rot war."
"Das passt. War ein Planet auf der Verpackung?"
"Ich weiß nicht", sagte Mary verängstigt.
"Denke, die Tuskla hat mir eine Mars-Tablette gegeben. Jeder Skarabäus wird der Sonne geopfert, weil sie viel zu mächtig sind. Die werden mich holen, sobald ich schlafe."