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Der Löwe schläft
Denkst du etwa, ich wüsste nicht Bescheid?
Glaubst du vielleicht, wenn du so daliegst, atmest, schläfst, unschuldig wie ein Kind, ich sähe die Verdorbenheit hinter deinen Augen nicht?
Ich kenne dich. Du bist wie alle. Ich erinnere mich. An die Blicke. Die der Männer. Und an deine, die du ihnen schenkst. Du kannst mich nicht täuschen. Wie kannst du mich auch lieben? Was solltest du auch an mir lieben? Außer Bequemlichkeit. Dankbar. Freundlich. Immer für dich da. Soll ich dir wirklich glauben, es störe dich nicht, dass ich hässlich bin, gewöhnlich, spießig und trotz allen Erfolgs noch immer ohne Ziel? Und dennoch legst du dich jeden Abend neben mich in dieses Bett, als wäre es so. Du sagst, du liebst mich. Aber ich sehe dein anderes Gesicht. Ich sehe es, wenn ein anderer dich ansieht. Du ihn ansiehst. Und ich weiß, was du dann denkst: Warum ich nicht so bin wie er.
Dreissig lange Jahre musste ich auf dich warten. In dieser Zeit habe ich sie studiert, kategorisiert, auswendig gelernt, verinnerlicht, die Blicke der anderen Frauen, die durch mich hindurch sehen, kokettieren, aufspießen und fortwerfen, sich ein Lächeln stehlen, Trost, Schutz, Frieden, und ihr Fleisch dann einem Anderen schenken. Du sagst, du liebst mich wie ich bin. Doch du siehst nur das Lamm. Niemals den Löwen. Meine Stärke. Meinen Zorn...
Einst hast du mich gefunden, wie eine Muschel am Strand. Eine wie alle, und doch hobst du mich auf und nahmst mich mit, aus der rauchigen Enge des Strandcafés, hinaus in die Dünen, ans Meer, in den Wind. Friedlich und müde, wie zwei kleine Kinder nach einem langen Spiel, unsere nackten Zehen von der Brandung umspült, baute ich dir ein Schloss, und du nahmst es in Besitz, würdevoll wie eine Königin, und ich war sicher, dass allein dein Blick jedes Sandkorn adelt, dass dein Kuss die Leere zwischen den Sternen füllt, und für diesen einen Augenblick glaubte ich. Die See spülte mir ihren uralten Gleichmut vor die Füße, und ich konnte dich neben mir spüren wie ein warmes Licht in einem dunklen Zimmer. Doch als ich mich dir zuwandte, war dein Blick in die Ferne gerichtet, als suchtest du dort nach etwas Größerem. Und ich verschwand, noch während ich dort stand, wurde verschluckt und unsichtbar, geborgen im Schatten des Zweifels. War gewiss, am nächsten Morgen würdest du fort sein. Doch du bist geblieben, immer noch einen Tag, und hast nicht einmal bemerkt, dass ich nicht mehr da war. Nur noch mein Argwohn. Meine Furcht. Mein Zittern in der Nacht.
Jede Nacht der gleiche Weg, fort von deiner durchsichtigen Haut, von deinem gleichmütigen Atem, der falschen Wärme deines fernen Körpers, durch leeren Raum, der auf mich fällt, durch dröhnende, noble Stille, aus der die teuren schwedischen Möbel herauswachsen wie einsame, eckige Gräser auf unberührtem Dünensand. Erspüren wie die Wände atmen und meine Angst aus mir herauslocken, bis ich in der Küche stehe, kaltes Terracotta unter meinen nackten Füßen, mein Geist zerfließt, während meine Hand Halt findet und der Geruch von längst vergangener Zweisamkeit und das Echo deines Lachens den Löwen wecken. Zwei gelbe Augen, die sich in der Klinge spiegeln, weiche Tatzen, die mich nach oben tragen bis an das Nest der Spinne, die du bist, die du versteckst, die du sein musst, weil ich so bin wie ich bin und die Welt kein Märchenland ist.
Seit du mich liebst, fürchte ich dich. Kann ich dir nicht mehr trauen. Weil du bedrohst, was ich bin, was ich in all den Jahren ohne dich aus mir gemacht habe. Du zerrst mit ganzer Macht an meinem festen Grund aus Angst, stellst mich in ein Licht, das mich verbrennt, rettest meine Seele zu Tode. Ich möchte dich hassen können, weil du diese Gedanken in mir weckst, mich zerreißt und mich so gnadenlos vor dem Ertrinken schützt. Ich möchte dich streicheln, halten, fressen, töten – was ist das für ein Spiel? Wer schickt dich? Und wieso? Ich weiß, in dem Moment, in dem ich glaube, wirst du gehen, nicht früher, damit es mich todsicher zerbricht.
Nun stehe ich hier, wie jede Nacht, lautlos, dunkel, mit gesträubtem Fell, und fühle mein Blut, mein Herzschlag flach und zerknittert wie das Laken unter deiner Hand, spüre, wie die Lüge unseres Lebens mit langen Krallen über meine Seele kratzt, deine Haut, ganz weiß und kühl, schimmert im Dunkeln, der Stahl kühl an meiner Wange und ich frage mich, was er wohl fühlen würde auf deiner Haut unter deiner Haut nah am Kern der mir verschlossen ist will Gewissheit will Frieden deine Seele sezieren dein Fleisch zerreißen wissen wie du von innen aussiehst wie du tickst warum du die Dinge tust die du tust es muss doch einen Weg geben das rauszufinden verdammtnochmal...
Noch nicht. Vielleicht irre ich mich. Vielleicht ist dein Lächeln ehrlich. Deine Liebe echt. Ich lasse noch etwas Zeit vergehen. Lasse sie geduldig verrinnen zwischen uns. Vielleicht bringt sie Frieden. Auf jeden Fall Wahrheit. Meine Sinne sind wach. Meine Krallen scharf. Alles in mir zum Sprung bereit. Mehr noch nicht. Die Zeit des Wissens ist noch nicht gekommen. Deine Chance. Der Löwe schläft. Heute nacht...