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Der Lauf des Schicksals
Danny wusste ohne zu überlegen, wie er die Pistole halten musste.
Die Wolken hingen schwarz und tief mitten in sein Gemüt hinein. Noch hatte es nicht zu regnen begonnen, doch es war keine Frage, dass es jeden Moment losgehen musste.
Beeil dich, dachte er und lachte ein Lachen, das sich wie ein verweintes Taschentuch anhörte. Sonst wirst du noch nass.
Er strich sich seine Haare aus dem Gesicht und sah sich konzentriert den kalten Stahl der Waffe an. Er konnte seine eigenen Augen erkennen; seine rotgeränderten, tiefliegenden Augen starrte ihm entgegen und sie waren ihm nicht fremd. Sie waren ihm das nächste, das auf der Welt existierte.
Elizabeth lag neben ihm im Gras. Sie sah im Tod noch ebenso schön aus wie zu Lebzeiten.
Er steckte den Lauf in den Mund und hielt den Griff der Pistole nach oben, den Daumen der rechten Hand legte er auf den Abzug.
Er kniff die Augen zusammen, holte tief Luft und zog durch.
Ein scharfer Knall, Danny war sofort tot und kippte nach hinten neben seine Frau ins Gras.
Leise begann es zu regnen.
Elizabeth freute sich, als er ihr den Vorschlag machte. Einer der ersten wirklich warmen Tage im Jahr. Temperaturen über zwanzig Grad, Sonne ohne Schleierwolken, nur zum Abend war Regen angesagt. Was lag da näher, als etwas zu essen einzupacken, zu trinken und mit dem Fahrrad hinauszufahren. Die Sonne strahlte, als sie losfuhren.
Den Picknickkorb hatte Danny gepackt, ganz unten das glänzend-matte Metall.
Elizabeth lachte die ganze Fahrt über; doch das hatte nichts zu bedeuten. Sie war auch freundlich, wenn sie miese Laune hatte. Oder ein schlechtes Gewissen.
Als sie aus der Stadt herauskamen, wurde es ruhiger. Es fuhren kaum mehr Autos, die Sonne wärmte kräftig und Schwalben zogen ihre Bahnen hoch oben am Himmel. Sie ließen sich an einem einsamen Flecken nieder, um die mitgebrachten Sachen zu verspeisen. Und der Zeitpunkt rückte immer näher.
Ihm fiel ein, dass es unvermeidlich ist, dem Zeitpunkt seines Todes entgegenzugehen. Die Geburt ist der Startschuss für das Rennen in den Tod, dachte er. Niemand kann dem entgehen.
„Bist du glücklich?“, fragte er unvermittelt und bemerkte ihr leichtes Zögern. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er hastig fort: „Du gehörst mir! Ich werde dich mit niemandem teilen, hörst du! Mit niemandem!“
Elizabeth hatte ihre Fassung wiedergewonnen und aß gleichmütig einen Apfel. Doch ihre Augen – ihre hellen, blauen Augen – verrieten sie.
Danny beugte sich über den Picknickkorb, zog ein Baguette hervor und legte es auf die Tischdecke, die sie vor sich aufgebreitet hatten. Ein großes Stück Käse dazu und endlich eine Flasche Rotwein. Er legte alles vor sich ab und lächelte seiner Frau zu.
Unten auf dem Boden des Korbes – die Pistole. Verdeckt vom Schinken, den er hervorholte und Elizabeth reichte, lächelnd und zitternd.
Als sie ihm den Schinken abnahm, zögerte sie kurz. Sie hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte! Ihre Miene verdüsterte sich und die Augenbrauen verzogen sich soweit, dass sie einem Fragezeichen ähnlich waren.
Bis jetzt war nur Frage ihr Gesicht gewesen, doch als er behutsam die Pistole herausnahm, schlich Entsetzen in ihren Blick. Man konnte zusehen, wie sich ihr Ausdruck änderte, wie er sich einfärbte in schwarz.
Die Augen wussten zuerst.
„Du gehörst mir“, flüsterte er und jetzt verstand sie. „Du gehörst mir. Du gehörst mir! Du gehörst mir!“ Immer wieder und immer lauter, bis er schließlich brüllte und damit die Vögel in den Bäumen aufscheuchte. Und er übertönte Elizabeths Kreischen.
„Du gehörst mir! Du gehörst mir!“
Und endlich, als sein Hals rau war und Elizabeth aufspringen wollte, drückte er ab.
Der Knall verzog sich und es herrschte Totenstille.
Ein paar Vögel flatterten auf.
Kein Mensch stand auf dem Bahnsteig, ein eisiger Wind wehte und das Wetter mahnte eher an einen ungemütlichen Herbst, als an den Frühling. Es war immer noch frostig, höhere Temperaturen waren erst für die kommenden Tage angesagt.
Er stand in das kleine Wartehäuschen gedrängt, die Jacke bis obenhin geschlossen und beobachtete den Zugang zum Bahnsteig. In einer halben Stunde fuhr der morgendliche Pendlerzug in die Stadt, der die beschlipsten, aktentaschenbewehrten Gutes-Geld-Verdiener zu ihrer Tätigkeit bringen würde. Eine Reihe Nadelstreifen-Soldaten würde mit geradem Rücken den Bahnsteig betreten, einen fordernden Blick auf die Uhr werfen und wenn die Bahn eingefahren war, einsteigen, sich seinen Platz suchen und wortlos die Morgenzeitung lesen.
Danny steckte sich eine Zigarette an und rauchte hastig, bevor der Regen sie ausgelöscht hatte oder er an Lungenkrebs verreckt war. Ein alter Eisenbahner kam und öffnete die Schranke zum Bahnsteig. Und als gelte es, einen Sieg einzufahren, drängten sich die ersten Pendler in seinem Rücken, als rangelten sie um die Pol-Position.
Als Danny ihn sah, mischte er sich unter die Reisenden; er fühlte sich wie ein Detektiv, als er sich in seine Spur begab.
Er hatte ihn sofort erkannt: selbst bei diesem Wetter sah der Mann so unverschämt gut aus, dass Danny sich grau fühlte, als er hinter ihm ging.
Gemeinsam warteten sie auf die Bahn, sie standen nebeneinander am Gleis und sahen auf die Uhr. Danny musste sich Mühe geben, ihn nicht zu sehr anzustarren, nicht zu lange in dieses Gesicht zu stieren, ihn nicht anzuschreien, ihn nicht anzugreifen und zu würgen. Zu seiner Beruhigung steckte er die rechte Hand in die Manteltasche und strich mit den Fingerkuppen über das kalte Metall.
Der Zug lief ein. Kein Schnaufen, kein Rattern, nur ein geschäftsmäßiges Zischen, als die Bahn zum Halten kam.
Einsteigen und Platzsuchen ohne große Worte, man hatte sich nicht viel zu sagen am Morgen. Danny sah zu, dass er in der Nähe seines Opfers blieb.
Es erweist sich immer als dienlich, wenn man sich ausreichend vorbereitet; das kann von Schaden nicht sein, zu wissen, was geschehen wird und einen Plan zu haben, wie man reagiert!
Der Mann ging in die Erste Klasse, bezog dort ein einsames Abteil und ließ die Welt draußen, indem er die Vorhänge schloss. Der Zug ruckte, fuhr an und hatte sofort Geschwindigkeit drauf.
Danny nahm in der Zweiten Klasse Platz und wartete zusammen mit einer Menge Fahrgäste auf den Kontrolleur. Es dauerte nicht lange, und seine Fahrschein wurde schweigend abgestempelt und zurückgereicht.
Er wartete einige Augenblicke, bis er in den nächsten Wagen ging, die Tür zu dem Abteil öffnete und die Vorhänge ohne Gnade auseinander zog. Unter den Ärger des Mannes mischte sich ein Gramm Angst, und ebendieses Gefühl hieß für Danny Befriedigung. Du bist ein Mensch wie ich, du hast Angst vor mir, und das wird nicht alles sein! Du bist nicht nur schön und anziehend!
Er schloss die Tür und zog die Vorhänge zusammen, dann setzte er sich dem Mann gegenüber, grinste ihn an und hoffte, dass es selbstsicher und frech wirkte. Danny konnte es sich leisten, der Andere würde nicht mehr davon erzählen.
Der Blick des Gegenüber flackerte unsicher und Danny fühlte die Macht der Unberechenbarkeit. Er labte sich an jeder Geste, die Furcht signalisierte, am kleinsten Muskelzucken, das anzeigte, dass der Andere verwundbar war. Solange die Frage „Was wollen Sie?“ in seinem Gesicht stand, solange würde Dannys Selbstsicherheit anhalten. Es war fast ein Hochgefühl.
Er versuchte mit seinem Blick zu antworten: „Ich werde Sie töten!“, doch der Mann senkte die Lider und schaute in die Zeitung.
Also sprach Danny es aus: „Ich werde Sie töten!“ und der Kopf des Mannes flog hoch: „Was?“
Danny zog die Pistole aus dem Mantel. Er hielt sie steif von sich weg und konnte nicht verhindern, dass ihr Lauf ein wenig zitterte.
Der Mund ein Kreis und die Augen zwei offene Löcher. Es quoll nicht nur Entsetzen hervor, sondern auch Erstaunen – Überraschung und die Frage nach dem Warum.
Danny sah kurz auf seine Uhr – es wurde Zeit, gleich fuhren sie in den nächsten Bahnhof ein. Weitere Pendler würden zusteigen, um in einem Raum voller Schweigen ihre Zeitung zu lesen.
„Sie sind ein Scheißkerl“, zischte Danny.
Und um die Furcht zu steigern, näherte er sich langsam mit der Pistole dem Kopf des Anderen. Dann drückte er ab.
Als er den Zug verließ, trug er das Bild des blutüberströmten Mannes samt Entsetzen in den Augen mit sich auf den Bahnsteig.
Die Wolken hatten sich aufgelockert, es würde bald schön werden.
Die Stadt war grau wie ein Novemberwochenende. Dabei war es Ende Januar und die Menschen erwarteten den Frost.
Danny strich durch die Straßen und der Trübsinn legte sich nicht auf seine Stimmung. Er war heiter, die Schönheit des Tages hing für ihn nicht vom Wetter ab. Sie waren seit einem halben Jahr verheiratet, Elizabeth und er, und er freute sich immer noch auf den Rest des Lebens zusammen mit ihr.
Seine Liste für Besorgungen war fast abgearbeitet. Seine Frau hatte Spätschicht und er würde sie bei der Heimkehr mit ihrem Leibgericht überraschen – Paella. Einige Besorgungen noch und er konnte nach Haus, um mit den Vorbereitungen beginnen.
Die Menschen, die ihm entgegenkamen, waren Kleckse im Grau der Straßen. Wer Kragen hatte, klappte sie hoch, wer Mützen besaß, zog sie tief ins Gesicht. Alle waren sich ähnlich, sie hasteten an ihm vorbei, ohne aufzuschauen. Kein Blick, kein Lächeln.
Warum blieb er an der Scheibe stehen, was hielt ihn auf, was zwang ihn, innezuhalten und durch das Fenster zu schauen? Ein Café, gut besucht zu dieser Stunde, mit heimlichen Pärchen, die Schutz vor der Nässe gesucht hatten. Ein warmer Schein im Innern des Cafés, heimelige Ausstattung und beruhigendes Dekor.
Er ließ den Blick durch den Raum gleiten und fühlte sich wie ein Eindringling, ein Ausgestoßener, dem niemals Einlass gewährt würde.
Dann sah er sie – Elizabeth im Gespräch mit einem Mann. Er hatte ihn noch nie gesehen, doch sofort war er Danny unsympathisch. Er war ein Gockel, ein Stutzer, der viel zu gut aussah, als dass er daraus keine Vorteile ziehen würde.
Zwar war Danny erstarrt, konnte sich nicht bewegen, doch er wollte es auch nicht. Er beobachtete Elizabeth und den Fremden, die sich selbstvergessen unterhielten. Später und bei all seinen Reaktionen würde Danny nicht sagen können, ob es die Blicke waren, die Elizabeth dem Mann schenkte oder erst die plötzliche Geste, mit der sie ihm einen flüchtigen, zärtlichen Kuss auf die Wange hauchte, die ihn die ganze Situation begreifen ließ.
Er prallte zurück.
Und riss einige der grauen Passanten mit; fast wären sie alle hingestürzt. Danny fing sich und hastete davon. Fort nur fort von den Menschen, vom Café, von Elizabeth. Hinaus aus der Stadt, in den Nebel hinein.
Er rannte durch die Straßen, lief spritzend durch die Pfützen und die garstigen Blicke, die ihn trafen, trieben ihn nur noch an. Wie ein gehetztes Tier raste er durch die Stadt, die Menschen stoben entsetzt beiseite wie feuchter Schlamm, ohne dass er sie wahrnahm. Und nach Ewigkeiten endlich schienen seine Lungen zu bersten. Er musste stoppen, beugte sich vornüber und bemerkte, dass er schluchzte.
Die Atemnot auf der einen, Weinkrämpfe, die ihn schüttelten, auf der anderen Seite – er ließ sich auf die Erde fallen und rollte sich wie ein Kleinkind zusammen. So blieb er liegen – ein kleines Bündel auf dem schmutzigen Pflaster – und dann und wann wurde sein schmächtiger Körper geschüttelt, als würde eine höhere Macht an ihm zerren.
Plötzlich hob er den Kopf. Er wusste nicht, wo er war, doch das ließ sich herausfinden. Er stand auf und streckte sich, klopfte notdürftig den Schmutz von seiner Kleidung und ging dann festen Schrittes in die Richtung, aus der er gekommen war.
Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte geradeaus.
„Wer ist da?“
„Elizabeth?“
„...“
„Elizabeth, du bist das?“
„Viktor?...Wie kommt es, dass...Was willst du?“
„Elizabeth – Liz. Ich bin in der Stadt, das heißt nicht weit entfernt. Ich glaube, wir haben uns einiges zu erzählen. Ich will dich treffen.“
„Was willst du? Nach so langer Zeit! Du bist nicht mehr Teil meines Lebens, ich hatte dich fast vergessen. Warum rufst du an? Willst du mein Leben noch einmal zerstören?“
„Ich will nicht dein Leben zerstören, wie kommst du darauf? Ich wollte dir nie etwas böses, niemals. Ich bin zurück, habe mir eine kleine Existenz aufgebaut und will mich noch einmal mit dir treffen.“
„Nein!“
„Elizabeth, bitte!“
„Niemals! Du bist vielleicht der Meinung, du könntest über das Leben anderer verfügen, wie du es möchtest. Es war wohl ein Fehler, sich dir niemals in den Weg gestellt zu haben. Doch es ist nicht zu spät dazu.“
„Elizabeth, bitte. Nur das eine Mal noch, ich will dich einmal nur noch wiedersehen.“
„Viktor, mach nicht kaputt, was ich mir aufgebaut habe. Bitte!“
„Hör zu Elizabeth. Ich habe einen Tisch reserviert in unserem Café. Du erinnerst dich? Morgen Abend um sieben werde ich da sein und dich erwarten. Bis dahin.“
„Das kannst du nicht machen, Viktor. Das...Viktor, bitte. Viktor? Viktor, verdammter Scheißkerl!“
Die Trauung war vollzogen, die Gäste auf dem Weg zur Feier, da waren Danny und Elizabeth, der kleine Danny und die wunderschöne Dame Elizabeth, einen Moment allein.
Danny nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.
„Ich liebe Dich!“ Ohne Pathos und ohne Schmalz, ehrlich und rein.
Und er drückte sie immer fester.
„Oh, Danny! Nicht so doll!“, keuchte Elizabeth. „Nicht so doll! Du erdrückst mich ja!“