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Der letzte Kuchen für Leo
Morgen wird Leo zehn. Sein erster runder Geburtstag. Ich muss ihm unbedingt einen Kuchen backen, koste es, was es wolle. Daher sitze ich vor dem beinahe blinden Fenster am wackeligen Küchentisch, mein zerfleddertes Rezeptbuch vor mir. „Süßes aus aller Welt“ lautet sein Titel. Staubpartikel schwirren durch das diffuse Licht, während ich es durchblättere, aber ich habe keine Zeit fürs Saubermachen, jetzt weniger denn je. Linzer Torte, Donauwellen, Schwarzwälder Kirschtorte, russischer Zupfkuchen, Manhattan Cheese Cake. So viele Süßspeisen sind nach Orten benannt. Aber ob es sie noch gibt, ob dort noch Menschen leben? Ich weiß es nicht, und es ist keiner da, der mir eine Antwort geben könnte.
Letztendlich entscheide ich mich doch für eine klassische Linzer Torte. Anstelle des Gitters werde ich ein Smiley machen. Das wird Leo aufheitern. Hoffe ich zumindest. Wann hat er das letzte Mal gelacht? Ich kann mich nicht erinnern. Schon länger verweigert er jede Nahrung. Wenn ich ihm Wasser einflöße, rinnt das meiste daneben. Apathisch liegt er auf der zerschlissenen Matratze, die Augen geschlossen. Ich bete zu allen Göttern, dass er es schafft; das bin ich meiner Tochter schuldig. Als sie Mara fortzerrten, fixierte sie mich mit ihrem Blick. Pass auf ihn auf, sollte es heißen. Ich lag in der schlammigen Mulde unter der Steinplatte ober dem Haus, zwischen Spinnen und Tausendfüsslern, hielt Leo den Mund zu und hoffte, dass sie uns nicht finden würden.
Die Sonne brennt vom Himmel, obwohl es erst Morgen ist. Zeit, den Weizen zu ernten. Dann will ich den Kuchen backen. Vorerst jedoch brauche ich Wasser; der Blecheimer ist fast leer. Ich hole ihn aus der Ecke, schütte das verbliebene Wasser in ein nicht mehr ganz sauberes Glas und trinke. Das lauwarme Wasser hinterlässt einen erdigen Geschmack. Mit dem Fernrohr kontrolliere ich die Talsohle und die gegenüberliegenden Berge: Keiner zu sehen, gut so. Ich kann mich ins Freie wagen. Schnell wickle ich mir ein altes Tuch um den Kopf – Sonnencreme konnte ich bei meinem letzten Beutezug keine mehr finden – und öffne die Tür aus ein paar zusammengenagelten Brettern. Die heiße Luft legt sich wie ein Mantel um mich und nimmt mir den Atem. Unter meinen zerfledderten Schlappen knirscht das gelbe, vertrocknete Gras. Ich hätte wohl Stiefel anziehen sollen, wegen der ungewöhnlich großen Skorpione, die hier vor ein paar Jahren aufgetaucht sind, mitten im Gebirge. Aber seit einiger Zeit sehe ich auch von denen immer weniger. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen ist oder ein schlechtes.
Ich schleppe mich die Anhöhe zur alten Zisterne hinauf. Manchmal wollen meine Füße nicht mehr, als ob mein Körper sich gegen all das hier auflehnen würde. Dabei war ich in meiner Jugend in jeder freien Minute in den Alpen unterwegs. Kein Gipfel war mir zu hoch, kein Weg zu weit. Irgendwann verschwanden die Gletscher, und mit ihnen auch der Spaß. Schnaufend komme ich an. Die Zisterne ist eigentlich nur ein vier, fünf Meter tiefes Loch im Felsen, in dem sich das Wasser sammelt. Ein paar mickrige Gräser wachsen daneben. Im Staub kann ich Tierspuren erkennen. Rehe oder verwilderte Ziegen? Scheu sind sie geworden, seit die wenigen Überlebenden Jagd auf sie machen. Ich habe mir nie viel aus Fleisch gemacht, außerdem könnte ich das Töten nicht über mich bringen. Während ich den Eimer an das Seil binde, vergewissere ich mich, dass der Knoten fest sitzt. Mehr als einen Eimer habe ich durch meine eigene Nachlässigkeit verloren. Dieser ist mein letzter. Ich lasse ihn vorsichtig ins Dunkel der Zisterne hinuntersinken. Als ich nur noch eine Spanne Seil in den Händen halte, spüre ich endlich Widerstand und höre ein Platschen. Ich bewege das Seil, damit sich der Eimer mit Wasser füllt und ziehe ihn mit einiger Mühe hoch. Eine dunkelbraune, schlammige Brühe schwappt über seinen Rand. Kein Fäulnisgestank wie letztes Jahr, zum Glück. Ein paar Mal durch ein Tuch fließen lassen und warten, sich der Schlamm setzt, dann ist es erträglich.
Während ich zum Weizenfeld gehe, bläst mir ein glühend heißer Wind ins Gesicht. Ich schnuppere. Riecht es nach Rauch? Es wäre nicht das erste Mal, dass die Wälder brennen. Wahrscheinlich entzünden sich die dürren Äste und Gräser von selbst – eine Glasscherbe genügt. Vielleicht legen die Invasoren die Brände auch absichtlich, um die Überlebenden aus aus ihren Verstecken zu locken. Ich lasse meinen Blick über die ausgetrocknete Talsohle und die Berge schweifen, über denen sich der grellblaue Himmel spannt. Gerade erscheint alles ruhig. Zu ruhig. Sogar die Vögel schweigen. Die Stille macht mich nervös. Als auf der Autobahn, die das ganze Tal durchquert, noch Verkehr floss, war stets ein beruhigendes Brummen zu hören. Diese nicht enden wollende Stille kommt mir unheimlich vor. Wenn ich es nicht mehr aushalte, flüchte ich ins Haus, oder dem, was vom ihm noch übrig ist. Der Großteil des Dachs wurde bei einem der Angriffe zerstört, aber wir hatten Glück, im Gegensatz zu unseren Nachbarn. Hier stehen noch ein paar Mauern, die meisten Fenster sind intakt, und das Dach habe ich notdürftig mit Plastikplanen, Brettern und Steinen repariert. Verdorrte Unkräuter und ein paar fingerdicke Bäumchen klammern sich an die verbliebenen Mauerbrocken. Wenn sie bloß schneller wachsen würden, dann böten sie eine bessere Deckung. Ich würde sie ja gießen, aber ich brauche das Wasser für den Weizen. Den Kohl und die Kartoffeln hat das Ungeziefer zunichte gemacht, aber der Weizen trägt wie durch ein Wunder ein paar Ähren. Vorsichtig streife ich die Körner ab, lasse sie durch meine Finger rieseln und dann in meine zu einem Beutel gebundene Schürze. Danke, Gott. Wenn es dich denn gibt. Ich habe immer häufiger Zweifel.
Leo ist nicht getauft. Mara hat sich geweigert. „Auf den Altmännerclub kann ich verzichten“, meinte sie. „Er soll selbst entscheiden, welchem Trugbild er nachlaufen will.“ Nicht, dass es mir viel ausgemacht hätte. Das scheinheilige Getue vieler Geistlicher hat mich immer schon gestört. Taufen lassen hätte ich ihn trotzdem, zur Sicherheit. Was hätten das bisschen Weihwasser und die paar salbungsvollen Worte schon geschadet? Außerdem wäre es schön gewesen, meinen Enkel in den Armen zu halten und einen Teil von dem wieder gut zu machen, was ich an meiner Tochter versäumt hatte.
Schnell jetzt, zurück ins Haus. Je weniger ich hier draußen bin, desto besser. Im Haus sehe ich zuerst nach Leo. Er schläft. Ich streichle ihm über seinen schwarzen, glänzenden Schopf. Ich sollte ihm dringend mal die Haare schneiden, aber ich verschiebe es immer wieder. Die Backenknochen zeichnen sich scharf in seinem Gesicht ab. Er wird mit jedem Tag magerer. Später werde ich ihm Suppe einflößen. Er muss es einfach schaffen. „Er muss, er muss“, summe ich, während ich die Weizenkörner, die nicht kleiner werden wollen, mit dem Mörser bearbeite. Ein Schweißtropfen klatscht auf den staubigen Tisch; ein Rinnsal sucht sich seinen Weg zwischen meine Schulterblätter. Strom haben wir schon lange keinen mehr. Auch die Solarpanele haben nicht lange durchgehalten. Ich mahle verbissen weiter. Mit einiger Mühe mache ich im alten Holzherd ein Feuer. Das wird die noch verbleibende Kühle im Inneren zunichte machen, aber der Zweck ist es wert. Irgendetwas muss ich noch bedenken, aber was? Es will mir nicht einfallen. Dann mache ich eben mit dem Kuchen weiter.
Ein wenig Öl und Erythrit, einen Glücksfund, habe ich in einer Blechdose in der Küche; Marmelade ist im Keller. Ich will für diesen kurzen Weg nicht eigens eine kostbare Kerze anzünden, sondern taste mich im Dunkeln die Treppe hinunter. Klebrige Spinnfäden spannen sich über mein Gesicht. Ich unterdrücke meinen Ekel, wedle sie beiseite und schnappe mir das letzte Marmeladenglas.
Zurück in der Küche, wische ich den Staub weg und betrachte es genauer: Juli 2060, steht auf dem Etikett, und irgendwas mit Beeren. Ich drehe am Deckel, es macht plop und ein entfernt fruchtiger Duft steigt mir in die Nase. Erdbeeren. Oder Himbeeren? Auf jeden Fall ist nur ganz wenig Schimmel an der Oberfläche, den ich sorgfältig wegkratze. „Ein von Schimmelpilzen befallenes Nahrungsmittel gehört zur Gänze weggeworfen“, tadelt eine Stimme in meinem Kopf. Pah. Gilt längst nicht mehr. Ich tauche den Finger in die klebrige Masse und stecke ihn in den Mund. Die geballte Süße ist zu viel für mich, treibt mir die Tränen in die Augen. Ich schüttele sie weg. Reiß dich zusammen. Du kannst es dir nicht leisten, sentimental zu sein.
Die Zutaten sind bereit. Was war da noch gleich? Ein Gedanke leuchtet auf, doch er verglüht, bevor ich ihn zu fassen bekomme. Egal. Wenn er wichtig wäre, würde er mir schon wieder einfallen. Ich vermische Mehl, Erythrit und Öl. Fühlt sich ganz passabel an. Eier brauche ich noch, damit die Masse besser zusammenhält. Sechs davon habe ich aus dem Nest einer Amsel gestohlen, die empört protestierte. Tut mir leid, meine Kleine. Dieses Mal musste es sein. Erwartungsvoll schlage ich das erste Ei auf – und pralle zurück. Ein vollständig entwickelter Vogelfötus mit Schnabel, bläulichen Augenlidern und klebrigem Flaum über altrosa Haut fällt mir entgegen. Augenblicklich breitet sich ein bestialischer Gestank aus. In fieberhafter Hast schlage ich die restlichen Eier auf. Vielleicht sind die anderen noch gut, denn manchmal beginnt das Vogelweibchen gleich nach dem ersten Ei mit dem Brüten. Aber nein, sechs tote Augenpaare starren mich durch die transparenten Lider anklagend an.
Ich könnte schreien, aber atme nur tief durch und werfe die Vogelbabys in weitem Bogen aus dem Fenster. Eines klatscht auf den Küchenboden und hinterlässt eklige Schlieren. Ich kümmere mich nicht darum, ich habe Wichtigeres zu tun. Dann muss ich eben mehr Öl nehmen. Scottish Shortbread wird schließlich auch ohne Eier gebacken. Der Teig klebt an meinen Fingern, aber weigert sich, eine einheitliche Masse zu werden. Ungeduldig pappe ich ihn in die Form. Klatsche die Marmelade darauf. Das Mürbteig-Smiley will und will nicht lachen. Doch ich zwinge es dazu, ziehe seine teigigen Mundwinkel unerbittlich nach oben. Gut so. Ab in den Ofen.
Die Zeit muss ich schätzen, die Temperatur ebenso. Ich sitze vor der Backofentür, lege ein paar Scheite nach, um das Feuer gleichmäßig zu nähren. Bald weht ein nostalgischer Duft nach Kuchen durch die Küche, wie in den Zeiten, als noch alles in Ordnung war. Gar nichts war in Ordnung. Wir wiegten uns in der trügerischen Vorstellung, verschlossen die Augen und Ohren vor dem Offensichtlichen. Ich tröste mich: Bald ist es geschafft.
Da zerreißt Motorengeräusch die Stille. Wie ein Blitz durchzuckt mich der Gedanke: Der Rauch, wie konnte ich nur! Ich muss Leo in Sicherheit bringen! Wo ist der Notfallrucksack? Ich springe auf, will in Leos Zimmer, doch ich rutsche auf dem toten Vogelbaby aus. Ich falle hin, lande auf allen vieren, spüre einen Stich im Rücken. Mir schwinden fast die Sinne, doch ich muss mich aufraffen. Jetzt. Sofort. Mein Enkel braucht mich.
Zu spät. Die Haustür quietscht in den Angeln.
„Ausschwärmen.“ Die Männerstimme klingt routiniert, voller militärischem Zack.
Ich krabble in die halb verfallene Stube – verdammt, warum muss der Holzboden so laut quietschen – und schlüpfe hinter einen Haufen Gerümpel. Meine Gelenke knacken, der Rücken sendet Schmerzwellen durch den ganzen Körper, aber ich kann mich jetzt nicht aufrichten. Schwere Schritte poltern auf den Dielen im Flur.
Mein Herz rast, mein Atem geht flach. Vielleicht entdecken sie Leo ja nicht. Vielleicht suchen sie auch nur etwas zum Essen, nehmen den Kuchen und verschwinden wieder. Bitte, bitte, lass es so sein.
Die Schritte nähren sich unaufhaltsam. Ich mache mich kleiner, ducke mich, will unsichtbar werden. Grobe Hände packen mich, reißen mich hoch. Nur nicht schreien, nur nicht Leo wecken.
„Ich hab was!“, ruft der Kerl. „Eine verwahrloste Alte.“
Seine behandschuhte Hand presst sich auf meinen Mund. Ich zappele verzweifelt, doch ein Schlag in den Nacken lässt alle Kraft aus meinen Gliedern weichen. Das Zimmer vor mir verschwimmt. Lasst meinen Jungen in Ruhe. Macht mit mir, was ihr wollt, aber lasst Leo in Ruhe.
„Hey. Ich hab auch was.“ Die Stimme eines anderen dringt aus unendlicher Entfernung an meine Ohren. „Eine vertrocknete Kinderleiche, wohl vor Monaten an der Ruhr gestorben. Ein Junge, wie es scheint.“