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Der letzte Tag des Fährmanns
"Verdammt kalt ist es geworden. Und richtig hell wird es auch nicht mehr."
Der Mann in dem zu kleinen Anzug rückt etwas weiter in das Führerhäuschen. Er lacht.
"Manchmal fahre ich morgens im Dunkeln zur Arbeit und komme abends im Dunkeln wieder zurück. Na ja, muss ich meine Frau wenigstens nicht bei Tageslicht sehen."
Beiläufig streicht er über seinen Kopf, versucht das Haar zu ordnen, die lichten Stellen zu bedecken.
"In meinem Alter sollte man wohl glücklich sein, überhaupt noch Arbeit zu haben", sagt er, als hätte seine Halbglatze ihn daran erinnert.
Georges der Fährmann nickt.
Die meisten Fahrgäste bleiben in ihren Autos sitzen oder stehen vorne an der Reling. Die Überfahrt dauert nicht lange. Nur der Mann mit den zu kurzen Hosen kommt immer zu Georges ins Führerhäuschen – von Montag bis Freitag jeden Morgen und jeden Abend.
Meist sind es die gleichen Geschichten, doch Georges weiß die Gesellschaft zu schätzen.
"Manchmal kommt der Herbst früher. Da kann man nicht viel machen", sagt er schließlich, obwohl er nicht gerne redet. Dann dröhnt nur noch das Stampfen des Dieselmotors durch die Stahlwände.
Über dem Fluss hängt dichter Nebel, wie jedes Jahr um diese Zeit. Zwanzig Meter vor dem Bug teilen sich die grauen Schwaden, zerreißen wie Watte. Nachdem die Fähre sie passiert hat, verschmelzen sie sofort wieder, als wüssten sie, was Trennung bedeutet. In der Ferne erscheint das Nordufer als dunkler Balken. Schnell gewinnt es an Kontur, an Substanz, einige Sekunden später bricht es durch die Nebelwand.
Georges muss den Kurs korrigieren, um die Felsen zu umfahren, an denen sich das Wasser zu weißer Gischt kräuselt. In der Nacht hat es flussaufwärts geregnet, die Strömung ist stärker als sonst. Als der Metallrumpf gegen die Gummireifen der Kaimauer stößt, gibt es einen kurzen Ruck. Dann steht die Fähre still.
"Ja, da haben Sie wohl Recht."
Die Stimme klingt betreten, fast traurig, doch als Georges sich umdreht, lächelt der Mann in dem grauen Jackett schon wieder.
"Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag", sagt er feierlich und geht zu seinem Opel.
Die Rückfahrt dauert länger, wie immer, der Nebel scheint nicht enden zu wollen. Allein deshalb mag Georges den Mann in dem schlecht sitzenden Jackett.
Er summt eine Melodie, ein Lied aus Kindertagen. Irgendwann kommt Land in Sicht. Am Südufer steht eine silberne Limousine – ein Mercedes, glaubt Georges, aber er ist sich nicht sicher und eigentlich interessiert es ihn auch nicht.
Die Fähre hat nur Platz für ein Auto, deshalb musste der junge Architekt zehn Minuten warten. Vielleicht auch etwas länger wegen der Strömung.
"Guten Morgen, Georges", grüßt der Architekt und die silberne Limousine rollt auf die Fähre.
Georges nickt nur. Es ist noch zu früh für viele Worte.
Unbemerkt schleicht die Sonne hinter der Nebelwand ihre Bahn hinauf. Nach und nach werden die Strahlen stärker, die Wasseroberfläche wärmer, die Sicht klarer.
Die Brücke steht im Osten. Wie schwarze Obelisken entwachsen die zwei Pfeiler dem Fluss und bohren sich gut fünfzig Meter in den Himmel. Darunter, an einem Fächer aus mannsdicken Kabeln, hängt die Fahrbahn. Die Oberfläche der Konstruktion wirkt eben, glatt, als wäre sie aus einem Guss. Fast scheint es so, als absorbiere der Stahl das Sonnenlicht.
Georges wendet den Blick ab. Er hat ihre Anwesenheit gespürt. Wie jeden Tag, seit Wochen schon, Monaten. Dunkel und kalt thront die Brücke über allem.
"Ist ein ganz schöner Koloss geworden", sagt der dicke Mann mit dem Rucksack. "Von hier unten sieht sie noch viel imposanter aus." Er zückt eine Kamera und fotografiert. "Soll fast zwanzig Millionen gekostet haben."
Georges starrt angestrengt auf den Fluss, obwohl der Nebel sich längst aufgelöst hat.
"Ist einiges schief gelaufen beim Bau", fährt der Rucksackmann fort. "Hat sich alles um Wochen verzögert, weil die Statik nicht richtig berechnet war." Klick, noch ein Foto. Klick. Dann nach einer Pause: "Was machen Sie jetzt eigentlich?"
Georges dreht sich um.
"Ich meine, jetzt wo die Brücke fertig ist ... Fährt die Fähre trotzdem noch ...?"
Die Frau des Rucksackmanns kommt hinzu.
"Jörg, kommst du mal bitte. Lena Marie hat Hunger."
Dann sind die beiden auch schon verschwunden. Und Georges steht allein in dem kleinen Führerhäuschen, allein mit der Frage und starrt angestrengt auf den Fluss.
Um die Mittagszeit wird es ruhiger, die meisten Fahrgäste kommen erst gegen Abend zurück.
Die Fähre ankert am Nordufer, träge schwankt sie in der Strömung auf und ab.
Georges tritt hinaus an die Reling, geht ein paar Schritte. Um nach dem Rechten zu sehen, sagt er sich, obwohl er es besser weiß. Oben bei den Stromschellen funkelt das Wasser in der Mittagssonne. Wie ein Fluss aus Spiegeln.
Er schaut zum Südufer hinüber - der Kai ist leer. Es ist noch viel zu früh.
Für einen kurzen Augenblick schämt er sich für seine Ungeduld. Kopfschüttelnd geht er wieder hinein und schaltet das Radio an. Es dauert etwas, bis er einen Sender gefunden hat, der klassische Musik spielt. Das Radio ist alt, der Klang blechern, und die Stahlwände tun ihr Übriges. Trotzdem bleibt Georges sitzen, lauscht der Musik. Wartet.
Nach den Ein-Uhr-Nachrichten wird die Unruhe stärker. Georges steht auf, macht einen zweiten Rundgang. Immer wieder wandert sein Blick zum anderen Ufer. Der Kai bleibt leer.
Schließlich setzt er sich auf die Holzbank bei der Reling. Sein Mittagessen legt er neben sich: Käsebrote und Tomatensalat. Eigentlich hat er keinen Hunger, doch der Wind ist frisch und die Sonne verstrahlt ihre letzte Wärme in diesem Jahr, und so beginnt Georges die kleinen Cherrytomaten aus dem Salat zu picken. Langsam kehrt der Appetit zurück. Als Georges das erste Brot auswickelt, sieht er die Reflektion drüben am Südufer.
Das Fahrrad ist silbern - ein altes Herrenrad -, der Dynamo mit schwarzem Klebeband befestigt. Der Sattel ist aus abgewetztem Leder und die Vorderbremse schleift manchmal am Reifen, obwohl sie schon etliche Male gerichtet wurde.
Das alles weiß Georges - sehen kann er nur das Blitzen in der Mittagssonne. Er braucht vier Anläufe, um eine weitere Cherrytomate aus der Plastikschale zu picken, während er der Versuchung widersteht, sofort aufzuspringen.
"Mach dich nicht lächerlich, alter Junge", murmelt er.
Die Frau, die neben dem Fahrrad auf der Kaimauer sitzt, ist kaum zu erkennen. Trotzdem meint Georges, das braune Haar zu sehen, wie der Wind es zerzaust und wie die Frau es sich von Zeit zu Zeit aus dem Gesicht streicht.
Die Frau steht auf und winkt. Georges winkt zurück und stellt sich ein Lächeln in dem sommersprossigen Gesicht vor. Für ein paar Sekunden steht er da, die Plastikschale mit dem Tomatensalat im Arm und lächelt, doch schon bald schämt er sich für seine kindischen Phantasien. Mit schnellen Schritten auf tauben Beinen marschiert er zum Führerhäuschen.
Er fährt nur mit halber Kraft, wie immer, gerade so schnell, dass es nicht auffällt. Hin und wieder schaut er zum Ufer hinüber. Verstohlen, als könnte die Frau ihn dabei erwischen.
Sie arbeitet in einem Institut in der Stadt. Das ist beinahe alles, was Georges über sie weiß. Die Frau aus dem Institut. Sie kommt nie vor Mittag und immer mit dem Fahrrad, seit über einem Jahr schon.
Langsam wird die Gestalt auf der Kaimauer größer. Und jetzt sieht Georges tatsächlich, wie das braune Haar im Wind weht und wie die Frau aus dem Institut nicht müde wird, es aus ihrem Gesicht zu streichen. Wie sie ihre blauen Augen zusammenkneift, weil sie ihre Brille viel zu selten aufsetzt. Sie trägt eine braune Cordjacke mit Kapuze, genauso wie in den letzten Tagen, seitdem es kälter geworden ist. Georges macht sich nicht viel aus Mode, aber die Jacke gefällt ihm.
Im Radio kommen erneut Nachrichten. Georges dreht am Sendersuchlauf, stoppt bei etwas, dass sich wie Popmusik anhört, dreht weiter und schaltet das Radio schließlich aus.
Kurz vor der Kaimauer starrt er nur noch auf die Anzeigen, klopft auf die Glasscheibe des Drehzahlmessers, als müsse er etwas kontrollieren. Noch einmal schielt er kurz zu der Kaimauer hinüber. Die Frau aus dem Institut schaut in Richtung der schwarzen Brücke und Georges glaubt, zwei kleine Falten zwischen ihren Augenbrauen zu entdecken.
Knapp erwidert er ihren Gruß, fast abweisend. Er kann nicht anders.
Sie setzt sich auf die Holzbank bei der Reling. An manchen Tagen holt sie große Aktenordner aus ihrem Rucksack, liest darin, ordnet die Seiten neu, heftet ab, manchmal scheint sie auch nur zu blättern.
Heute sitzt sie einfach da im Schneidersitz, die Arme vor ihrem Bauch verschränkt, die Augen geschlossenen, und die Sonne strahlt und der Wind weht.
Wäre Georges Maler, er würde nur dieses eine Bild malen. Jede Einzelheit, jedes Detail versucht er sich einzuprägen, jedes Haar, jede Wimper, jede Sommersprosse, jede kleinste Bewegung.
An mehr kann er sich später nicht mehr erinnern. Seine Gedanken sind überall, zugleich nirgends. Alles verschwimmt, verschwindet. Einen Atemzug später ist die Überfahrt zu Ende.
Die Frau aus dem Institut kommt zum Führerhäuschen. Etwas unschlüssig bleibt sie in der Tür stehen und Georges glaubt, sterben zu müssen, wenn nicht sofort etwas passiert.
"Ich wollte mich nur verabschieden", sagt sie.
Georges nickt.
"Ich bleibe übers Wochenende bei Freunden in der Stadt. Und Montag", sie lacht kurz und zeigt über ihre Schulter, "werde ich wohl über dieses Monstrum fahren."
George nickt wieder.
"Also, dann machen Sie es gut", sagt sie nach einer Pause und streckt ihm die Hand entgegen.
Georges berührt sie nur kurz. Zu groß ist die Gefahr, sie nicht wieder loslassen zu können.
Als die Frau aus dem Institut hinter dem Deich verschwunden ist, steht er noch immer im Führerhäuschen. Ein Hauch von Vanille liegt in der Luft.
Die anderen Fahrgäste sind schweigsam – es ist Freitag, wahrscheinlich hatten sie eine lange Woche – und Georges ist dankbar dafür. Ihm ist nicht nach reden, er fühlt sich benommen. Weit weg von allem, wie in einem Kokon.
Auch der Architekt nickt nur kurz und bleibt in seinem Wagen sitzen. Er sieht müde aus, findet Georges. Müde und irgendwie erschlafft, als wäre das gesamte Leben in nur einem Tag aus ihm entwichen. Für einen Augenblick fragt Georges sich, ob er genauso aussieht, dann zieht sich sein Bewusstsein wieder in den schützenden Kokon zurück.
Die Sonne geht früh unter. Und während im Westen die ersten Strahlen hinter dem Horizont verschwinden, kriechen im Osten die Schatten hervor aus ihren Verstecken hinter den Brückenpfeilern, aus ihren Brutstätten unterhalb der Fahrbahn, jenseits der Stahlträger. Bald kehrt die Kälte zurück, bald der Nebel.
Kurz vor zehn schiebt sich ein Paar Autoscheinwerfer über den Deich und aller Rationalität zum Trotz setzt Georges' Herz einige Schläge aus, bis seine Augen den Opel erkennen.
"Georges, Gott sei Dank, Sie sind noch da", ruft der Mann in dem grauen Anzug. "Mann, Mann, was hätte ich für Ärger bekommen. Das kann ich Ihnen sagen."
Seine Stimme ist laut und schrill. Als er näher kommt, riecht Georges den Schnaps.
"Und, Georges, wie war Ihr Tag?"
Georges zuckt mit den Schultern und wünscht sich, sein Kokon wäre dicker.
"Meiner war beschissen. Entschuldigen Sie bitte die Ausdrucksweise, aber er war wirklich beschissen. Beschissen beschissen, wenn man's genau nimmt."
Der Mann lacht kalt.
"Georges, ich will Ihnen etwas sagen. Ein Geheimnis, wenn Sie's so wollen. Irgendwann einmal, wenn ich genug gesoffen habe, wenn ich mir verdammt noch mal genug Mut angesoffen habe dann ...", er macht eine kurze Pause und plötzlich ist seine Stimme so klar, so nüchtern, dass Georges sich unvermittelt umdreht, "... dann fahre ich auf die Brücke und mache dem Ganzen ein Ende. Ich klettere einfach über das Geländer und lass mich fallen."
Leise fügt er hinzu: "Die wissen schon, warum die so eine gottverdammt hohe Brücke gebaut haben."
Der glasige, unstetige Blick streift Georges, dann senkt er sich gen Boden.
"Entschuldigen Sie, ich habe wohl etwas viel getrunken. Müssen Sie nicht alles so ernst nehmen."
Später steht Georges allein in der dunklen Stille. Der Vanilleduft ist verschwunden, eine Mischung aus Schweiß, Schnaps und Diesel ist an seine Stelle getreten.
Georges flüchtet an die frische Luft. Am Bug vertäut er die Fähre, wie jeden Abend seit Jahrzehnten. Dabei kämpft er den Gedanken nieder, dass es heute zum letzten Mal ist.
Hinter ihm fließt der Fluss bleich im Mondschein, darüber thront der schwarze Schatten der Brücke.
Der Zaun ist längst verschwunden. Nur ein Schaufelbagger und zwei Wohncontainer erinnern noch an die Baustelle. Ein rotes Absperrband flackert aufgeregt im Wind. Georges Knie knacken morsch, als er darunter hindurchtaucht.
Zwei Fahrspuren in jede Richtung, flankiert von breiten Fußgängerwegen. Auf der Höhe des Brückenpfeilers rücken die Stahlseile immer näher zusammen, bis sie in schwindelerregender Höhe schließlich ineinander verschmelzen und ein Stück schwarzen Himmel formen.
Georges geht ein paar Schritte.
Um sich das Ganze mal aus der Nähe anzusehen, wiederholt er wie ein Mantra, obwohl er es so viel besser weiß.
Ungefähr in der Mitte der Brücke klettert er über das Geländer.
Eine Weile steht er unschlüssig auf dem schmalen Rand. Der Wind frischt auf und Georges setzt sich vorsichtig hin.
Unter ihm, jenseits des Nebels, liegt der Fluss. Bleich und starr. Wie Trockeneis, denkt Georges.
Direkt darauf folgt die Gewissheit, dass er hier seine letzte Ruhe finden möchte. Hier in diesem Fluss, der ihn schon sein ganzes Leben lang begleitet.
Dann denkt Georges an die Frau aus dem Institut und an viele andere, die irgendwann einmal etwas bedeutet haben, selbst an den Mann mit dem schlecht sitzenden Anzug und der Vorliebe für Schnaps.
Lange sitzt er noch da und streicht mit den Fingerspitzen über die Brücke. Der Beton ist kalt und an vielen Stellen uneben.
Nur eine Brücke, denkt Georges. Nur eine Brücke, nur ein Neuanfang.
Als der Horizont von grau zu hellblau wechselt, steht er auf und klettert zurück über das Geländer.
Hamburg und Bremen, 12.10. – 21.10.06 / 29.10.06 / 12.12.06 / 26.12.06